Die russische Komponente
Moskaus Iran-Politik am Scheideweg
Von Peter Linke *
Die jüngsten Ereignisse im Kaukasus haben zweierlei deutlich gemacht. Erstens gibt es keinen Westen mehr. Was es gibt, sind die USA, deren wahnwitzige Idee eines »Greater Middle East« zunehmend ins Schwanken gerät. Und ein Europa, das sich vorsichtig aber bestimmt gegen die regionale Kriegspolitik Washingtons zu stemmen beginnt und mehr oder weniger konsequent nach sicherheitspolitischen Alternativen auch und vor allem im ehemaligen sowjetischen Süden fahndet. Zweitens: Das System von Jalta ist endgültig tot. Mit der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens verabschiedet sich Russland als viertes ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates aus der nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbarten internationalen Ordnung. Oder wie es der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Konstantin Kossatschow, formulierte: Als letzter Mohikaner verlässt nun auch Russland das sinkende Schiff des geltenden Völkerrechts ...
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Die Situation ist unübersichtlich, ja gefährlich und bietet dennoch eine Reihe von Chancen sowohl für Russland als auch für EU-Europa. Mit seinem Vorgehen gegen die US-Marionette Michail Saakaschwili hat Moskau seinen jahrelang sorgfältig gehüteten Traum einer Juniorpartnerschaft mit der »übrig gebliebenen Weltmacht« auf unbestimmte Zeit ad acta gelegt. Will es fortan in West und Ost ernst genommen werden, muss Moskau schnell und deutlich innovative sicherheitspolitische Akzente setzen, etwa bei den Ende des Jahres anstehenden Verhandlungen über die Zukunft der amerikanisch-russischen Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsverträge.
Nicht anders verhält es sich mit der überfälligen Weiterentwicklung des internationalen See- und Weltraumrechts.
Russlands Beitrag zu einem kontrollierten Umbau der internationalen Beziehungen könnte erheblich sein, wenn das Land nur endlich damit beginnen würde, sein außenpolitisches Potenzial voll zu nutzen. Ergebnis einer solchen Anstrengung sollte ein eurasischer Multilateralismus sein, der den Menschen und Völkern zwischen Dublin und Wladiwostok ein qualitativ neues Miteinander ermöglicht.
Nicht dass Dmitri Medwedjew derartige Überlegungen fremd wären. Allerdings tut sich Russlands Präsident (noch) schwer mit der Erkenntnis, dass effektiver eurasischer Multilateralismus vor allem eines erfordert: dramatisch verbesserte Beziehungen zwischen Moskau und Teheran.
Dialog hinter verschlossenen Türen
Hier punkten wird nur, wer sich zunächst frei macht von der Mär, die Islamische Republik Iran sei international isoliert. Ähnlich wie im Nahen Osten und in der Golfregion läuft auch im Südkaukasus und in Zentralasien immer weniger ohne Teherans ordnende Hand. So investiert der Gottesstaat seit Jahren in Armeniens Volkswirtschaft. Doch auch politisch wird zunehmend der Schulterschluss geprobt. Erst neulich verständigten sich beide Länder auf eine engere Zusammenarbeit ihrer nationalen Sicherheitsdienste. Zentralasien wiederum ist für die Islamische Republik in erster Linie als Raum ambitionierter Transportinfrastrukturprojekte interessant, deren Realisierung im Rahmen der von Teheran dominierten Organisation für ökonomische Zusammenarbeit (ECO) zielstrebig vorangetrieben wird. Angesichts derart intensiver iranischer Regionalpräsenz wäre Russland (ebenso wie EU-Europa) gut beraten, sein Verhältnis zu Iran schleunigst in Ordnung zu bringen.
Noch dazu, wo sich Teheran und Washington seit geraumer Zeit hinter fest verschlossenen (türkischen) Türen jenseits allen nuklearen Verbalterrors um eine Normalisierung ihres bilateralen Verhältnisses bemühen. Mit Erfolg: Die Eröffnung einer USA-Mission in Iran dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein.
Und dann werden die Karten in der Region neu gemischt. Die so genannte Atomkrise wird schlagartig an Brisanz verlieren. Und Moskau (ebenso wie Peking, London, Paris und Berlin) wie ein begossener Pudel dastehen - ganz nach dem Motto: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben ...
Iranische Integrationsvisionen
Einige Signale stehen bereits auf Grün. So scheint Moskau inzwischen bereit zu sein, dem jahrelangen Drängen Teherans nach Gründung einer so genannten Gas-OPEC nachzugeben. Auch prüft Moskau dem Vernehmen nach die Möglichkeit eines sehr weitgehenden militärpolitischen Geschäfts mit Teheran: hochmoderne Raketenkomplexe vom Typ S-300 für die Erlaubnis von Militärstützpunkten. Auch wenn daraus letztlich nichts werden sollte - ein engeres sicherheitspolitisches Miteinander liegt durchaus im Interesse beider Länder.
Eine grundlegende Verbesserung der russisch-iranischen Beziehungen scheint freilich nur durch aktive Einbeziehung der Islamischen Republik in existierende regionale Integrationsmechanismen möglich zu sein. Etwa in die 2001 von China, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadshikistan und Usbekistan gegründete Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Als Beobachter (neben Indien, der Mongolei und Pakistan) nutzt Iran seit Jahren diese Plattform, um den regionalen Integrationsdiskurs mit radikalen Vorschlägen zu beleben. So auch während des jüngsten SCO-Gipfeltreffens Ende August in der tadshikischen Hauptstadt Duschanbe: Die Schanghaier Organisation, so Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad, spiele eine wichtige Rolle bei der Lösung internationaler Konflikte. Konkrete Vorschläge des iranischen Präsidenten umfassten z. B. die Einführung einer einheitlichen SCO-Währung und die Schaffung einer SCO-Bank.
Noch stehen viele SCO-Mitglieder den iranischen Integrationsvisionen skeptisch gegenüber, ja sperren sich gar gegen eine Vollmitgliedschaft Teherans in der Organisation. Künftig jedoch wird man sich derartigen Luxus kaum mehr leisten können. Auf der Tagesordnung steht nicht nur die Verzahnung von ECO und SCO zwecks Schaffung strategischer Transportkorridore im südeurasischen Raum, sondern auch die gemeinsame Formulierung transregionaler sicherheitspolitischer Initiativen.
Dazu zählt die Gewährleistung multilateraler Sicherheitsgarantien im Rahmen des 2006 - gegen den Widerstand der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs - zwischen Kasachstan, Kirgistan Tadshikistan, Turkmenistan und Usbekistan abgeschlossenen Vertrages über die Schaffung einer nuklearwaffenfreien Zone in Zentralasien mit dem Ziel, einen eigenständigen Beitrag zum Abbau militärpolitischer Spannungen im Nahen und Mittleren Osten zu leisten.
Zu solchen Initiativen wird sich freilich nur aufraffen, wer in der SCO mehr sieht als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft, nämlich den Kern eines zivilisatorischen Projektes, die Wiege einer neuen transeurasischen Zivilisation. Tatsächlich wird die SCO langfristig nur als ein Instrument zur radikalen gesellschaftspolitischen Neustrukturierung des eurasischen Kontinents, zur Schaffung einer neuen eurasischen Räumlichkeit als zentrale Antwort auf Washingtons nationales Machtprojekt eines »Greater Middle East« eine Überlebenschance haben.
War Putins Islam-Sicht ernstgemeint?
Teheran scheint mit einer derart dimensionierten SCO durchaus etwas anfangen zu können. Und Moskau? Begreift es eigentlich das wahre Potenzial der SCO? Deren zentrale Bedeutung für die Entwicklung qualitativ neuer Beziehungen zwischen Russland und der Islamischen Republik Iran? Wohl kaum, solange Russland sich selbst und Europa als ursächlich christliche Angelegenheit begreift, solange in diversen Debatten über russische Identität (die so genannte Russki Mir - russische Welt) Russlands 20 Millionen Muslime und deren spezifische Kultur so gut wie nicht vorkommen.
Gerade Russland könnte der Welt praktisch-konkret demonstrieren, dass europäisch auch islamisch heißt und damit eine gewaltige Bresche in die weltweite Phalanx US-amerikanisch alimentierter Kulturkrieger schlagen. Russland, so Wladimir Putin 2003 in Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur, sei auch ein muslimisches Land. Dass dieser wegweisenden Aussage des damaligen russischen Präsidenten bis heute keinerlei ernsthafte politische Initiativen gefolgt sind, ist ein Manko, das auch und vor allem die Beziehungen Russlands zu Iran nach wie vor weit hinter ihren potentiellen Möglichkeiten zurückbleiben lässt.
* Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2008
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