Keine Absolution für Friedensdemonstranten
Straßburger Justiz nimmt sich Protestler zur Brust / Viel Arbeit für Richter und der Versuch, Recht zu bekommen
Von Jens Herrmann *
Einen Monat nach den Protesten gegen den NATO-Jubiläumsgipfel in Straßburg und Kehl sind noch immer acht Demonstranten in französischen Gefängnissen. Vier Franzosen und ein Demonstrant aus Berlin waren festgenommen worden, sitzen seither in Untersuchungshaft und mussten sich gestern vor der örtlichen Strafgericht verantworten.
Der junge Berliner war am Rande der Straßburger Demonstration gegen den Gipfel am 4. April festgenommen worden. Er hatte versucht, aus einem Polizeikessel zu entkommen. Nun wird ihm vorgeworfen, einen Polizisten verletzt zu haben. Drei der gestern angeklagten Franzosen waren am Vorabend der Demonstration vor einem Supermarkt festgenommen worden. Sie hatten Schwimmbrillen und Camping-Brennstoff gekauft. Die Polizei nahm sie daraufhin wegen »Besitz von explosiven Stoffen« fest. Der Staatsanwalt forderte für die Delinquenten Strafen zwischen zehn und zwölf Monaten. Der fünfte Angeklagte wurde auf dem Rückweg von der Demonstration durchsucht. Die Polizei fand bei ihm eine Sonnenbrille, eine Mütze sowie ein Schweizer Messer, wofür die Staatsanwalt nun drei Monate auf Bewährung und 300 € Strafe fordert. Das Urteil soll am 25. Juni ergehen.
Die Solidaritätsgruppe »Break Ou« und das Straßburger Rechtshilfebündnis befürchtet, dass Angeklagte als Sündenböcke für den massiven Protest gegen den NATO-Gipfel exemplarisch verurteilt werden. Die unmittelbar nach den Protesten in Schnellverfahren ergangenen Urteile würden diese Absicht der Justiz belegen. In kurzen Prozessen seien hohe Strafen verhängt worden. Zwei Zugeführten aus Berlin und Dresden wurden sechs Monate Haft ohne Bewährung und fünf Jahren Einreiseverbot nach Frankreich zuerkannt. Sie sollen bereits am 2. April gegen Polizisten vorgegangen sein, als die Demonstranten nach einer Anti-Repressionsdemonstration stundenlang durch die Stadt trieben. Ein weiterer Deutscher wurde zu drei Monaten Bewährungsstrafe verurteilt. Zudem verurteilten Richter fünf Demonstranten in Schnellverfahren zu Strafen zwischen drei Monaten auf Bewährung und sechs Monaten Haft. Einer wurde freigesprochen. Noch keinen Prozesstermin gibt es für zwei Demonstranten aus Rostock, die in Untersuchungshaft sitzen. Auch sie wurden an der Europabrücke festgenommen.
Bei einer Protest-Fax-Aktion sowie einem Picknick mit rund 100 Solidarischen vor dem Gerichtsgebäude wurden gestern Freisprüche für alle Angeklagten des NATO-Gipfels gefordert. Unterdessen gibt es Anzeigen von Friedensaktivisten gegen die französische Polizei und deren brutales Vorgehen. Deutsche Demonstranten legten erfolgreich Widerspruch gegen Ausreiseverbote ein, die ihnen von der deutschen Polizei erteilt wurden.
Anna Luczak vom anwaltlichen Notdienst berichtet von mehr als 100 Anträgen, die beim Stuttgarter Verwaltungsgericht eingegangen seien. 50 Verfügungen wurden in Eilverfahren noch am 4. und 5. April verhandelt und allesamt für unwirksam erklärt. Auch in Berufungsverfahren vor dem Verwaltungsgericht sei die Praxis der Bundespolizei, den Betroffenen die Ausreise aufgrund einer Eintragung in der Polizeisammeldatei »INPOL« zu verweigern, für rechtswidrig erklärt worden.
Im Gegensatz zu den 464 Festnahmen auf französischer Seite kam es auf deutscher Seite während des Gipfels nur zu zehn Festnahmen. Die Staatsanwaltschaft Offenburg bestätigte, bisher zehn Verfahren wegen kleinerer Delikte eingeleitet zu haben.
* Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2009
Kriminalisierung der Proteste
Frankreichs Rechtsregierung macht gegen Links mobil
Von Ralf Klingsieck, Paris **
Die Bilder von den schwarz vermummten Jugendlichen, die am Rande der Proteste gegen den
NATO-Gipfel in Straßburg einige Häuser verwüstet haben, müssen auf Innenministerin Alliot-Marie
inspirierend gewirkt haben. Am Tag danach trat sie mit einem neuen Projekt für die Verschärfung
der Repressionen gegen jegliche Form von Protesten vor die Medien: Ein gesetzliches
»Vermummungsverbot« müsse her. Dabei beruft sich die Ministerin ausdrücklich auf die Praxis in
Deutschland, die »vorbildlich« sei.
Doch vermummte Jugendliche, die bei solchen Gelegenheiten Scheiben einschlagen, Geschäfte
plündern oder Autos anzünden, sind eine traditionelle Erscheinung in Frankreich. Dahinter stecken
weniger politische Motive als vielmehr angestauter Frust oder schlichte Lust an der Gewalt. Mit
diesen Jugendlichen sind bisher die Ordnungsdienste der Gewerkschaften oder der linken Parteien,
die die Demonstrationen organisiert haben, ganz gut fertig geworden. Die Polizei hielt sich dabei
meist zurück. Das soll nun anders werden, denn Präsident Sarkozy und seine Innenministerin haben
den Kampf gegen die »anarcho-autonome Ultralinke« zur Priorität erklärt.
Unter diese diffuse, aber hochpolitische Etikettierung fällt vieles, was bisher bestenfalls eine
»Ordnungswidrigkeit« war. Dabei scheuen sich Polizei, Justiz und der Inlandsgeheimdienst DCRI
nicht, krude Verbindungen zum Terrorismus herzustellen, weil sich damit vieles rechtfertigen lässt.
Wenn etwa »Vermummungen« verboten sind, wird die Erfassung von Protestierern, die von der
Polizei systematisch gefilmt und fotografiert werden, effizienter. Davon betroffen sind nicht nur
Teilnehmer von politischen Demonstrationen oder Aktionen, sondern auch Streikposten oder gar
Besucher von Sport- und anderen Massenveranstaltungen, die eventuell »aus dem Ruder laufen«
könnten. Schnell kann so jeder in einer oder mehreren der gut drei Dutzend Personendatenbanken
der Polizei, der Justiz und des Inlandsgeheimdienstes landen. Und das Beispiel macht auch in der
Privatwirtschaft Schule. So wurde kürzlich aufgedeckt, dass der Elektrokonzern EDF
Atomkraftgegner ausspionieren ließ.
Julien Coupat, »Chef und Ideologe« einer von der Innenministerin als »anarcho-autonom und
ultralinks« eingestuften Kommune, die für eine Serie mysteriöser Anschläge auf
Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecken verantwortlich gemacht wurde, sitzt noch heute im Gefängnis.
Dabei konnten Polizei und Militär nach einem handstreichartigen Angriff auf den Wohnsitz der
Gruppe im Dorf Tarnac nichts Belastendes finden. Und Coupats Akte ist nach Auskunft der Anwälte
»praktisch leer« – trotz monatelanger Beschattung wegen eines FBI-Hinweises, er habe an einer
Demonstration in New York teilgenommen, bei der Unbekannte einen selbst gebastelten
Sprengkörper gegen ein Rekrutierungsbüro der Armee schleuderten, aber kaum Schaden
angerichtet haben. Doch auch viele Taten jugendlicher Kleinkrimineller werden heute von der Polizei
mit oft haarsträubenden Argumentationen zu politischen Aktionen oder gar Terroranschlägen
»hochstilisiert«, warnt die Gewerkschaft der Anwälte.
In dieses um sich greifende Klima von Unterstellungen, Verdächtigungen und Kriminalisierung passt,
dass Sarkozy, als er noch Innenminister war, ernsthaft erwogen hat, »verhaltensauffällige« Kinder
vom dritten Lebensjahr an erfassen, beobachten und regelmäßig analysieren zu lassen, um schon
früh »asoziale und kriminelle Anlagen« aufzudecken und entsprechend aktiv zu werden. Ein Sturm
der Entrüstung veranlasste ihn seinerzeit, das Projekt in der Schublade verschwinden zu lassen.
Doch da wartet es sicher nur auf einen passenden Augenblick, um wieder hervorgeholt zu werden.
* Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2009
Legal Team zählt 1700 Polizeiübergriffe
Vorläufige Bilanz der Repression während des NATO-Gipfels in Strasbourg. Debatte im Bundestagsinnenausschuß
Von Frank Brendle ***
Im Innenausschuß des Bundestages wird heute über die Gewaltausbrüche beim NATO-Gipfel in Strasbourg Anfang April diskutiert. Nachdem die Linksfraktion bereits unmittelbar nach dem Gipfel gefordert hatte, die Beteiligung der deutschen Behörden an der Repression gegen Kriegsgegner aufzuklären, hat die FDP kurz vor Sitzungsbeginn noch das Thema »Teilnahme deutscher militanter NATO-Gegner an den Ausschreitungen« auf die Tagesordnung setzen lassen.
Für die Meldungen des Legal Teams und des Medical Teams wird sich die FDP wohl nicht interessieren: Diese haben am Montag in Strasbourg eine erste Bilanz der Polizeigewalt vorgestellt. Man habe bislang über 1700 Meldungen von Demonstrationsteilnehmern erhalten. Die meisten davon betreffen Schikanen der französischen Polizei bei Identitätskontrollen, beim Eindringen von Zivilkräften in das Camp der Gipfelgegner und während der Protestaktionen. Noch am 5. April, als die Proteste schon beendet waren, hätten Polizisten Checkpoints errichtet und Flugblätter, Fahnen, aber auch Fotoapparate und Kameras beschlagnahmt. Insgesamt seien 464 Festnahmen bestätigt worden. Die tatsächliche Anzahl derjenigen, die in Polizeigewahrsam gerieten, sei jedoch »unmöglich zu bestimmen«. Zudem habe die Polizei die rechtlichen Vorschriften nicht respektiert. Die Zahlen seien als vorläufig zu betrachten, weil immer noch täglich neue Meldungen einträfen, teilte das Legal Team mit.
Das Medical Team hat während der Großdemonstration am 4. April »rund eintausend« Menschen behandelt. Etliche davon hätten Erschöpfungs- und Austrocknungssymptome gezeigt, andere seien in Panik geraten oder hätten einen Schock erlitten. Auch Atemwegsbeschwerden in Zusammenhang mit Tränengas verzeichnete das Team, ebenso wie Hämatome und offene Wunden. Zurückzuführen seien diese auf den Beschuß mit Gas- und Schallgranaten. Diese sind, wie Videos im Internet zeigen, von der Polizei in Brusthöhe auf Demonstranten gefeuert worden.
Die Repression ist noch nicht zu Ende: Am Dienstag nachmittag standen in Strasbourg drei französische und ein deutscher NATO-Gegner vor Gericht. Den drei Franzosen wird wegen des Einkaufs von Alkohol, Benzin und Handschuhen vorgeworfen, sie hätten Brandsätze anfertigen wollen, der Deutsche soll bei seiner Festnahme einem Polizisten den Daumen gebrochen haben.
*** Aus: junge Welt, 6. Mai 2009
Otan: prison ferme requise contre trois Français et un Allemand
Des peines de 6 mois à 12 mois ferme ont été requises mardi contre un
Allemand, pour jets de pierres, et trois Français, originaires de Tours,
poursuivis pour détention de substances incendiaires devant le tribunal
correctionnel de Strasbourg. Le jugement des quatre autres prévenus était attendu en soirée. Les trois Tourangeaux âgés de 19, 23 et 26 ans avaient été interpellés le 3 avril, à la veille de la manifestation anti-Otan, sur le parking d'un supermarché d'Illkirch, dans la banlieue de Strasbourg, où ils avaient acheté deux bouteilles de pétrole et deux bouteilles d'alcools à brûler. Ils avaient été dénoncé par des vigiles du magasin.
Pour la représentante du parquet, Lucile Regin, ce sont des achats qui ne sont pas anodins car ils entrent dans la fabrication d'un cocktail molotov. Elle a rappelé que durant le week-end des cocktails molotov avaient été lancés contre les forces de lordre. Elle a toutefois reconnu que les trois prévenus n'étaient pas jugés pour avoir lancé et fabriqués des bouteilles incendiaires.
A la barre, les trois jeunes qui avaient campé dans le village autogéré
ont dit avoir fait ces achats pour du nettoyage, pour allumer des braseros pour un concert et pour narguer les hélicoptères de la police qui survolaient périodiquement le camp.
L'Allemand âgé de 29 ans, cuisinier de profession, est poursuivi pour
avoir lancé des pierres en direction de deux policiers, dont l'un s'était cassé le poignet au moment de son interpellation. Ce Berlinois d'origine a nié les faits à la barre disant quil était venu en bus pour manifester. Son avocat, Me Eric Lefebvre, a stigmatisé les incohérences des agents. Je ne voudrais pas que l'on sacrifie dans un souci de paix publique la liberté de mes clients, a-t-il plaidé.
Mardi matin, une peine de 3 mois de prison avec sursis et ont été requis à l'encontre d'un Toulousain de 44 ans qui comparaissait libre pour port d'un couteau suisse de 6 cm.
AFP
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