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Kleiner Teich mit Krokodilen?

Neue Bühne Senftenberg: "Die Brücke von Varvarin" – bewegende Dokumentation zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien

Von Hans-Dieter Schütt *

Seinen jüngsten Roman nannte Peter Handke »Die morawische Nacht«; und das Buch, das ihn 1996 dem Bannfluch westlich-medialer Generalstäbe von »Le Figaro« bis FAZ auslieferte, hieß: »Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien«. Die Morawa. Handke bezeichnet sie als »viel-, wohl gar zu vielbesungenen, sicher auch durch die Türken- und Balkankriege in eine Symbolrolle gedrängten, in ein Symbolbett gezwängten, jetzt freilich bloß herbstgemäß wasserarmen, steinköpfigen Fluss«.

Herbstgemäß ist nunmehr nichts, es ist Mai, der 30. Tag des Monats, 1999, und der Fluss führt reißendes Wasser. An diesem Tag sterben zehn Menschen, am Markttag im serbischen Dorf Varvarin, zwei NATO-Flugzeuge hatten die Brücke bombardiert. Einer jener »Kollateralschäden« im Krieg gegen Jugoslawien. Vielleicht ging ein Schulterzucken des Bedauerns durch den in anstrengender humanitärer Hilfe so gestressten Körper des Westens. So ganz anders gestresst: die unschuldigen Körper auf, bei der Brücke: nicht mehr erkennbar, diese Einst-Körper, merkwürdig verdreht in die dem Leben entgegengesetzte Richtung. Da ging eine Friedensmission nicht über Leichen, nein, sie produzierte welche.

»Die Brücke von Varvarin« an der Neuen Bühne Senftenberg: eine szenische Dokumentation nach einer Idee und einem Text von Hans Wallow, Inszenierung: Sewan Latchinian, Ausstattung: Tobias Wartenberg. Das Schicksal dreier Mädchen, die zum Zeitpunkt der Bombardierung auf der Brücke waren, ist verbunden mit Aussagen von Politikern, Journalisten, Militärs – erkundet wird die listig-lügnerische Argumentationskette, die, hinter verschlossenen Türen kalt und kernig, einen völkerrechtswidrigen Krieg rechtfertigte und alles Serbische ins eindeutig Verrucht, Verbrecherische trieb.

Was auf der Seite der Supermächte stattfand, so hatte Handke in seinem weiteren Jugoslawien-Buch »Unter Tränen fragend« geschrieben, war »eine Art Parallelbeschuß mit Wörtern und Bildern, die ›Information‹ bloß vortäuschen, aber umso besser, in jeder Hinsicht, verkaufen.« Dieser propagandistische »Mit-Krieg gegen Jugoslawien« bombardierte lesende, TV-gläubige Gemüter mit einem Serben-Bild, das war »Massaker, Genozid, ethnische Säuberung, Massenvergewaltigung, Soldateska, Schlächter, dazu die Großaufnahmen von ›Händen an Stacheldraht‹ (auch ohne Stacheln), ›Träne an Wimper‹, ›Greisin mit brechendem Auge‹ ... was sind das für Wahrheiten, die vor allem aus Großaufnahmen und Zuschlag-Wörtern bestehen?«

Die Bühne zeigt eine Konferenzanordnung, drei nach hinten ansteigende Tischreihen, zehn Schauspieler zitieren und verkörpern, sind Chor oder, unterm Zusatz nur weniger Requisiten und sparsamer spielerischer Zugaben, doch markante Einzelne. Sitzen vor einer kleinen Videoleinwand, auf der NATO-Sprecher Jamie Shea blasiert phrasiert und der deutsche Verteidigungsminister Scharping, mit belegter Zunge und Seele, der Presse Fotos eines Massakers der Serben an Zivilisten in Rugovo präsentiert, das sich aber als bitter blutiges Ende einer »Gefechtssituation« herausstellt.

Es geht der Dokumentation und der Inszenierung nicht um die Bagatellisierung eines unerträglichen Tötens (was macht es für einen Unterschied, ob ein Mensch im Gefecht oder beim Massaker stirbt!), aber sehr wohl steht die Perfidie einer Deutungsdiktatur zur Debatte, die mit den Anreizen von Mitleid und humaner Militärhilfe nackte politisch-ökonomische Interessen vertuscht. Noch einmal Handke: »Der Krieg gegen Jugoslawien: geführt nicht nur mit Splitterbomben und Raketen, sondern vor allem mit ›Kontext‹ und ›Idee‹. Das Zeitalter der Information ist vorbei.«

Gegeben wird, in fordernder Absicht, intensives politisches Theater, das in seinem bescheidenen Ausgriff doch in der Tradition von Kipphardt, Enzensberger, Weiss' »Ermittlung« und anderen dokumentaren Formen steht – Ausdruck wohl einer im Geist jetziger Zeit zerrenden Sehnsucht nach Erkennen, nach einem wieder etwas sicheren Stand in den dunklen, wabernden Zusammenhängen. Theater erneut als aufklärerischer Medienersatz? Zumindest eine Beihilfe zur Wachsamkeit im Rausch der Diskurse.

Latchinian hat ein kluges Gespür für szenische Enthaltsamkeit, wo die Analysen und Kommentare und Berichte ihre Eindringlichkeit selber mitbringen; und ebenso sicher weiß er zu inszenieren (sei es in ironischer oder bitter anklagender oder ohnmächtig trauriger Weise), wo das Dokument eine solche Ausdruckssteigerung verträgt – ohne um seine »natürliche« Beweiskraft betrogen zu werden.

Man möchte allen Schauspielern danken: dem schneidigen, disziplinarisch eingepressten Roland Kurzweg als deutschem Major, der im nichtöffentlichen Verteidigungsausschuss »Sachstandsdarstellungen« eines psychisch und physisch überforderten Tornado-Piloten zu Protokoll gibt; Bernd Färber als Joschka Fischer am Rednerpult von Bielefeld, leichtest karikierend nachempfunden, am Ohr der rote Farbbeutelfleck, im Gestus die sich windende Wichtigkeit – auf der anderen Seite der Bühne, simultan geschaltet, Wolfgang Schmitz als quasi gehetzter Fischer im Jogging-Anorak, der aus seinem Buch über Rot-Grün zitiert; rechts also der selbstlose, lastgeplagte Friedensemphatiker, links der bibbernde Technokrat des Machterhalts im Platz-an-der-Sonne-Schatten des »eisenharten« Kanzlers Schröder; Heinz Klevenow als jugoslawischer Veteran des Zweiten Weltkrieges, der die gegenwärtige serbische Demütigung und den Tod von Varvarin mit einer traurigen Geschichte ins vorige Jahrhundert hinein verlängert; Till Demuth, Alexander Wulke als bohrend sachliche Insider, Berichterstatter, Militärexperten.

Catharina Struwe spielt mit einem Ernst, der alles Kommende wie eine frühe Ahnung in sich birgt, die Mutter der Sanja Milenkovic, jenes Mädchens im Zentrum der Recherche, Schülerin auf dem mathematischen Gymnasium in Belgrad, die just wegen des Krieges von ihren Eltern nach Varvarin zurückgeholt wird – und die auf der Brücke zerbombt wird. Ihre beiden Freundinnen überleben, auf Dauer verstümmelt. Inga Wolff als Sanja (sprudelndes Gemüt, von kecker Grazie, kokett naiv) sowie Carolin Chyla (schön scheu) und Juschka Spitzer (romantisch) als Freundinnen machen aus einem Tisch einen Uferpromenadensitz, singen einen serbischen Hit in die Cam-Camera eines Laptops. Jugend. Tauchen dann still in die Unterbühne: leiser Abgang zum mörderischen Tod.

Eine strategisch bedeutungslose Brücke, die einst als Wiedergutmachung von den Russen in Deutschland demontiert und nach Varvarin gebracht wurde. Funkbefehle an Tornados, das Ziel zu zerstören, auch wenn es sich nicht um Panzer, sondern um Traktoren handelt. Gelogene Bilder aus einem angeblichen, von Serben betriebenen KZ. Die Enthüllung des eigentlichen Kriegsziels: Jugoslawien als »letztes NATO-resistentes Balkanland« zu zerstören. Die Abfuhr für 35 ehemalige Jugoslawen, die Deutschland vor dem Bundesgerichtshof verklagt hatten ... Die Dichte der Dokumente wirkt.

Zusammengestellt und recherchiert, mit der Leidensgeschichte der Sanja, ja: verlebendigt hat das alles Hans Wallow. Als SPD-Mitglied und Bundestagsabgeordneter (der wegen des Krieges die Partei verließ) enthielt er sich beim Beschluss des Militäreinsatzes, im Oktober 1999, der Stimme. Warum kein »Nein«?, hat ihn Peter Handke vor geraumer Zeit gefragt. »Ich kannte wie vieler meiner Kolleginnen und Kollegen die Wahrheit nicht. Nicht einmal die Fakten der Akten. Für jene Parlamentarier, die nicht zu den Osteuropaexperten gehörten, war der Balkan im Weltmaßstab ein kleiner Teich mit vielen Krokodilen drin. Die meisten, auch diejenigen, die dem Militäreinsatz im Kosovo zugestimmt haben, hatten lautere Motive.«

Nun hat Wallow in Senftenberg nachholend Klarheiten vorgelegt. Man weiß nach diesen schmucklos gewichtigen, beeindruckenden 100 Minuten in Senftenberg, worauf es in politischer Information wirklich ankommt: Maßstab ist, wie pfeilgenau wir zwischen der Scylla des Trivialen und der Charybdis des Abseitigen den warnenden Welt-Gesang der Sirenen zu empfangen noch in der Lage sind. Wenn im unkontrollierten Fluss aller Informationen oder dessen, was man dafür halten soll, nur die gute Nachricht von der ungebremsten Vitalität der westlichen Welt stecken darf, so wäre diese Vitalität das schwerste Leiden einer angeblich mündigen Bürgerschaft.

Man hört in Senftenberg von Aufstörung in örtlichen SPD-Aufsichtszimmern. Gute Nachricht: Die Freiheit der Kunst belästigt. Theater schlägt eine Brücke ins Ungesicherte, Unbequeme, Belästigende. Wer diese Brücke zerstört, um in Frieden gelassen zu werden, führt Krieg gegen sich selbst.

* Aus: Neues Deutschland, 7. April 2009


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