Völkerrecht auf deutsch
Bundesverfassungsgericht: Kein Schadenersatz und kein Schmerzensgeld für die Opfer des NATO-Angriffs auf Zivilisten im serbischen Varvarin im Mai 1999
Von Uli Schwemin *
Kennen Sie das Völkerrecht? Zugegeben – eine komplexe Frage. International unstrittig ist, daß seine wichtigste Quelle die Charta der Vereinten Nationen und das darin festgelegte Gewaltverbot ist. Ob diese Tatsache und vor allem die daraus resultierenden Schlußfolgerungen auch dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bekannt sind, darf seit Dienstag bezweifelt werden.
Der Reihe nach: SPD-Altkanzler Gerhard Schröder und sein grüner Außenminister Joseph Fischer haben 1999 das für die deutsche Nachkriegspolitik elementarste Tabu gebrochen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Sie warfen sich ins Zeug für den von der NATO ohne UN-Mandat, also gegen das Gewaltverbot der UN-Charta vom Zaun gebrochenen Angriff gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, der als »Kosovo-Krieg« in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat. Konkret ging es damals darum, der Terrororganisation UCK militärische Unterstützung für eine Loslösung der mehrheitlich von albanischer Bevölkerung bewohnten Provinz Kosovo vom Staatsgebiet Jugoslawiens zu geben und das Land damit entscheidend zu schwächen. Vorwand für das NATO-Eingreifen war der angebliche Schutz der Zivilbevölkerung des Kosovo. In Wirklichkeit flüchteten Hunderttausende Menschen aus der Provinz gerade vor den Folgen des NATO-Krieges. Zweieinhalb Monate dauerten die massiven Luftschläge des Angriffspaktes gegen jugoslawische Städte, Industrieanlagen, Regierungsgebäude und Infrastruktur. Laut Schätzungen wurden 3500 Menschen getötet und 10000 verletzt.
Zehn Menschen starben am 30. Mai 1999 während eines Volksfestes in der serbischen Kleinstadt Varvarin, als die NATO mit vier Raketen die Brücke über den Fluß Morava zerstörte, 30 weitere wurden verletzt, 17 von ihnen schwer. Kampfjets der Bundeswehr sollen an diesem Angriff nicht beteiligt gewesen sein, befanden sich jedoch ebenfalls im Einsatz.
Überlebende des Angriffs bzw. Angehörige der Todesopfer von Varvarin hatten nach dem Krieg die Bundesregierung vor deutschen Gerichten verklagt und Schmerzensgeld und Schadenersatz verlangt. Vergeblich. Bis hinauf zum Bundesgerichtshof im Jahre 2006 wurden die Klagen von allen Instanzen abgewiesen. Das Landgericht Bonn verhöhnte die Kläger darüber hinaus mit der Aufforderung, unter Androhung einer Zwangsvollstreckung rund 16000 Euro Gerichtskosten an die Bundesrepublik Deutschland zu zahlen.
Einige der Kläger legten 2007 vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen das letztinstanzliche Urteil ein. Nun hat Karlsruhe am Dienstag nach sechs Jahren (!) intensiver Beratung bekanntgegeben, daß die Beschwerden »wegen der Tötung und Verletzung von Zivilpersonen bei der Zerstörung einer Brücke im Kosovo-Krieg mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen« würden. Es gebe keine allgemeine Regel, »nach der dem einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf Schadenersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat zusteht«. Eine Haftung käme nur in Betracht, wenn »deutsche Amtsträger« von den konkreten Umständen des Angriffs Kenntnis gehabt hätten. In NATO-Kriegen, völkerrechtswidrig oder nicht, würden jedoch Informationen jeweils nur den »unmittelbar mit der Operation befaßten Streitkräften« zugänglich gemacht.Die Bundeswehr aber hatte an diesem Tag zufällig andere Brücken zerbombt. So einfach und so zynisch ist die Auslegung des Völkerrechts – jedenfalls auf deutsch.
Link zum
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. September 2013
Dokumentiert: Die Pressemitteilung Nr. 55/2013 vom 3. September 2013 zum Urteil des Gerichts
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Beschluss vom 13. August 2013
2 BvR 2660/06
2 BvR 487/07
Keine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland
wegen ziviler Opfer eines NATO-Luftangriffs im Kosovo-Krieg
Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat
Verfassungsbeschwerden wegen der Tötung und Verletzung von Zivilpersonen
bei der Zerstörung einer Brücke im Kosovo-Krieg mangels Erfolgsaussicht
nicht zur Entscheidung angenommen. Die Fachgerichte - zuletzt der
Bundesgerichtshof - hatten diesbezügliche Klagen gegen die
Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz und Schmerzensgeld
abgewiesen; diese Entscheidungen haben im Ergebnis Bestand.
Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Während der Luftoperation „Allied Force“ griffen zwei Kampfflugzeuge
der NATO am 30. Mai 1999 in der serbischen Stadt Varvarin eine Brücke
über den Fluss Morawa an und zerstörten sie durch den Beschuss mit
insgesamt vier Raketen. Infolge dieses Angriffs wurden zehn Menschen
getötet und 30 verletzt, 17 davon schwer, wobei es sich durchweg um
Zivilpersonen handelte. Flugzeuge der Bundesrepublik Deutschland waren
an der Zerstörung der Brücke nicht unmittelbar beteiligt, befanden sich
jedoch am Tag des Angriffs im Einsatz. Ob und inwieweit die eingesetzten
deutschen Aufklärungsflugzeuge auch den Angriff auf die Brücke von
Varvarin abgesichert haben, ist zwischen den Beschwerdeführern und der
Bundesrepublik Deutschland im fachgerichtlichen Verfahren streitig
geblieben.
2. Die Beschwerdeführer nehmen die Bundesrepublik Deutschland auf
Schadensersatz und auf Schmerzensgeld wegen der Tötung ihrer Angehörigen
bzw. ihrer eigenen Verletzungen in Anspruch. Vor den Zivilgerichten
blieben die Klagen in allen Instanzen erfolglos. Hiergegen wenden sich
die Beschwerdeführer mit ihren Verfassungsbeschwerden.
3. Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen,
weil die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.
a) Die Verfassungsbeschwerden sind jedenfalls unbegründet, soweit
völkerrechtliche Ansprüche betroffen sind.
Mit der Verfassungsbeschwerde kann zwar grundsätzlich geltend gemacht
werden, dass zivilgerichtliche Urteile nicht zur verfassungsmäßigen
Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG gehörten, weil sie sich über
völkergewohnheitsrechtliche Regeln hinweggesetzt hätten. Es gibt jedoch
keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der dem Einzelnen bei
Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf
Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat
zusteht. Derartige Ansprüche stehen grundsätzlich nur dem Heimatstaat
des Geschädigten zu oder sind von diesem geltend zu machen. Art. 3 des
IV. Haager Abkommens und Art. 91 des Protokolls I begründen keine
unmittelbaren individuellen Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche
bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, weshalb offenbleiben
kann, ob diese Vorschriften völkergewohnheitsrechtliche Geltung erlangt
haben.
Die Beschwerdeführer sind auch nicht in ihrem grundrechtsgleichen Recht
auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Eine
Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG an das Bundesverfassungsgericht ist zwar
geboten, wenn das erkennende Gericht bei der Prüfung der Frage, ob und
mit welcher Tragweite eine allgemeine Regel des Völkerrechts gilt, auf
ernstzunehmende Zweifel stößt, mag das Gericht selbst auch keine Zweifel
haben. Unzweifelhaft besteht jedoch keine allgemeine Regel des
Völkerrechts dergestalt, dass Individuen bei Verstößen gegen das
humanitäre Völkerrecht einen unmittelbaren Anspruch auf Schadensersatz
und Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat haben. Eine Vorlage
an das Bundesverfassungsgericht war daher nicht geboten; sie wäre sogar
unzulässig gewesen.
b) Soweit Grundrechtsverletzungen wegen der Ablehnung von
Amtshaftungsansprüchen geltend gemacht werden, ist deutlich abzusehen,
dass die Beschwerdeführer auch nach einer Zurückverweisung an die
Fachgerichte im Ergebnis keinen Erfolg hätten. Zwar bestehen
verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Entscheidungen des
Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs, soweit sie der
Bundesregierung einen Beurteilungsspielraum bei der Auswahl
militärischer Ziele zubilligen und eine uneingeschränkte Darlegungs- und
Beweislast der Beschwerdeführer für den subjektiven Haftungstatbestand
annehmen.
In der Sache kann jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass auf der
Stufe der als amtspflichtwidrig gerügten Maßnahme - der
widerspruchslosen Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielliste -
noch keine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des
konkreten Angriffs auf die Brücke getroffen wurde und auch nicht
getroffen werden konnte. Demgemäß galt für die Erstellung der Ziellisten
von vornherein ein anderer Sorgfaltsmaßstab als für die konkrete
Einsatzentscheidung. Nach dem Sach- und Streitstand spricht alles dafür,
dass sich dieser Sorgfaltsmaßstab im Ergebnis nicht von demjenigen
unterscheidet, den Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof entwickelt
haben.
Auch kann ein den Beschwerdeführern günstigeres Ergebnis wohl für den
Fall ausgeschlossen werden, dass das nach Zurückverweisung mit der Sache
befasste Gericht der beklagten Bundesrepublik Deutschland eine sekundäre Darlegungslast auferlegt. Denn eine Haftung kommt nur in Betracht, wenn deutsche Amtsträger von den konkreten Umständen des Angriffs Kenntnis gehabt hätten. Diese Kenntnis hat die Bundesrepublik Deutschland unter Hinweis auf die „need-to-know-Regel“ widerlegt, nach der es militärischer Praxis bei NATO-Operationen entspricht, dass nur die unmittelbar mit der Operation befassten Streitkräfte die für den Einsatz notwendigen Informationen erhalten. Es ist nicht ersichtlich, was die Bundesrepublik Deutschland weiter hätte vortragen sollen oder können, um ihre fehlende Kenntnis darzulegen oder den Beschwerdeführern
sachgerechten Vortrag zu ermöglichen.
Quelle: Website des BVerfG; http://www.bundesverfassungsgericht.de
Über Varvarin haben wir mehrmals berichtet:
Weitere Beiträge zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien
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