Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Realpolitische Rückschläge - nachhaltige Wirkung

Zu den Erfolgsbedingungen der Friedensbewegung

Von Peter Strutynski*

Mag der "Friedensratschlag" vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Veranstaltung bereits bekannt sein - weniger bekannt ist vermutlich, seit wann es diesen "Ratschlag" gibt und wie er zustande gekommen ist. Hierzu also zunächst ein paar Anmerkungen.

Die Idee zu einem "Friedenspolitischen Ratschlag" tauchte erstmals im Frühjahr 1994 auf, als sich ca. zwei Dutzend Friedensaktivistinnen und aktivisten, die sich zum Teil noch aus der Initiative "Krefelder Appell", aus der DFU (Deutsche Friedens-Union), aus dem Deutschen Friedensrat der ehemaligen DDR oder einfach aus den Aktivitäten der ereignisreichen 80er Jahre kannten, in Thüringen zu einem Wochenendseminar trafen. Sie alle teilten die für sie schmerzhafte Erfahrung, dass die Friedensbewegung in ihrer Gesamtheit seit den 80er Jahren auf Bundesebene nicht mehr kommunizierte, geschweige denn gemeinsame Projekte verfolgte. Die teilnehmenden Friedensaktivistinnen und -aktivisten verständigten sich darauf, dass es nötig sei, erstens einen regelmäßigen Austausch der nach wie vor zahlreich existierenden lokalen Friedensinitiativen zu ermöglichen, und zweitens die doch sehr unterschiedlichen Friedensbewegungen Ost- und Westdeutschlands zusammen zu bringen.

Beide Absichten wurden in der Folgezeit - mit unterschiedlichem Erfolg - umgesetzt. Da sich die Vertreter des Kasseler Friedensforums bereit erklärt hatten, eine Art "Friedensratschlag" noch in 1994 zu organisieren, etablierte sich der "Friedenspolitische Ratschlag" zu einem seither jedes Jahr im Dezember in Kassel tagenden Kongress für die Friedensbewegung. Die Kongresse selbst werden von Mitgliedern der Kasseler Universität vorbereitet und auch in deren Verantwortung durchgeführt. Die Veranstalter legen Wert darauf, dass sich bei den Veranstaltungen, zu denen in den letzten Jahren bis zu 350 Teilnehmer/innen aus über 100 Städten der Bundesrepublik sowie aus dem Ausland gekommen sind, Friedenswissenschaft, Politik und Friedensbewegung begegnen. Vermutlich beruht ein Teil des großen Erfolges der "Ratschläge" genau auf dieser spannenden Mischung.

"Friedensratschlag": eine Institution von gewissem Gewicht

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass der "Friedensratschlag" zu einer wichtigen "Institution" geworden ist, die innerhalb der deutschen Friedensbewegung ein gewisses Gewicht hat und viel Anerkennung erfährt (von gelegentlichen Anfeindungen "konkurrierender" Ansätze soll hier ausdrücklich nicht die Rede sein). Diese Akzeptanz in großen Teilen der Friedensbewegung, insbesondere bei den Basisinitiativen auf lokaler Ebene, und bei Teilen der Friedensforschung, ist umso bemerkenswerter, als der Friedensratschlag im eigentlichen Sinn keine "Institution" ist, d.h. keine Organisation mit einem Statut, festgefügten Strukturen, einer Kasse und sonstigen Anklängen an deutsche Vereinstraditionen. Alles was der Friedensratschlag, bzw. der seit 1995 häufig tagende "Bundesausschuss Friedensratschlag" (BAF) macht, beruht auf freiwilliger Vereinbarung unabhängiger Basis-Friedensinitiativen und regionaler oder bundesweiter Friedensorganisationen, die sich an dem "Ratschlagsprozess" beteiligen.

Die wesentliche Stärke des Friedensratschlags resultiert darüber hinaus aus den in den letzten Jahren entstandenen netzwerkähnlichen Kommunikationsstrukturen. Hierbei spielt die Homepage www.friedensratschlag.de, die von der AG Friedensforschung an der Universität Kassel in Zusammenarbeit mit dem Bundesausschuss Friedensratschlag betreut wird, zweifellos eine herausragende Rolle. Das Markenzeichen dieses Internetangebots ist seine friedenswissenschaftliche und friedenspolitische Themenvielfalt sowie seine tagespolitische Aktualität. So konnte ein "Weltarchiv" aufgebaut werden, das bislang rund 100 Länder/Regionen und Konfliktherde der Erde umfasst (von Afghanistan bis Zypern) und vor allem Hintergrundberichte sowie wissenschaftliche bzw. journalistische Analysen enthält. Im "Themen"-Archiv befinden sich laufend ergänzte Informationen zu Dutzenden interessanter Sachbereichen der Außen- und Sicherheitspolitik (Stichworte vom "ABM-Vertrag" bis zum "Zivildienst"). Der Unterschied zu anderen "friedensbewegten" Websites, die z.B. vornehmlich über Termine von Aktionen/Veranstaltungen der Friedens- und anderer Bewegungen berichten (damit man in Hamburg auch weiß, wann und wo die nächste Veranstaltung der Friedensinitiative in Bad Tölz stattfindet), ist also augenfällig. Diese bewusste Konzentration auf die Vermittlung von Inhalten und Expertise statt Organisatorischem und Terminen berechtigt zu der Einschätzung, dass die Homepage weniger als "kollektiver Organisator", sondern mehr als "kollektiver Informator" fungiert. Informiert wird über globale Trends, Veränderungen der weltpolitischen Koordinaten, über regionale Konfliktkonstellationen oder über außen- und sicherheitspolitische Entwicklungen in Deutschland bzw. in der EU. Die Nutzer der Homepage danken es den Machern mit einer stark wachsenden Zahl von Zugriffen aus aller Welt.

Der "Friedensratschlag" selbst betätigt sich natürlich auch als "Organisator" der Friedensbewegung und als Initiator gemeinsamer Projekte und bundesweiter Aktionen. Dies geschieht z.B. mittels der Teilnahme an breiteren Bündnissen der Friedensbewegung (etwa zur Vorbereitung der Afghanistan-Demonstration im Oktober 2001, der Bush-Demonstration im Mai 2002 oder der bislang größten Friedensdemonstration am 15. Februar 2003 gegen den Irakkrieg). Hier spielen vorbereitende Treffen des Bundesausschusses Friedensratschlag oder gelegentliche bundesweite Aktionskonferenzen eine ebenso wichtige Rolle wie die regelmäßige Kommunikation über eine Zeitung (FriedensJournal) sowie über Rundmails an einen relativ großen Kreis friedensbewegter Multiplikatoren.

Die politischen Aktivitäten und "Interventionen" des Friedensratschlags bzw. der gesamten Friedensbewegung haben meist keine unmittelbare Wirkung auf die herrschende Politik. Das mag man bedauern, das hat aber mit dem spezifischen Bewegungs-Charakter der Friedensbewegung zu tun. Die Friedensbewegung ist kein Interessenverband, keine Lobby mit entsprechenden Instrumentarien zur Beeinflussung politischer Akteure. Zu all dem fehlen der Friedensbewegung die geeigneten Mittel. Kriege werden begonnen oder beendet auf Beschluss von beteiligten staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren, nicht von der Friedensbewegung. Über die Auslandseinsätze der Bundeswehr entscheidet der Bundestag, nicht die Friedensbewegung. Und die Umwandlung der Bundeswehr in eine weltweit einsetzbare Interventionsarmee entscheidet die Bundesregierung (ohne übrigens den Bundestag zu fragen) und wiederum nicht die Friedensbewegung. Das einzige, was die Friedensbewegung tun kann (und tun muss), ist, diese Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen zu beeinflussen. Dies gelingt dadurch, dass politischer Druck auf die Politik ausgeübt wird (u.a. der berühmte "Druck von der Straße") und - soweit dies möglich ist - unliebsamen Entwicklungen hinhaltender Widerstand entgegengesetzt wird. Immerhin haben die USA 1975 den schmutzigen Vietnamkrieg beenden müssen nicht nur auf Grund der militärischen Entwicklung in Vietnam, sondern auch - manche sagen: vor allem - auf Grund der wachsenden Antikriegs-Proteste in de USA selbst.

Vom politischen Nutzen friedenspolitische Aufklärung

Das wichtigste Mittel der Friedensbewegung ist die Aufklärung. Hier sehe ich auch den eigentlichen Berührungspunkt zur Friedenswissenschaft. Deren Expertise ist vorwiegend nach Innen gerichtet, auf die scientific community, oder sie zielt in Form der Politikberatung direkt auf einzelne Politiker (Abgeordnete, Außen- oder Entwicklungsministerium). Größeren Teilen der Öffentlichkeit bleiben die Ergebnisse wissenschaftlicher Expertise in aller Regel verschlossen. Hier kann die Friedensbewegung als eine Art "Verstärker" auftreten, indem sie die Expertise "popularisiert", in einprägsame Argumentationsmuster verwandelt und zu politischen Forderungen zuspitzt.

Die politische Wirkung von Aufklärung ist nicht leicht messbar. Allenfalls kann aus langfristigen Bewusstseins- oder Einstellungsveränderungen auf ihre (Mit-)Wirksamkeit geschlossen werden. In Bezug auf die friedenspolitische Einstellung der Bevölkerung in Deutschland bin ich voller Zuversicht. Meine These ist, dass sich die Einstellung der Bevölkerung der Bundesrepublik zu Fragen von Krieg und Frieden heute grundlegend unterscheidet von den Einstellungen früherer Generationen, insbesondere "der Deutschen" vor 1945. Das Bild der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich, in der Zwischenkriegsperiode der Weimarer Republik und im Faschismus war doch stark beeinflusst gewesen von der historischen Erblast einer gescheiterten bürgerlich-demokratischen Revolution 1848, der deutschen Reichsgründung von oben und mittels eines Krieges 1870/71, der Dominanz obrigkeitsstaatlichen, antidemokratischen Denkens und der Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. In diesem Milieu der spezifisch preußischen Pickelhauben-"Demokratie" konnten all jene "Sekundärtugenden" wie Tapferkeit, unbedingter Gehorsam u.ä. gedeihen, die zur Führung industrieller Massenkriege (1. und 2. Weltkrieg) gebraucht wurden.

Dieses (Selbst-)Bild der Deutschen als einem zu Krieg und Eroberung prädestinierten Herrenvolk wurde spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. Bewirkt wurde diese Einstellungsänderung vor allem durch drei Momente:
  1. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem verheerendsten Krieg in der Geschichte der Menschheit, hat sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen (in Ost und West) der Schwur der KZ-Überlebenden eingegraben, dass sich Auschwitz nicht wiederholen und von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Diese Erkenntnis resultiert aus dem unermesslichen Leid, das Deutschland im 2. Weltkrieg anderen Völkern angetan hat und in der militärischen Niederlage schließlich selbst erfahren musste.
  2. Sie ist zweitens Ergebnis der jahrzehntelangen außen- und militärpolitischen Selbstbeschränkung der - alten - Bundesrepublik (der Spielraum der DDR war bestimmt nicht größer), die sich sehr gut mit der ökonomischen und sozialen Prosperität des Landes vereinbaren ließ und von der Bevölkerung nicht als Nachteil empfunden wurde. Die Mitte der 50er Jahre aufgestellten Armeen (Bundeswehr bzw. NVA) waren ausschließlich und ausdrücklich auf reine Verteidigungsaufgaben festgelegt.
  3. Die größere Friedfertigkeit der deutschen Gesellschaft ist schließlich auch Ergebnis des langjährigen Wirkens der Friedensbewegung, deren Weg (in der alten BRD) zwar überwiegend von realpolitischen Niederlagen gepflastert war (z.B. Wiederbewaffnung, Raketenstationierung), deren Gedanken und Überzeugungen sich aber im Bewusstsein vieler Menschen festgesetzt haben. So konnte etwa in den 80er Jahren, als sich die Friedensbewegung im Sinne einer Ein-Punkt-Bewegung ganz auf den Kampf gegen die Raketenstationierung konzentriert hatte, "nebenbei" die Abschreckungsdoktrin in Frage gestellt und die Idee einseitiger Abrüstungsschritte propagiert werden.

Alle Aktivitäten der Friedensbewegung hinterlassen also ihre Spuren - jedenfalls über einen größeren Zeitraum. Bei den Demonstranten, die sich Anfang der 80er Jahre gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Europa zur Wehr setzten, bei den überwiegend jungen Leuten, die 1991 gegen den Golfkrieg massenhaft auf die Straße gingen, bei den Schülern, die zu Zig-Tausenden im Februar und März 2003 gegen den Irakkrieg aufbegehrten: bei all diesen Menschen entwickelten sich Einsichten und Einstellungen, die sich mit dem jeweiligen Ende der Massenproteste ja nicht verflüchtigen. Diese Protestereignisse sind für die Teilnehmer zu wichtigen, in manchen Fällen vielleicht sogar zu entscheidenden politischen Sozialisationserfahrungen geworden. Hier lagern sich über die Jahre und Jahrzehnte Schichten von spezifischen Einstellungen und Haltungen ab, akkumulieren sich friedenspolitische Orientierungen.

Insofern gehen Vorwürfe an die Adresse der Friedensbewegung, sie habe doch mit all ihren Aktionen und Massenprotesten nichts bewirkt, regelmäßig ins Leere. Ein Abgeordneter der rot-grünen Regierungskoalition kann selbstverständlich auf vieles verweisen, was er im Laufe einer Legislaturperiode real bewirkt oder "bewegt" hat. Er könnte z.B. ins Feld führen, dass er
  • Hartz I bis IV abgenickt,
  • an der Demontage des allgemeinen Gesundheitswesens mitgewirkt,
  • die Renten unsicherer gemacht und
  • durch Steuersenkungen zugunsten der Reichen den Sozialstaat demoliert hat.
Nun könnte es aber sein, dass spätestens bei der nächsten Wahl unser Realpolitiker die Quittung von den Wählern erhält und die Regierungskoalition kurzerhand abgewählt wird. So wirksam kann "Realpolitik" sein!

Die Friedensbewegung denkt in größeren Zeiträumen. Unmittelbarer Erfolg bleibt ihr bei ihren Aktionen in der Regel versagt. Daraus ein "Versagen" der Friedensbewegung abzuleiten, ist extrem kurzsichtig. Ebenso kurzsichtig ist die in den Medien häufig anzutreffende Fehlinterpretation von Aktionen der Friedensbewegung in "normalen" Zeiten. Die diesjährigen Ostermärsche, die sich zahlenmäßig nicht mit denjenigen des Kriegsmonats April 2003 messen lassen, erfuhren mitunter hämische Kommentare. In der Süddeutschen Zeitung war etwa zu lesen: "Ein wenig wirkten die Mini-Märsche, als seien ihre Teilnehmer direkt aus dem Museum für die Geschichte der Bundesrepublik gekommen. (...)Die Zeit ist über die Friedensbewegung hinweggegangen - jedenfalls über jene, die in den achtziger Jahren Hunderttausende gegen die atomare Nachrüstung auf die Straßen brachte, und die zwar in einem Netzwerk von Organisationen und Gruppen fortlebt, deren Anspruch aber, `Sprachrohr der Mehrheit´ zu sein, milde gesagt den Realitätsverlust der Bewegung treffend widerspiegelt." (SZ, 13. April 2004) Umfragen zeigen indessen, dass die Friedensbewegung mit ihrem Protest gegen den Irakkrieg und ihrer Kritik am weltpolitischen Kurs der US-Regierung auch im Jahr 2004 die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung zum Ausdruck bringt (vgl. auch den Beitrag von Dietmar Wittich), auch wenn diese sich nicht selbst an den Ostermärschen oder anderen Aktionen beteiligt. Wichtig ist nur, dass die Botschaften der Friedensbewegung von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Nach Lage der Dinge gelingt das nur, wenn hinter den Botschaften lebendige Aktionen stehen. Jede Pressemitteilung der Friedensbewegung muss von einer mindestens mittelgroßen Demonstration oder zumindest einer pfiffigen Aktion begleitet sein, damit sie Berücksichtigung bei den Medien findet. Das ist manchmal zum Verzweifeln. Auf der anderen Seite zwingt das die Friedensbewegung, ihre Aktions- und Mobilisierungsfähigkeit ständig neu unter Beweis zu stellen. Und das schützt vor Selbstzufriedenheit und einem Abschlaffen der Bewegung.

* Peter Strutynski, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedesnratschlag.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen zusammengefassten Beitrag auf der Podiumsdiskussion "Bürgerverantwortung für Friedenspolitik in der Demokratie" der Rosa-Luxemburg-Konferenz "Welt ohne Krieg" am 16. April 2004 in Dresden.



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