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Bundesverfassungsgericht erlaubt Bundeswehreinsatz im Inneren / Grundgesetzänderung durch Hintertür

Erklärungen des Friedensratschlags, der DFG-VK und von Ulla Jelpke MdB Die Linke


Bundesverfassungsgericht leistet Militarisierung Vorschub

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
  • Urteil des Bundesverfassungsgerichts kippt bisherige Rechtslage
  • Einfallstor für Bundeswehreinsätze im Inneren
Kassel, 17. August 2012 - Zum heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erklärte der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag in einer ersten Stellungnahme:

Mit dem heutigen Urteil macht das BVerfG eine Kehrtwende in seiner eigenen Rechtsprechung: Noch vor sechs Jahren hatte das höchste deutsche Gericht ausgeschlossen, dass bewaffnete Streitkräfte auch im Inneren eingesetzt werden dürften. Damit kassierte das Gericht das Luftsicherheitsgesetzes des Bundes, das es der Bundeswehr erlauben sollte, in Zusammenhang mit der Terrorbekämpfung notfalls auch Luftfahrzeuge abzuschießen, in denen sich unbeteiligte Zivilpersonen befinden. "Die Regelung", so hieß es unzweideutig, "ist in vollem Umfang verfassungswidrig und infolgedessen ... nichtig."

Zwei Grundsätze des damaligen Urteils waren den Richter/innen besonders wichtig:

Erstens wurde eine Relativierung des Lebensrechts der Passagiere strikt ablehnt. In Randziffer 124 hieß es unzweideutig: "Sie (die Passagiere) werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt."

Zweitens verneinte das Urteil ein Recht der Bundesregierung, Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen. Das Grundgesetz (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1) erlaubt es dem Bund nicht einmal, "Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen", heißt es im zweiten Leitsatz des Gerichts.

Das alles soll seit heute nicht mehr gelten. Dieses Urteil ist verfassungspolitisch verheerend. Es besteht die dringende Gefahr, dass damit ein entscheidender Schritt getan ist, die strikte Trennung von Polizei und Bundeswehr, von innerer und äußerer Sicherheit aufzuheben. Diese Trennung gehört zu den wichtigsten Prinzipien des Bonner Grundgesetzes und war über 60 Jahre verfassungspolitischer Konsens in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist darüber hinaus ein Kennzeichen demokratischer Rechtsstaatlichkeit.

Auch politisch ist das Urteil verheerend. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hatte den Einsatz der Bundeswehr Im Inneren in ihrer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Wenn jetzt zwar das BVerfG beschwichtigend darauf verweist, dass mit dem heutigen Urteil ein Bundeswehreinsatz z.B. gegen Großdemonstrationen nicht gemeint sei, werden die Versuche zunehmen, die Grenze zwischen Polizei- und Bundeswehreinsätzen zunehmend zu verwischen. Die Bundesrepublik Deutschland steht vor einem weiteren Schritt ihrer inneren Militarisierung. Dazu sagt die Friedens- und Demokratiebewegung eindeutig uns lautstark NEIN.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)


Hier geht es zum Urteil nebst Sondervotum: www.bverfg.de





Salamitaktik - Militarisierung schreitet voran

17.08.2012

„Mit der heutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, unter bestimmten Bedingungen bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Innern der Bundesrepublik für verfassungskonform zu erklären, schreitet die Militarisierung des Lebens der Bundesrepublik weiter voran.“ erklärte der Politische Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Monty Schädel.

„Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten die Auslandseinsätze der Bundeswehr stetig ausgeweitet wurden und das Bundesverfassungsgericht ohne Änderung des Grundgesetzes dieses immer abgesegnet hat, findet jetzt eine weitere schleichende Uminterpretation des Verfassungstextes durch das oberste deutsche Gericht statt. Das Bundesverfassungsgericht schafft so erneut Fakten. Selbst wenn heute noch Bedingungen für Inlandseinsätze der Bundeswehr formuliert werden, bleibt zu befürchten, dass diese Bedingungen in Zukunft ähnlich aufgeweicht werden, wie seinerzeit die Bedingungen für die Auslandskriegseinsätze. Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal seine Kompetenzen überschritten und mit der neue Interpretation die Verfassung geändert.“

Der DFG-VK-Bundessprecher wies darauf hin, dass es zum Einsatz der Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten keinerlei Änderungen im Text des Grundgesetzes gegeben hat. Allein mit neuen Interpretationen des Textes durch das Bundesverfassungsgericht wurden Out-of-Area-Einsätze und Teilnahmen an Kriegen weltweit möglich - nach dem es militäraußenpolitisch so formuliert worden war. „Jetzt soll es offensichtlich um die gezielte Ausweitung von Militäreinsätzen im Innern gehen“ vermutet Schädel. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder offen darüber diskutiert, gegen Massenproteste, Arbeitskämpfe oder Occupy Militär auch im Innern einzusetzen um politische Regierungsentscheidungen so zu untermauern. Teilweise fand der Einsatz von Bundeswehrsoldaten bereits mit fadenscheinigen Begründungen statt. „Offensichtlich haben die Regierenden die vielbeschworenen freiheitlich demokratische Grundordnung bereits aufgegeben, wenn sie offen mit Inlandseinsätzen des Militärs zur Lösung von Konflikten spekulieren. Das Bundesverfassungsgericht hat mit der heutigen Entscheidung eher zum Abbau der Demokratie in der Bundesrepublik beigetragen, als dass es das Grundgesetz geschützt hätte.“

Durch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes fühlt die DFG-VK sich in ihrer Forderung nach Abschaffung es Militärs bestätigt. Das Vorhandensein des Militärs verführt Politik offensichtlich immer wieder dazu, das System von Befehl und Gehorsam für die Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen – selbst wenn sie sich demokratisch gebärden.


Militarisierung

Grundgesetzänderung durch Hintertür

Von Ulla Jelpke *


Das Grundgesetz trennt nicht nur Polizei und Militär, sondern auch die beiden Szenarien für einen möglichen Einsatz der Bundeswehr im Innern scharf: einerseits der Katastrophennotstand, in dem die Bundeswehr zur Unterstützung von Polizei und Katastrophenschutz eingesetzt werden darf, aber ausdrücklich ohne militärische Mittel. Und andererseits der »Staatsnotstand«, der durch die Notstandsgesetzgebung 1968 ins Grundgesetz eingefügt wurde, in dem auch die Bundeswehr militärisch eingesetzt werden darf.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenze zwischen diesen beiden Szenarien jetzt eingerissen. Der Einsatz spezifisch militärischer Mittel »bei Einsätzen der Streitkräfte« sei bei der Amtshilfe im Katastrophenfall »nicht grundsätzlich« ausgeschlossen, so das Gericht in seinem Beschluß. Allzu vage redet das Gericht von einem »unmittelbar bevorstehenden« Schadenseintritt von »katastrophischen Dimensionen«, der den Einsatz militärischer Mittel im Inland erlaube. Damit wurde das fundamentale Verfassungsprinzip, militärische Mittel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit im Inland auszuschließen, per Gerichtsbeschluß gekippt. Der weiteren Militarisierung der Innenpolitik ist Tür und Tor geöffnet.

Das Bundesverfassungsgericht macht mit diesem Beschluß Politik. Die Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzes, um Bundeswehreinsätze im Inland auszuweiten, wird von Law-and-order-Politikern schon lange erhoben. Bislang konnten sie sich nicht durchsetzen, weil im Bundestag die notwendige Zweidrittelmehrheit fehlte. Nun hat das Gericht einen Weg gewiesen, auch ohne die notwendige Grundgesetzänderung militärische Einsätze im Inland begründen zu können.

Um die vom Gericht aufgestellten engen Bedingungen wird man sich dabei nicht scheren. Es sind nämlich nicht die Richter, die entscheiden, wann eine Ausnahmesituation von »katastrophischen Dimensionen« herrscht. Es sind genau jene Sicherheitspolitiker und Behörden, die seit über 20 Jahren Bundeswehreinsätze im Inland fordern. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie mit abstrusen Gefahrenprognosen Demonstrationsverbote im großen Stil und vollkommen unverhältnismäßige Polizeieinsätze gegen friedliche Demonstrationen begründet wurden.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht die Argumente geliefert, mit herbeiphantasierten Staatsgefährdungen den Einsatz der Bundeswehr bei Straßenprotesten und politischen Massenstreiks in der drohenden Hinterhand zu halten. Ist diese Möglichkeit erst einmal in der Welt, wirkt allein schon die Drohung einschüchternd. Die Entscheidung ist damit auch ein Türöffner zur Aushebelung demokratischer Rechte. Doch es bleibt dabei: Die Aufgabe der Bundeswehr ist laut Grundgesetz die Landesverteidigung. Und die findet weder am Hindukusch noch bei Demonstrationen statt.

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag

(Aus: junge Welt, 18. August 2012)


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