Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Meinungsmacher von Buenos Aires

Argentinien: 26 Jahre nach Ende der Diktatur gilt ein neues Mediengesetz. Pressekonzerne und rechte Opposition laufen Sturm dagegen

Von Kristy Schank und Johannes Schulten *

Lucas Yañez ist stolz. Der 33jährige Mann steht auf dem Dach des Centro Comunitario Los Pibes im alten Hafen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Links neben ihm ragt eine etwa zehn Meter hohe Radio­antenne aus dem Boden. »Die ist keine drei Wochen alt«, sagt er. Das dazugehörige Sendestudio befindet sich eine Etage tiefer und wird gerade eingerichtet. In wenigen Monaten soll es losgehen mit La Bocas erstem Stadtteilradio.

Seit in den 1960er Jahren die großen Gefrierhäuser aus den Straßen von La Boca verschwanden, gehört das einst stolze Hafenviertel zu den zahlreichen Armensiedlungen der Hauptstadt. Die Jugendorganisation des Gewerkschaftsdachverbandes CTA (Central de Trabajadores de Argentina) betreibt hier seit geraumer Zeit ein Stadtteilzentrum. Angefangen als schlichtes Hilfsprojekt, verfügt das mehrstöckige Gebäude inzwischen über Nähwerkstatt, Großküche, Versammlungsräume und einen eigenen Computersaal. »Mit dem Radiosender wollen wir noch stärker nach außen auftreten«, erklärt Yañez. Finanziert wurde das Radioprojekt zum größten Teil mit staatlichen Fördergeldern.

Das neue Mediengesetz eröffnete den Weg zu einer Sendelizenz. Der argentinische Senat beschloß die entsprechende Vorlage der Regierung am 9. Oktober vergangenen Jahres mit 44 zu 24 Stimmen. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner betonte, daß die Bedeutung der öffentlichen Medien gegenüber den privaten gestärkt werde; das Gesetz sei ein »Schritt hin zu mehr Medienvielfalt«. Für andere dagegen, für die Opposi­tion und die Großen der Pressebranche, bedeutet es einen »Rückschritt in die Diktatur«.

»Es ist unglaublich, obwohl das Gesetz nach allen demokratischen Ansprüchen verabschiedet wurde, wird es wie ein Dekret behandelt. Clarín nennt es schlicht ›Gesetz K‹ wie ›Kirchner‹, als hätten es die Präsidentin und ihr Mann Néstor Kirchner im Hinterstübchen ausgeheckt«, sagt der Journalist Martín Piqué und bringt »Clárin« ins Gespräch. So heißt nicht nur die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes, Clárin ist auch der mit Abstand größte Medienkonzern.

In der Redaktion

Piqué sitzt gemeinsam mit seinem Kollegen Frederico Poore in einem Großraumbüro der Tageszeitung Página 12. Mit seinen etwa 80 größtenteils uralten Computern erinnert es eher an ein Technikmuseum, als an die Redaktion eines überregionalen Presseprodukts. Doch »Página«, wie das Blatt von seinen Lesern genannt wird, ist ernst zu nehmen. Trotz knapper finanzieller Ressourcen und kleiner Auflage ist sie die wichtigste unabhängige Tageszeitung des Landes. Página 12 hat keinen großen Konzern im Nacken – ein außergewöhnlicher Zustand in der argentinischen Medienlandschaft.

Es ist schon 17 Uhr, doch in der Redaktion ist noch wenig Betrieb. »Die meisten Kollegen kommen so gegen sechs«, sagt Poore. »Hier wird spät gearbeitet.« Viele Redakteure haben noch einen Zweitjob. Piqué etwa moderiert von montags bis freitags eine morgendlich Radiosendung. Poore betreibt einen Internetblog. Redaktionsschluß ist gegen Mitternacht.

Die wenigen Journalisten, die schon eingetroffen sind, machen es sich vor einem Fernsehgerät bequem und verfolgen ein Fußballspiel. »Es ist ja richtig, über das Gesetz zu debattieren, aber die Diktaturvergleiche, wie sie von manchen Medien gemacht werden, sind einfach zynisch«, sagt Poore. »Das bisher gültige Rundfunkgesetz stammt von den Militärs. General Jorge Rafael Videla, Junta-Chef zwischen 1976 und 1981, hat es höchstpersönlich 1980 per Dekret verabschiedet.« Wenn die beiden Journalisten über das Gesetz sprechen, werden sie laut. »Seit 26 Jahren leben wir in der Demokratie. Bis Fernández de Kirchner hat es keine der gewählten Regierungen gewagt, das Diktaturgesetz zu ändern«, erregt sich Piqué.

Tatsächlich erinnert so einiges der alten Regelung an die finsteren Zeiten der Militärs (1976-1983). So war es nach dem Rundfunkgesetz ausschließlich Privatunternehmern vorbehalten, Fernseh- und Rundfunklizenzen zu besitzen. Lediglich für die Katholische Kirche wurde in den neunziger Jahren von Präsident Carlos Menem (1989 bis 1999) eine Sondergenehmigung erteilt.

Nicht gewinnorientiert

Mit der neuen Regelung soll sich das nun ändern. Alle Fernseh- und Radiolizenzen werden in Zukunft zu je einem Drittel an staatliche, private und nicht gewinn­orientierte Organisationen vergeben. Gewerkschaften, Kooperativen, Universitäten oder Stadtteilorganisationen wie die in La Boca können so erstmals, ohne große bürokratische Winkelzüge, eigene Radio- oder Fernsehkanäle betreiben. Vergeben werden sollen die Lizenzen von einer siebenköpfigen Regulierungskommission, die sich aus Vertretern der Legislative, Exekutive und Judikative zusammensetzt.

Oppositionspolitiker und Massenmedien sehen in dem Gremium ein Instrument der Präsidentin, sich kritischer Presse zu entledigen. So kommentierte die konservative Tageszeitung La Nación, daß Buenos Aires noch nie so stark Caracas geglichen habe – die Anspielung auf die unterstellte Drangsalierung venezolanischer Medien durch Präsident Húgo Chávez war nicht zu überlesen.

Für Frederico Poore ist dieses Argument an den Haaren herbeigezogen. »Gewiß macht die Regierung Fernández de Kirchner nicht immer die beste Figur im Umgang mit der Presse.« Daß sie aber durch die Kommission Einfluß auf die Berichterstattung nehmen oder gar kritische Medien mundtot machen könne, hält er für völlig ausgeschlossen. »Sie verfügt einfach über keine Mehrheit. Von sieben Kommissionssitzen entfallen lediglich drei auf die Regierung.« Ursprünglich sah der Gesetzentwurf fünf Plätze für die Legislative vor. Doch auf Drängen des linken Bündnisses »Projekt des Südens« hat die Regierung auf ihre Mehrheit verzichtet.

Ein weiterer zentraler Punkt betrifft die Regulierung der Besitzverhältnisse. Demnach sollen die pro Unternehmen zulässigen Sendelizenzen von bisher zwanzig auf zehn begrenzt werden. Innerhalb eines Ausstrahlungsgebietes darf ein Anbieter nicht mehr als die Hälfte der dortigen Lizenzen besitzen. Wer mehr hat, muß sie verkaufen. Den betreffenden Unternehmen wird eine einjährige Frist eingeräumt, um sich auf die neuen Bestimmungen einzustellen. Die Frist endet im Oktober dieses Jahres. Ob die Regierung dann wirklich bereit sein wird, Unternehmen, die sich weigern, zu sanktionieren? Dazu wollen die beiden Journalisten keine Einschätzung abgeben.

»Daß die hiesigen Medienkonzerne momentan Sturm laufen, kann ich verstehen. Für sie geht es ja tatsächlich um eine Menge Geld und Einfluß«, sagt Piqué. »Daß nunmehr auch die europäischen Medien ins Konzert mit einstimmen, ist einfach nur heuchlerisch.« Diese hatten fast unisono das Schreckgespenst eines »Gesetz zur Medienkontrolle« (El País vom 10.10.2009) an die Wand geamlt oder einen »Schatten über der Pressefreiheit« (NZZ vom 14.09.09) aufziehen sehen.

Dazu meint Redakteur Piqué, daß derzeit in Argentinien weder kontrolliert werde, ob Sender den Jugendschutz einhalten, noch welche Inhalte gesendet werden; oder ob mehr Werbung gezeigt wird, als erlaubt ist – alles Dinge, die nun eingeführt werden sollen und die »in Europa überwiegend zum Standard gehören«, so Piqué. »Doch wehe, wir fangen an, diese Regeln für unsere Medien anzuwenden... – dann ist gleich die Demokratie in Gefahr.«

Medienlandschaft

Auf den ersten Blick erscheint Argenti­niens Medienlandschaft ziemlich vielfältig. Das gilt vor allem für lateinamerikanische Verhältnisse. Durch eine vergleichsweise breite und gebildete Mittelschicht haben viele Leute überhaupt Zugang zu den anspruchsvolleren Medien. Es existieren zahlreiche regionale und überregionale Zeitungen, öffentlich-rechtliches Fernsehen, das nicht permanent versucht, die privaten Formate der Telenovelas und Unterhaltungsshows zu kopieren und statt dessen auf Nachrichtenformate setzt.

Radio wird gern gehört, und insbesondere in der Hauptstadt Buenos Aires ist die tägliche Zeitungslektüre ein fester Bestandteil des Alltags. Doch der erste Blick täusche, meint Poore. »Es gibt zwar viele Marken, aber die gehören allesamt nur zu drei Unternehmen.« Die großen Provinzzeitungen wie Voz del Interior oder das Diario Mendoza etwa sind Teile des Clarín-Konzerns. Auch dürfe man nicht den Fehler machen, Buenos Aires mit dem Landesinneren zu verwechseln. In einigen Provinzen empfangen die Leute nur einen einzigen Radiosender. So Poore.

Die Clarín-Gruppe

Der argentinische Markt ist einer der am stärksten konzentrierten in Lateinamerika. Laut einer vergleichenden Studie des in Lima ansässigen »Instituts für Presse und Gesellschaft« dominieren die vier größten Verlage 83 Prozent des gesamten Marktes im Bereichen Print, Radio, Fernsehen und Telefon/Telekommunikation. Im Jahr 2000 waren es noch 78 Prozent. Die größte unter ihnen ist die Gruppe Clarín. 1945 gegründet, hat sie sich zu einem der bedeutendsten Medienkonzerne Lateinamerikas gemausert. Was der Konzern verbreitet, wird wahrgenommen. Ihr Flaggschiff ist die gleichnamige Tageszeitung mit einer verkauften Tagesauflage von über 400000 Exemplaren.

Das Meinungsimperium beschränkt sich nicht nur auf das Zeitungsgeschäft. Mit der beliebtesten Radiostation des Landes, dem »Radio Mitre«, den Fernsehsendern Canal 13, Todo Noticias und TyC Sports sowie den Kabelnetzbetreibern Cablevisión und Multicable dominiert das Unternehmen die Medienlandschaft des Landes. Clarín beherrscht 53 Prozent des Zeitungsmarktes, beim Bezahlfernsehen liegt der Marktanteil sogar bei 73 Prozent. Und der Konzern weiß diesen Einfluß zu nutzen.

»Eine Regierung wird so lange unterstützt, wie sie nützlich ist. Das war während der Militärdiktatur so, das war in den neunziger Jahren unter Präsident Carlos Menem so«, erzählt nun Sebastián Denegris und ergänzt: »Auch in der Ära Kirchner bleibt Clarín pragmatisch.« Der 33jährige Kommunikationswissenschaftler hat es sich gerade im »London« gemütlich gemacht, einem der zahlreichen traditionellen Cafés nahe der Plaza de Mayo im Zentrum der Hauptstadt.

»Clarín war aufs engste mit der Militärdiktatur verwoben. Hier liegt die Wiege allen Erfolgs. Die Zeitung verlor genausowenig ein Wort über Folter wie über die 30000 ›Verschwundenen«. Als Gegenleistung erhielt sie 1972 Anteile am halbstaatlichen Druckpapiermonopol für Zeitungspapier Papel Prensa. Erst als das Ende der Diktatur nicht mehr aufzuhalten war, entdeckte Clarín die ›demokratischen‹ Prinzipien, die sie heute zu verteidigen vorgibt.« Denegris meint, daß auch die 2003 gewählte linksperonistische Regierung Néstor Kirchner zu Beginn hofiert wurde. Als seine Nachfolgerin, Cristina Fernández de Kirchner, sich 2008 jedoch anschickte, die Gewinne der einflußreichen Agroindustrie durch höhere Exportsteuern abzuschöpfen, vollzog Clarín eine Kehrtwende.

»Seither stehen beide auf Kriegsfuß«, sagt Denegris. »Jeder noch so kleine Versuch, den Einfluß der großen Wirtschaftsgruppen einzuschränken und staatliche Handlungsspielräume wiederherzustellen, stößt auf massiven Widerstand.« Das ginge von der Verstaatlichung des völlig maroden privaten Rentensystems über härtere Verhandlungen mit internationalen Gläubigern bis hin zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe – »für Clarín sind das alles Maßnahmen, die das Land isolieren.« Und: »Ihr Einfluß ist beträchtlich«, so der Kommunika­tionswissenschaftler.

Gegen die Regierung

Gleichwohl fällt es den Medien immer schwerer, das von ihnen propagierte Bild vom Zustand Argentiniens als »Land am Abgrund« aufrechtzuerhalten. Die Wirtschaft hat trotz aller Unkenrufe die beiden vergangenen Krisenjahre gut überstanden. Bis April legte die Wirtschaftsleistung im Vorjahresvergleich um fünf Prozent zu. Die Arbeitslosigkeit nimmt seit der Krise 2001 kontinuierlich ab, die Löhne steigen.

Und doch halten die rechten Medienmonopole Kurs. Dafür müssen auch schon mal Proteste von links, von außerparlamentarischen Bewegungen herhalten – als Beweis für die Labilität der Verhältnisse sozusagen. »Wurden Streiks und Straßenblockaden bisher völlig von den Medien ignoriert, kommen heute schon kleinere Aktionen ins Fernsehen«, weiß Denegris. Hauptsache, der Protest richtet sich gegen die Regierung. Auf die wirklichen Anliegen der Aktivisten werde freilich nicht eingegangen.

Doch der junge Mann ist zuversichtlich. Das neoliberale Argentinien der neunziger Jahre sei Geschichte. Die Menschen hätten begriffen, daß Privatisierung und blindes Marktvertrauen die Armut nicht beseitigen. »Zehntausende Menschen sind im vergangenen Jahr für die Verabschiedung des Mediengesetzes auf die Straße gegangen. Und seit März kommt es in verschiedenen Städten des Landes wieder zu Demonstrationen. Diesmal gegen Clarín und die anderen Massenmedien.« Die Leute glauben nicht mehr alles, was in der Zeitung steht.«

Zuversichtlich ist auch Yañez. Egal, wie die Sache mit dem Mediengesetz ausgeht, sagt er, daß La Boca seinen Stadtteilsender bekomme, sei sicher.

* Aus: junge Welt, 7. August 2010

Lesen Sie auch:

Einschnitt in die Macht der Medienmultis
In Argentinien steht das umstrittene Mediengesetz im Senat zur Abstimmung. Interview mit Carlos Gabetta. Das Gesetz wurde inzwischen beschlossen (9. Oktober 2009)
Mediendemokratie
Argentiniens Kongress beschließt Neuordnung der Radio- und Fernsehlandschaft. Widerstand der Konzerne (14. Oktober 2009)




Zurück zur Argentinien-Seite

Zur Medien-Seite

Zurück zur Homepage