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"Wir haben vor nichts und niemandem demonstriert"

Kritik aus der Friedensbewegung am Ramstein-Konzept - Noch eine Nachlese zum 20. März

Am 20. März 2004, dem ersten Jahrestag des Beginns des Irakkriegs, fanden in Deutschland rund 100 Protestveranstaltungen statt (siehe dazu unsere Übersicht: "Die Friedensbewegung versteckt sich nicht"). Eine davon, eine Demonstration zum Atomwaffenstützpunkt Ramstein, wurde von einer Reihe bundesweiter Organisationen (z.B. IPPNW, Netzwerk Friedenskooperative, Pax Christi, DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung) als Großdemonstration mit überregionaler Ausstrahlung geplant. Das Mobilisierungsergebnis (rund 1.500 Teilnehmer/innen) stand in keinem Verhältnis zum erklärten Anspruch der Organisatoren, ein massenhaftes Zeichen gegen den atomaren Wahnsinn zu setzen.

Insgesamt konnte von der Friedensbewegung eine positive Bilanz der Aktionen zum Jahrestag gezogen werden. Die Friedensbewegung habe ihre Vitalität und Organisationsfähigkeit unter Beweis gestellt, auch wenn die Teilnehmerzahlen nicht im entferntesten an die Massenproteste des vergangenen Jahres anknüpfen konnten, betonte der Bundesausschuss Friedensratschlag in einer Presseerklärung. In einer kritischen und, wie er selbst sagte, "durchaus polemischen" Nachbetrachtung zum Aktionstag benannte Wolfgang Kuhlmann vom Düsseldorfer Friedensforum "Sieben Vergehen gegen die Friedensbewegung", darunter das Vergehen der "Fremdbestimmung durch Zentralisierung". Kuhlmann meinte, es sei im Vorfeld des 20.03. zuweilen der Eindruck vermittelt worden, "es seien zentrale (Demonstrationen), bei denen sich der gesamte friedliebende Teil der Republik ein Stelldichein gibt (beim ZwanzigstenDritten entstand dieser Eindruck - zu Recht oder zu Unrecht - bezüglich der Kundgebungen in Berlin und Landstuhl/Ramstein). Dazu wird dann noch die politische und kulturelle Prominenz präsentiert, die die letzten Zweifler von der Wichtigkeit gerade dieses Großereignisses überzeugen soll."

Nun, einen Monat später, gibt es eine weitere "Nachlese", deren Stoßrichtung sich vorwiegend "nach Innen" richtet und Konzept und Durchführung der Demonstration in Ramstein kritisiert. Es sind Vertreterinnen und Vertreter von Basisinitiativen der Friedensbewegung aus der näheren Umgebung von Ramstein, die in die Vorbereitung zu Ramstein einbezogen waren, sich aber nicht wirklich beteiligt fühlten. Diese Friedensinitiativen haben ein Papier formuliert, das sie verschiedenen Friedenszeitungen zur Veröffentlichung angeboten haben. Wir kommen dieser Bitte nach, zumal wir zum selben Zeitpunkt ein Manuskript zugesandt bekamen, das sich - vor einem ganz anderen politischen Hintergrund - ebenfalls mit dem Problem basisdemokratischer Partizipation befasst. Es handelt sich um einen Artikel von Elisabeth Wöckel mit dem vielsagenden Titel: "Lernen von Paulo Freire, Martin Luther King und Dom Helder Camara - Zur Ideologie und Methode basisdemokratischer Gruppen in Brasilien". In beiden Papieren, so scheint uns, sind zentrale Probleme der Authentizität und der politischen Wirksamkeit von Friedensgruppen angesprochen. In Dresden fand vor wenigen Tagen hierzu eine sehr interessante Podiumsdiskussion statt, aus der wir an anderer Stelle den Beitrag eines Vertreters des Friedensratschlags dokumentieren. Thema: "Realpolitische Rückschläge - nachhaltige Wirkung: Zu den Erfolgsbedingungen der Friedensbewegung".

Nun also die Stellungnahme der Friedensinitiativen zu Ramstein.



Trier, den 30.3.2004

Offener Brief

an die Trägerorganisationen und den Initiativkreis des Protestmarsches nach Ramstein am 20.3.2004

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

Vorbemerkung: Das Trierer Bündnis gegen Krieg, welches zum Protestmarsch mobilisiert hat und mit einem Bus nach Ramstein gefahren ist, hat sich am 29.3.04 zu einer Nachbesprechung getroffen und dabei beschlossen, einen offenen Brief mit unserer Kritik zum Protestmarsch und unseren Anregungen für die Zukunft zu schreiben. Das Trierer Bündnis hat nach einer Anfrage durch die Friedenskooperative Ende 2003 auf eine eigene Demonstration zum 20.3.04 im 30 km entfernten Spangdahlem verzichtet und sich statt dessen für Ramstein engagiert, um dort ein stärkeres und gemeinsames Zeichen gegen Krieg zu setzen. Grundsätzlich schätzen wir das Engagement des Initiativkreises und der Trägerorganisationen um IPPNW und Friedenskooperative für eine größere Demonstration am 20.3.04 in Ramstein.

Am Jahrestag des Irakkrieges eine Demonstration mit dem Schwerpunkt Atomwaffen zu veranstalten, ohne zumindest einen Gesamtkontext mit den aktuellen Themen herzustellen, hielten und halten wir allerdings für falsch.

Wir kritisieren, dass der Initiativkreis nicht bereit war, die von Regionalgruppen geforderten Themen:
  1. Funktion und Auswirkungen des Airbase-Ausbaus,
  2. Kritik an den verteidigungspolitischen Richtlinien und der EU-Militarisierung sowie
  3. Kritik an der Irakbesatzung in den Aufruftext zu integrieren.
Ein dünn gedruckter Satz: "Kein Ausbau des Kriegsflughafens Ramstein" war das einzige Zugeständnis, wohl wissend, dass Gruppen um die (Partner-)Airbase Spangdahlem, die ebenso ausgebaut wird, sich dadurch ignoriert und nicht angesprochen fühlten. Um vor Ort mobilisieren zu können, wurde daher ein eigener Regionalaufruf notwendig, der von 34 Regionalgruppen unterzeichnet wurde.

Auftakt und Abschlusskundgebung erschienen Vielen wie zwei getrennte Veranstaltungen. Nur bei der Auftaktkundgebung in Landstuhl kamen RegionalvertreterInnen mit den uns wichtigen Themen zu Wort.

Wir kritisieren, dass nicht alle RednerInnen in einem transparenten Verfahren ausgewählt wurden. Es ist unfair, Leute kurzfristig auf die Rednerliste zu setzen, die in Teilen der Friedensbewegung derart umstritten sind, wie Franz Alt und Oskar Lafontaine. Es gab keine Möglichkeit mitzubestimmen oder ein Veto einzubringen.

Wir kritisieren, dass Franz Alt reden durfte. Viele, die zu der Veranstaltung mobilisiert hatten, kamen dadurch in die Bredouille. Denn Franz Alt hat bekanntlich der "Jungen Freiheit" (mehrfach) und der "Nationalzeitung" (mindestens einmal) Interviews gegeben, außerdem in der "Jungen Freiheit" mindestens einen namentlich gekennzeichneten Artikel veröffentlicht. Es darf nicht sein, dass bei einer Friedenskundgebung jemand spricht, der in solchen Zeitungen publiziert! Für viele aus der Friedensbewegung ist er als Redner deshalb untragbar. Wir kritisieren, daß bei der RednerInnenliste scheinbar vor allem die IPPNW entschieden hat - es hätte genug Alternativen gegeben, so waren beispielsweise ein Bundessprecher der DFG/VK und Horst Schmitthenner, IG Metall anwesend.

Wir kritisieren, dass Oscar Lafontaine reden durfte. Wie aufgrund früherer Reden zu erwarten war, argumentierte er einseitig gegen die US-Regierung und bediente damit anti-amerikanische Tendenzen. Zudem lobte er die Politik der Bundesregierung, anstatt faktische Unterstützung des Irakkriegs (zum Beispiel durch Überflugrechte) und ihren Militarisierungskurs zu kritisieren. Weiterhin wurde kritisiert, daß ein Parteivertreter, der im Wahlkampf für die Saar-SPD steht, bei einer Friedenskundgebung als Redner geladen wurde.

Bei der Abschlusskundgebung, kamen wir uns wie "Statisten für die IPPNW-Show" vor. Eine halbe Stunde für die Live- Übertragung zu warten empfanden viele angesichts der "Großen Herren" und deren Redebeiträge die dann übertragen wurden als ärgerlich, während die erste, aus unserer Sicht inhaltlich bessere Hälfte der Veranstaltung den Medien nicht ebenso präsentiert wurde - Beispielsweise gab es keinen extra Aussichtswagen für Fernsehen und Fotografen - und die Veranstalter hätten sich denken können für wen sich die Medien interessieren und welche Inhalte diese Prominenten bringen und nicht bringen (z.B. Kritik an Rot-Grün) - das erschien uns gewollt und wird von uns kritisiert.

Das Ziel durch prominente Redner mehr Leute zu gewinnen ist nicht erreicht worden. Uns sind sogar Personen und Gruppen bekannt, die aufgrund inhaltlicher Kritik und wegen Alt und Lafontaine nicht gekommen sind. Die prominenten Redner haben thematisch Entscheidendes ausgelassen und unsere Anti-Kriegs- und Anti-Militarisierungs-Positionen unzulässig auf Anti-Atomwaffen-Position eingeengt. Auf der Abschlusskundgebung fehlten daher wichtige Themen wie atomare Teilhabe Deutschlands, Irakbesatzung, Kritik an der rot-grünen Bundesregierung, an der Funktion des Kriegsflughafens und seinem aktuellen von Deutschland unterstützen Ausbau sowie der Militarisierung der EU. Nur Pröbstin Helga Trösken weitete die Thematik und kritisierte den EU-Verfassungsentwurf, allerdings war sie die letzte Rednerin der Abschlusskundgebung, als viele schon gegangen waren.

Die Musik hat aus unserer Sicht Jugendliche nicht angesprochen - es wurde also nichts für den "Nachwuchs" geboten, dieser wurde eher frustriert.

Der Protestmarsch erschien uns als langweilig gestalteter und trauriger Schweigemarsch. Die OrganisatorInnen hatten weder Musik noch Parolen vorbereitet oder mitgeteilt, dass andere dies tun sollten.

Es fehlten eigene Aktionsmöglichkeiten. Besonders im Hinblick auf die eigentliche Nähe zum Kriegsflughafen war der Ort der Abschlusskundgebung schlecht gewählt - "Wir haben vor nichts und niemandem demonstriert". Ohne Konfrontation mit dem Kriegsflughafen und ohne etwas zu sehen standen wir abseits der Öffentlichkeit und des konkreten Anliegens. Wenn die Polizei und Ordnungsbehörden keinen anderen Ort zuließen, gilt es dies öffentlich zu machen und zu kritisieren!

Inhaltlich halten wir es für falsch, abstrakt auf das Thema Atomwaffen abzuheben, ohne die Airbases Ramstein mit Spangdahlem sowie die Atomwaffenlager bei Ramstein und in Büchel im gesamten politischen Kontext darzustellen und zu kritisieren. Die "eigene Seite", also Bundes- und Landesregierung, sowie die Europäische Union bei der Kritik auszusparen ist ein politischer Fehler! Bei der Kritik an Atomwaffen die mitverantwortliche Bundesregierung auszulassen macht diese Kritik zudem unglaubwürdig! Es muss gesagt werden: In Büchel übt die Bundeswehr OHNE die US-Army den Einsatz der US-Atombomben! Bundeswehr und EU eifern den USA in ihrer Präventivkriegsstrategie nach! Ebenso fehlten uns das Aufzeigen politischer Alternativen wie zivile Konfliktbearbeitung und Rüstungskonversion und der aktuelle Kontext des Sozialabbaus angesichts von Aufrüstung und Sicherheitswahn. Wir fragen uns: Wohin geht diese "Bewegung gegen Atomwaffen" - wird sie die Kritik an der Bundesregierung weiterhin ausklammern? Wir hoffen, dieser Kardinalfehler wiederholt sich nicht!

Positiv anmerken wollen wir, dass das anlässlich des 20.3.04 gemachten SWR-Portraits von Wolfgang Sternstein mit seinem Engagement gegen Atomwaffen und deutsche Teilhabe, z.B. durch zivile Inspektionen, wahrscheinlich durch die Initiative für den Protestmarsch mitgefördert wurde. Außerdem erhielten die polnischen FriedensaktivistInnen, die zu Besuch waren und auf der Auftaktkundgebung vorgestellt wurden viel Unterstützung für ihren Kampf gegen neue US-Kriegsflughäfen in Polen. Dank auch an alle HelferInnen für die praktische Arbeit vor Ort mit Ausschilderung, Bühnenauf- und -abbau etc.!

Trotz unserer Kritik sehen wir es als richtig an, nach Ramstein gegangen zu sein, um den Personen und Gruppen, die vor allem die USA und deren Atomwaffen anprangern, nicht das Feld zu überlassen, sondern unsere Inhalte und unsere Kritik publik zu machen, Diskussionen anzuregen und um Bündnisse und Widerstand vor Ort zu stärken.

Insgesamt kritisieren wir Entscheidungsablauf, RednerInnenauswahl und Ablauf der Demonstration und fordern für die Zukunft in der Friedensbewegung Partizipation und Transparenz bei Entscheidungen und Inhalten - in sozialen Bewegungen eigentlich selbstverständlich. Das heißt zum Beispiel, dass regionale Gruppen um den Protestort gleich zu Beginn mit einbezogen werden. Wir bemängeln ein Demokratie- und Kommunikationsdefizit zwischen Initiativkreis aus größeren Organisationen und den kleinen Regionalgruppen vor Ort.

Damit die Friedensbewegung eine Alternative zur herrschenden Politik darstellt, ist in Zukunft ein anderer Umgang nach innen notwendig. Analyse und Kritik müssen bei uns hier anfangen, d.h. aktuell: Wir brauchen dringend Gegenentwürfe zur rot-grünen Kriegspolitik mit EU- Militarisierung im politischen Kontext der neoliberalen Globalisierung.

Für das Trierer Bündnis gegen Krieg:

Maria Kronenberg, Markus Pflüger (AG Frieden Trier);
Eduard und Maria Bredin (DKP Trier);
Jörg (Infoladen Trier);
Michell Sontowski - Initiatorin der Nachbesprechung - am 30.3.04 tödlich verunglückt - (Initiative für Atomausstieg Trier);
Michael Koob, Thorsten Klein (Katholische Studierende Jugend Trier);
Werner Schwarz (Pax Christi Trier).



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