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Kalkulierter Eklat

Von Harald Neuber *

Natürlich wollte Miguel Henrique Otero provozieren. In den frühen Morgenstunden des 13. Augusts kündigte der Herausgeber der oppositionellen venezolanischen Tageszeitung El Nacional einen Skandal an. Man werde »einige Beispiele journalistischer Pornografie« zeigen, so der ironische Kommentar des erklärten Regierungsgegners auf seiner Seite des Microblogs Twitter. Wenig später wurde die Tagesausgabe im Netz freigeschaltet. Drei Viertel des Titelblatts füllte ein schockierendes Foto von obduzierten und nackten Toten in einer Leichenhalle der Hauptstadt Caracas aus. Mutmaßlich Mordopfer. Mutmaßlich im Dezember 2009 fotografiert. Man habe auf das Gewaltproblem im Land unter der Regierung von Hugo Chávez hinweisen wollen, verteidigte sich Otero.

Die Verteidigung – das war ihm klar – war nötig. Während Regierungsgegner die Provokation als Fall für den Pulitzer-Preis feierten, stellten regierungsnahe Gruppen Strafanzeige. Das verstörende Foto verletze den Kinder- und Jugendschutz, entschied ein Hauptstadtgericht wenig später und verbot die Ausgabe. Der kalkulierte Eklat war aufgegangen. Am Folgetag ließ El Nacional den Platz für die Bilder frei. Auf der weißen Fläche prangte ein Stempel: »Zensiert«.

Was zunächst als Provinzposse erscheint, ist Ausdruck eines tief greifenden Konflikts zwischen den neuen Linksregierungen in Lateinamerika und den Medienkonzernen. Vor allem in Venezuela hat die Opposition nach dem Zerfall des alten Zweiparteiensystems seit Ende der 1990er Jahre in den Privatmedien eine neue Organisations- und Artikulationsplattform gefunden. Die Privatmedien sind zu politischen Akteuren geworden, die den Widerstand gegen die soziale Reformpolitik der Regierung aktiv befördern. Dieses Dilemma besteht nicht nur in Venezuela, sondern auch in Bolivien und Ecuador. Selbst Die bürgerlich-peronistische Regierung in Argentinien hat ein Pressegesetz verabschiedet, das den Einfluss der privaten Medienkonzerne reguliert.

Vor diesem Hintergrund ist die Redaktionsentscheidung von El Nacional zu verstehen, das Leichenfoto zu publizieren. In wenigen Wochen stehen in Venezuela Parlamentswahlen an. Die Oppositionsparteien nutzen vor allem das in der Tat drängende Thema eskalierender Gewalt und Kriminalität, und sie werden von Privatmedien unterstützt. Die juristische Auseinandersetzung über das Skandalfoto ist eine Folge dieser Konstellation. Sie bedeutet keine Zensur, zumal dasselbe Gericht seine Entscheidung wenige Tage später in Teilen revidierte. Gewaltdarstellungen seien nicht grundsätzlich verboten, hieß es abschließend. Im konkreten Fall wurden die Sanktionen aufrechterhalten.

Während vor allem US-amerikanische Medien den Fall für neue, kritische Berichte über die venezolanische Regierung nutzten, hielt sich die Resonanz im deutschsprachigen Raum in Grenzen. Lediglich das in Wien erscheinende Blatt »Die Presse« und die »Süddeutsche Zeitung« griffen die Kritik an der Regierung auf. Dabei hätte sich ein Blick in den deutschen Pressekodex gelohnt. Ziffer 11 der Regelung verpflichtet die deutsche Presse, auf »eine unangemessene Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid« zu verzichten und den Jugendschutz zu beachten. Dies gilt vor allem für Fotografien auf den Titelseiten von Zeitungen. Zuletzt hatten ähnliche bildliche Darstellungen in der Boulevardpresse nach der Katastrophe auf der Duisburger Loveparade für eine Klagewelle gesorgt.

Dass der Staat in Venezuela bei der Sanktionierung solcher ethischer Verstöße eine aktive Rolle spielt, kann diskutiert werden. Dass es sich um einen politisch motivierten Verstoß handelt – und nicht um eine Einschränkung der Pressefreiheit – steht außer Frage.

* Aus: Neues Deutschland, 13. September 2010 (Medienkolumne)

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