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NATO-Krieg gegen Jugoslawien: Opfer erheben Klage gegen die Bundesregierung

Bombardierung der Brücke von Varvarin - 10 Tote, 30 Verletzte - Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe

Am Freitag, den 29. Juni 2001 soll, wenn es nach dem Willen des serbischen Ministerpräsidenten Djindjic und seiner Verbündeten in Washington, Berlin, London usw. geht, der "größte Kriegsverbrecher seit dem Zweiten Weltkrieg", der frühere jugoslawische Präsident Milosevic, an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert werden. Da trifft es sich gut, dass am selben Tag in Berlin die Bundestagsfraktion der PDS zu einem Hearing eingeladen hat, in dem fünf Angehörige von Opfern eines der zahllosen Bombenangriffe auf Jugoslawien während des NATO-Kriegs vor zwei Jahren aussagen werden. Die Rede ist vom Angriff auf die Brücke von Varvarin. Auf diese Weise kann zwar nicht dem in der Öffentlichkeit massiv verbreiteten falschen Eindruck entgegengetreten werden, auf dem Balkan gäbe es nur serbische Kriegsverbrecher, aber stören wird das die Kreise der Bundesregierung doch. Sie muss wissen, dass sie mit ihren lautstarken Anklagen gegen Milosevic nicht ganz von ihren eigenen schändlichen Taten ablenken kann: Der NATO-Krieg war völkerrechtswidrig, die Kriegführung selbst verstieß eklatant gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Die Verantwortlichen hierfür müssten also genauso zur Rechenschaft gezogen werden wie die albanischen UCK-Kämpfer und die serbischen Soldaten und Politiker, die in ihrem Kampf gegen die Sezessionisten gegen Völker- und Menschenrecht verstoßen haben.

Im Folgenden dokumentieren wir wesentliche Teile einer Anklageschrift, die der Berliner Rechtsanwalt Ulrich Dost in Vertretung von insgesamt 25 Bürgerinnen und Bürgern bzw. Familien aus Varvarin, die bei dem oben erwähnten Bombenangriff Opfer zu beklagen haben oder selbst verwundet wurden, gegen die Bundesregierung eingereicht hat. Insbesondere die ausgefeilte juristische Begründung der Klage ist eine hervorragende Abhandlung über das humanitäre Kriegsvölkerrecht und wie es von der NATO mit Füßen getreten wurde.

Die vollständige Anklageschrift und weitere Informationen zum Verfahren entnehmen Sie bitte der Homepage NATO-Tribunal.de.



Regierung der Bundesrepublik Deutschland
Bundeskanzleramt
Herrn Bundeskanzler
Gerhard Schröder
Willy-Brandt-Str. 1
10557 Berlin

Betrifft: Bombardierung der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte in der Bundesrepublik Jugoslawien durch die NATO Staaten,
hier: Bombardierung der Brücke von Varvarin am 30. Mai 1999 - Schadenersatzforderungen der Opfer gegen die Bundesrepublik Deutschland

Herr Bundeskanzler,

unter Überreichung beiliegender beglaubigter Vollmachtskopien geben wir Ihnen die Vertretung der Rechtsinteressen folgender Staatsbürger der Bundesrepublik Jugoslawien gegen die Bundesrepublik Deutschland bekannt:

1. Die Eheleute Frau Vesna ( geb. Randjelovic) und Herr Zoran Milenkovic, Eltern und Erben der durch die Bombardierung im Alter von 15 Jahren getöteten Sanja Milenkovic;

(Es folgen 24 weitere Personen, die Klage erheben).

1. Sachverhalt

Am Sonntag, den 30. Mai 1999 flogen Kampfflugzeuge der NATO-Staaten einen "Kampfeinsatz" in der serbischen Kleinstadt Varvarin. Dabei wurden 10 Menschen getötet, über 30 Personen verletzt sowie eine Brücke zerstört.

Auf einer Pressekonferenz am 31. Mai 1999 in Brüssel haben die NATO Staaten den Bombardierungsfall eingestanden. Der damalige Pressesprecher der NATO, Jamie Shea, äußerte dazu auf Befragen vor den Journalisten, es habe sich hierbei um ein "legitimes militärisches Ziel" gehandelt.

Diese Behauptung des Pressesprechers ist eine Lüge zur Verschleierung eines Kriegsverbrechens. Der Angriff richtete sich nicht gegen militärische Ziele, war nicht legitim und ist durch nichts zu rechtfertigen.

Die konkrete Ausführung des "Kampfeinsatzes", das zum Beschuß ausgewählte Zielobjekt, die örtlichen Gegebenheiten, der Zeitpunkt und die Gesamtumstände belegen, daß der Angriff darauf ausgerichtet war, Personen der jugoslawischen Zivilbevölkerung zu töten und zu verletzen sowie zivile Objekte zu zerstören:

In einer 1. Angriffswelle flogen 2 Kampfflugzeuge der NATO zwischen 13:00 und 13:25 des 30. Mai 1999 bei klarer Sicht, wolkenlosem Himmel und Sonnenschein die über den Fluß Morava führende Brücke der Kleinstadt Varvarin an.

Die Brücke dient den ca. 4000 Einwohnern von Varvarin als direkter Zugang zur Stadt, die sich bis an das Ufer der Morava und somit bis zur Brücke erstreckt. Augenzeugen schätzen die Flughöhe der anfliegenden Kampfflugzeuge auf wenige 100 Meter. Die Maschinen feuerten zwei Raketen ohne jede Vorwarnung auf die Brücke ab. Die beiden detonierenden Raketen zerstörten die Brücke vollständig. Infolge der Raketentreffer wurde die Brücke vom Mittelpfeiler getrennt. Am Mittelpfeiler stürzte die Brücke stadtauswärts in den Fluß, während das Brückenende auf die höher liegende Uferböschung abrutschte, so daß das ca. 100 Meter lange Brückenteil letztlich mit einem starken Neigungswinkel Richtung Fluß zerstört in der Morava lag.

Bei diesem ersten Angriff verloren 3 Menschen ihr Leben, mindestens weitere fünf Personen wurden verletzt.

Obwohl die Brücke bereits zerstört war, kehrten die Kampfflugzeuge der NATO - nach den uns vorliegenden Zeugenaussagen ca. 3 bis 6 Minuten später - zur Brücke zurück und schossen in einer 2. Angriffswelle 2 weitere Raketen ab, die unter den inzwischen zur Brücke geeilten Hilfeleistenden weitere 7 Personen töteten und weitere 12 Personen schwer verletzten.

Zum Zeitpunkt der Bombardierung befanden sich ca. 3000 bis 3500 Menschen in unmittelbarer Nähe der Brücke. Eine Vielzahl dieser Menschen hielt sich auf dem Gelände der von der Brücke ca. 120 bis 150 Meter entfernten Kirche auf. Dort wurde das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit gefeiert, an dem jedes Jahr viele Gläubige aus Varvarin und Umgebung teilnehmen. Eine weitere große Menschenansammlung befand sich ca. 200 bis 250 Meter von der bombardierten Brücke entfernt, nämlich auf dem regelmäßig sonntags stattfindenden Markt von Varvarin, auf dem an diesem Tag der Betrieb von über 300 Marktständen durch die zuständige Amtsstelle des Rathauses genehmigt worden war. Folglich herrschte auf der Brücke zum Zeitpunkt der Bombardierung reger Verkehr. Zivilfahrzeuge, Fußgänger und Radfahrer überquerten stadteinwärts und stadtauswärts die Brücke.

Unter den dargestellten Gesamtumständen mußte den Verantwortlichen der NATO- Staaten schon vor dem ersten Angriff auf die Brücke klar sein, daß der Beschuß des ausgewählten Objekts aufgrund seines Standorts, der Lage, des Zeitpunkts und zivilen Nutzung zwangsläufig zu Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung führen würde. Gilt das bereits für den ersten Angriff auf die Brücke, gilt dies erst recht für den zweiten Angriff, bei dem die unbedingte, vorsätzliche und kriminelle Tötungsabsicht nicht zu übersehen ist.

Der gesamte Angriff war demnach darauf ausgerichtet, Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten. Nicht zuletzt wird dies auch dadurch belegt, daß in dem ca. 200 Kilometer nördlich vom Kosovo gelegenen Varvarin zu keinem Zeitpunkt Militär stationiert war und die Kleinstadt und somit auch nicht ihre Brücke von militärischen Transporten tangiert wurde, weshalb schon der Angriff und die Zerstörung der Brücke nicht gerechtfertigt war.

2. Getötete und schwer verletzte Personen

(In diesem Abschnitt werden die Todesursachen der Opfer sowie die Verwundungen und bleibenden Schäden der Verletzten detailliert geschildert.)

3. Rechtliche Würdigung

Der von den NATO Staaten zu verantwortende Luftangriff auf die Brücke von Varvarin am 30. Mai 1999 verletzte die für den bewaffneten Konflikt geltenden völkerrechtlichen Regeln (ius in bello) und zugleich das deutsche Recht.

Die völkerrechtlichen Regeln für den Fall eines internationalen bewaffneten Konfliktes gelten nach Völkergewohnheitsrecht unabhängig vom Grund und Anlaß des Konfliktes für alle am Konflikt beteiligten Parteien. Das wurde 1977 in der Präambel des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen (nachfolgend als ZP I bezeichnet) ausdrücklich festgestellt:

"Erneut bekräftigend, daß die Bestimmungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und dieses Protokolls unter allen Umständen uneingeschränkt auf alle durch diese Übereinkünfte geschützten Personen anzuwenden sind, und zwar ohne jede Benachteiligung, die auf Art oder Ursprung des bewaffneten Konflikts oder auf Beweggründen beruht, die von den am Konflikt beteiligten Parteien vertreten oder ihnen zugeschrieben werden."

Die Zerstörung der Brücke, die Tötung und Verwundung von Zivilpersonen sowie die Verursachung von Sachschäden an ihrem Eigentum wurden unter Verletzung des strikten Verbots von Agriffen auf die Zivilbevölkerung verursacht. Es gehört zu den ältesten und elementarsten Regeln des humanitären Völkerrechts, daß bei militärischen Aktionen zwischen militärischen Zielen und Kombattanten einerseits und zivilen Objekten und der Zivilbevölkerung andererseits zu unterscheiden ist und daß es verboten ist, die Zivilbevölkerung und zivile Objekte anzugreifen (Artikel 48 ZP I):

"Um Schonung und Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu gewährleisten ... (dürfen die am Konflikt beteiligten Parteien) Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten ".

Als militärische Ziele gelten gemäß Art. 52 des ZP I
"nur solche Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung , deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt."

Keines dieser Tatbestandsmerkmale zur Rechtfertigung einer Zerstörung trifft im Falle der Brücke von Varvarin zu. Die Brücke wurde in keiner Weise militärisch genutzt. Beschaffenheit, Standort, Zweckbestimmung und Verwendung der Brücke von Varvarin schließen ihren Beitrag zu militärischen Handlungen (der jugoslawischen Armee) aus.

Aber selbst bei hypothetischer Unterstellung einer Nutzung der Brücke von Varvarin zu militärischen Handlungen der jugoslawischen Armee war ihre Zerstörung durch die NATO Staaten zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht gerechtfertigt, weil das geforderte Tatbestandsmerkmal des "eindeutigen militärischen Vorteils " nicht vorlag.

Aber selbst dann noch, wenn man hypothetisch (zugunsten der NATO-Staaten) einen Beitrag der Brücke zu militärischen Handlungen und darüber hinaus das Vorliegen eines "eindeutigen militärischen Vorteils " unterstellen wollte, bleibt der Beschuß und die Zerstörung der Brücke dennoch rechtswidrig, weil die mit der Zerstörung der Brücke verbundenen Verluste unter der Zivilbevölkerung in keinem Verhältnis zu dem (hypothetisch unterstellten) unmittelbaren militärischen Vorteil standen. Art. 51 Abs. 5 b) ZP I enthält das strikte Verbot eines Angriffs durch Bombardierung,
" bei dem damit zu rechnen ist, daß er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen ".

Der Angriff auf die ausschließlich zivil genutzte Brücke in der serbischen Kleinstadt Varvarin, frei von militärischen Objekten und Truppenbewegungen, über 20 Kilometer entfernt vom nächstgelegenen militärischen Objekt, mehrere 100 Kilometer entfernt vom Kosovo und von militärischen Auseinandersetzungen, bombardiert zur Mittagszeit an einem kirchlichen Feiertag und Markttag, zu einem Zeitpunkt, zu dem sich mehrere 1000 Zivilpersonen im Bereich der beschossenen Brücke aufhielten, war daher nicht nur ein verbotener "unterschiedsloser Angriff " im Sinne des oben zitierten Artikel 51 Abs. 5b des ZP I, sondern insbesondere ein Angriff, der vorsätzlich darauf ausgerichtet war, Zivilpersonen zu töten und zu verwunden. Die Brücke diente lediglich als Gegenstand für Repressalien gegen die Zivilbevölkerung (Art. 52 Abs. 1 ZP I). Diese durch nichts zu rechtfertigende Tötungs- und Verwundungsabsicht, zu deren Umsetzung die Bombardierung der Brücke lediglich als Zweck und Schutzbehauptung diente, wird gerade auch durch die Kampfmethodik - die Methode der 2 Angriffswellen - bei der Ausführung der Bombardierungen exemplarisch belegt:

Die Kampfflugzeuge der NATO-Staaten griffen die Brücke ohne jede Vorwarnung und deshalb heimtückisch und hinterhältig an und zerstörten sie bereits vollständig in der 1. Angriffswelle. Damit begnügten sie sich nicht. Trotz der Zerstörung in der 1. Angriffswelle flogen sie wenige Minuten später einen 2. Angriff auf die bereits zerstörte Brücke, bei dem erwartungsgemäß Zivilpersonen getötet und verwundet werden würden. Erwartungsgemäß deshalb, weil es normal ist, daß Menschen nach einem Angriff zum Ort des Geschehens laufen, um Verletzten Hilfe zu leisten.

Auch die gewählte Kampfmethode als solche macht den Angriff zu einem verbotenen "unterschiedslosen Angriff " nach Art. 51 Abs. 4 b) und c) ZP I.

Danach sind Angriffe verboten,
" a) bei denen Kampfmethoden angewendet werden, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden,
b) Angriffe, bei denen Kampfmethoden ... angewendet werden , die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden können oder,
c) Angriffe, bei denen Kampfmethoden ... angewendet werden, deren Wirkungen nicht entsprechend den Vorschriften dieses Protokolls begrenzt werden können und die daher in jedem Fall dieser Fälle Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos treffen können".

Ein Krieg bzw. ein bewaffneter Konflikt stellt keinen Freibrief für Töten, Verwunden und Zerstören aus. Alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien haben verbindliche Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu beachten. Diese Vorsichtsmaßnahmen sind vor dem Angriff auszuführen. Vom Ergebnis dieser Vorsichtsmaßnahmen hängt ab, ob ein Angriff überhaupt durchgeführt, ob überhaupt geschossen werden darf. Mit diesem Regelungswerk der vor der Entscheidung zum Angriff zu ergreifenden Vorsichtsmaßnahmen wird im übrigen auch klargestellt, daß für die Frage der Rechtfertigung eines Angriffs rechtlich ohne jede Relevanz ist, ob Kampfflugzeuge aus 10.000 Meter Höhe oder im Tiefflug Raketen abschießen beziehungsweise Bombardierungen vornehmen. Art. 57 ZP I regelt folgende Vorsichtsmaßnahmen:

" (1) Bei Kriegshandlungen ist stets darauf zu achten, daß die Zivilbevölkerung, Zivilpersonen und zivile Obkjekte verschont bleiben.

(2) Im Zusammenhang mit Angriffen sind folgende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen:
a) wer einen Angriff plant oder beschließt,
i) hat alles praktisch mögliche zu tun, um sicherzugehen, daß die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind...
ii) hat bei der Wahl der Angriffsmittel-und methoden alle praktisch möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden und in jedem Fall auf ein Mindestmaß zu beschränken.
iii) hat von jedem Angriff Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, daß er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittel baren Vorteil stehen. ...
c) Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, muß eine angemessene Warnung vorausgehen, es sei denn die gegebenen Umstände erlauben dies nicht."

Wenn es im vorliegenden Falle der Bombardierung der Brücke von Varvarin nicht Absicht der Angreifer gewesen wäre, Zivilpersonen zu töten und zu verwunden, hätte im Ergebniss der Ergreifung dieser Vorsichtsmaßnahmen der Angriff unterbleiben müssen. Stattdessen wurde diesen Vorsichtsmaßnahmen diametral entgegen gehandelt: bei der Planung und beim Beschluß des Angriffs wurde alles praktisch mögliche getan, um sicherzugehen, daß die Angriffsziele Zivilpersonen und zivile Objekte sind. Es wurden alle Maßnahmen getroffen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung um jeden Preis zu verursachen. Um dieses Ziel effektiv erreichen zu können, wurde eine Warnung an die Zivilbevölkerung unterlassen. Die Bombardierung verstieß letztlich gegen alle Regeln der Kriegsführung. Es war kein Kollateralschaden, sondern ist ein Kriegsverbrechen.

Die Tötung und Verwundung von Zivilpersonen bei dem Angriff auf die Brücke von Varvarin sowie der dabei verursachte Sachschaden sind eindeutig eine Verletzung der für den bewaffneten Konflikt geltenden völkerrechtlichen Regeln. Die verantwortliche Partei ist daher gemäß Art. 3 der IV. Haager Konvention sowie Art. 91 des Zusatzprotokolls I zur Leistung von Schadenersatz verpflichtet.

Unabhängig von der Staatszugehörigkeit haben Zivilpersonen, denen durch militärische Aktionen der NATO im sogenannten Kosovo-Krieg zwischen 24. März rund 10. Juni 1999 unter Verletzung der für den bewaffneten Konflikt geltenden Regeln des Völkerrechts Schaden durch die Streitkräfte der NATO Staaten zugefügt wurde, einen Schadenersatzanspruch gegen die Mitgliedsstaaten der NATO und somit auch gegen die Bundesrepublik Deutschland.

Neben den Reparationsansprüchen, die dem angegriffenen Staat und seinen Staatsangehörigen infolge der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges zustehen, gibt es den generellen Schadensersatzanspruch aufgrund der Verletzung der für den bewaffneten Konflikt geltenden Regeln (ius in bello). Er steht allen am Konflikt beteiligten Staaten sowie den durch die Verletzung betroffenen Personen zu. Für die verletzten Personen besteht dieser Anspruch sowohl aus dem Völkerrecht als auch aus deutschem Recht. Dieser Anspruch, soweit er die geschädigte Person betrifft, wird hier von den Klägern geltend gemacht.

In der Präambel wie auch im Artikel 1 des ZP I wird ausdrücklich hervorgehoben, daß die Regeln des humanitären Völkerrechts "unter allen Umständen" einzuhalten sind. Damit wird unterstrichen, daß es sich um Mindestnormen handelt, die selbst unter den schwierigen Bedingungen eines bewaffneten Konfliktes das Leben der geschützten Personen sichern sollen. Zu dieser Schutzfunktion gehört auch, daß die geschützten Personen im Falle der Verletzung der Regeln einen eigenen Schadenersatzanspruch haben.

Gleiches gilt heute für die sogenannten Haager Regeln, insbesondere die Haager Landkriegsordnung, Bestandteil des IV. Haager Abkommens von 1907, deren allgemeine Geltung als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht bereits im Urteil des Nürnberger Tribunals ausdrücklich festgestellt wurde.

Unabhängig davon, ob der Krieg völkerrechtswidrig oder z.B. als Verteidigungskrieg in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht geführt wurde, haftet der Staat für Schäden, die durch Soldaten unter Verletzung der im Krieg geltenden Regeln ( ius in bello) fremden Personen oder Staaten zugefügt wurden. Diese Haftung ist bereits im IV Haager Abkommen 1907 im Art. 3 ausdrücklich bekräftigt worden:

"Die Kriegspartei, welche die Bestimmungen (der HLKO) verletzen sollte, ist gegebenenfalls zum Schadenersatz verpflichtet. Sie ist für alle Handlungen verantwortlich, die von den zu ihrer bewaffneten Macht gehörenden Personen begangen werden."

Diese Regel ist heute fester Bestandteil des Völkergewohnheitsrechtes. Sie ist gemäß Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht. (So auch OLG Köln, 27. 08. 98; 7 U 167/97). Sie gilt auch in Bezug auf die Genfer Konventionen und das ZP I.

Strittig war bislang, ob der Anspruch von den geschädigten Personen selbst im Wege eines zivilrechtlichen Verfahrens geltend gemacht oder nur mit Hilfe des diplomatischen Schutzrechts ihres Heimatstaates durchgesetzt werden kann. Ohne im einzelnen die Anspruchsgrundlagen genauer zu untersuchen, wurde von der herrschenden Lehre lange Zeit behauptet, daß solche Ansprüche nur von Staat zu Staat, also im Wege des diplomatischen Schutzrechtes geltend gemacht werden könne.

Aber bei richtiger Interpretationen des Art. 3 des IV. Haager Abkommens und unter Berücksichtigung der gesamten Entwicklung der Menschenrechte im Völkerrecht nach 1945 ist festzustellen, daß es sich bei den Schadenersatzansprüchen aus der Verletzung von Regeln, die in bewaffneten Konflikten gelten, sowohl um völkerrechtliche Ansprüche als auch um Ansprüche handelt, die im geltenden Recht der Bundesrepublik verwurzelt sind.

Aus der alten Lehre über die ausschließliche Völkerrechtssubjektivität der Staaten und dem diplomatischen Schutzrecht wurde ein Grundsatz der "Exklusivität" des Staates zur Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen bei Kriegsfolgen konstruiert, der den Einzelnen praktisch von der Wahrnehmung seiner Rechte ausschließt, den es aber im Völkerrecht nicht gibt. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht darauf aufmerksam, daß "eine solche Regel des Völkergewohnheitsrechts über die "Exklusivität" nicht besteht:
" Die Annahme, ein solcher Grundsatz könne auch Ansprüche ausschließen, die das deutsche Recht gewähre, beruht jedoch auf einer nicht ausreichenden Unterscheidung zwischen Ansprüchen nach Völkerrecht und nach nationalen Recht." (NJW 1996,2717)"

Im vorliegenden Fall liegt eine Anspruchsparallelität zwischen den vorgenannten völkerrechtlichen Regelungen (ius in bello) und dem deutschen Deliktsrecht nach § 823 BGB vor, darauf werden die Schadenersatzforderungen unserer Mandantschaft gestützt.

Die Verantwortung für die offiziell als Luftoperationen bezeichneten Bombardierungen in Jugoslawien zwischen 24. März und 10. Juni 1999 trägt sowohl die NATO als auch jeder einzelne NATO Mitgliedstaat. Die Planung und der Einsatz der NATO zu Luftoperationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien setzte zwingend die Zustimmung aller NATO Mitgliedstaaten voraus. Ohne einen einstimmigen Beschluß der Mitgliedstaaten wäre der Einsatz nicht möglich gewesen. Aus einer Vielzahl von deutschen Regierungserklärungen, Dokumenten und Erklärungen deutscher Militärangehöriger geht hervor, daß auch die Zielplanung und Zielauswahl durch die Staatenvertreter in der NATO abgestimmt wurden.

So führte die Bundesregierung in der Begründung zu ihrem Beschlußantrag an den Deutschen Bundestag vom 12. Oktober 1999 (Drucksache 13/11469) u. a. aus:

" Der NATO-Generalsekretär erklärt, daß unter diesen außergewöhnlichen Umständen der gegenwärtigen Krisenlage im Kosovo, wie sie in der Resolution des VN-Sicherheitsrates 1199 beschrieben ist, die Drohung mit und gegebenenfalls der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt ist. Die Bundesregierung teilt diese Rechtsauffassung mit allen anderen 15 NATO-Mitgliedstaaten. Das Bündnis hat entschieden, den Eintritt einer humanitären Notlage durch den Einsatz von Streitkräften abzuwenden."

Wir beurteilen hier nicht die Richtigkeit oder Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung. Wir stellen lediglich fest, daß die Bundesregierung ihre freie Mitwirkung an dieser Entscheidung bestätigt und damit auch die Verantwortung für Schäden trägt, die infolge von Verletzungen des Kriegsrechts bei der Ausführung dieser Entscheidung eingetreten sind. Infolge der Struktur der NATO ist diese Verantwortlichkeit unabhängig davon, ob im konkreten Fall der völkerrechtswidrige Schaden durch deutsche, amerikanische oder englische Bomber oder aufgrund von Befehlen deutscher, amerikanischer oder Offiziere anderer Nationalität verursacht wurde. Jeder NATO-Staat ist für die unter dem NATO Kommando erfolgten militärischen Aktionen verantwortlich.

Das gilt auch dann, wenn er die Details einer bestimmten Aktion nicht kannte.

Bei einem Schaden, der durch militärische Aktionen der NATO in Verletzung des Kriegsrechts verursacht wurde, richtet sich der Anspruch gegen jeden NATO-Staat. Der Geschädigte muß nicht nachweisen, daß sein Schaden durch amerikanische, britische oder deutsche Bomber verursacht wurde. Das ist ihm im allgemeinen auch gar nicht möglich. Da der Krieg von den NATO-Staaten gemeinschaftlich geführt wurde, haftet jeder von Ihnen für das Ganze. Dieser gesamtschuldnerische Grundsatz, der sich in 421 BGB findet und im § 830/840 BGB für die unerlaubten Handlungen übernommen wird, gilt auch im Völkerrecht, wenn mehrere Staaten gemeinschaftlich handeln.

Der Grundsatz der gesamtschuldnerischen Haftung wird innerhalb der NATO, d. h. zwischen den NATO-Mitgliedstaaten selbst angewandt, wie Art. VIII, Abs. 5 lit. e ii und iii des NATO-Truppenstatuts vom 19. 6. 1951 zeigt. Die gesamtschuldnerische Haftung der Vertragsparteien gilt erst recht für das Außenverhältnis, insbesondere gegenüber Zivilpersonen.

4. Forderungen

Namens und im Auftrag unserer Mandantschaft werden aus den vorgenannten Gründen Schadensersatzanpüche gegen die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht. Wir haben die Bundesrepublik Deutschland aufzufordern, zunächst, und zwar spätestens bis zum
21.September 2001,
rechtsverbindlich zu erklären, daß sie diese Schadensersatzansprüche dem Grunde nach anerkennt, d. h. für alle Schäden, die unserer Mandantschaft durch die Bombardierung der Brücke in Vavarin am 30. Mai 1999 entstanden sind und noch entstehen werden, aufkommen wird.

Sollte uns dieses Anerkenntnis nicht fristgemäß zugehen, werden wir ohne weitere Ankündigung Klage erheben.

Die einzelnen Schadenpositionen werden wir darstellen und, soweit möglich, beziffern, sobald uns das Anerkenntnis vorliegt. Es wird der Ersatz des gesamten materiellen und immateriellen Schadens verlangt.

Schon jetzt kann davon ausgegangen werden, daß folgende Schmerzensgelder/ Entschädigungen für den immateriellen Schaden zu zahlen sein werden:
  1. an die insgesamt 17 schwerverletzten Geschädigten mindestens 100.000,00 DM pro Person;
  2. an die die Eheleute Vesna und Zoran Milenkovic, die Eltern und Erben der im Alter von 15 Jahren getöteten Sanja Milenkovic, mindestens 180.000,00 DM;
  3. an die von uns vertretenen Erben der insgesamt 8 getöteten Personen mindestens 100.000,00 DM pro getöteter Person.
Für die insgesamt 17 schwerverletzten Geschädigten sind darüberhinaus, um diese Positionen beispielhaft aufzuführen, die Kosten für Operationen, Heilbehandlungen, Sehhilfen, Prothesen, orthopädische Schuhe und sämtliche weitere medizinische Maßnahmen, die infolge der physischen und/oder psychischen Verletzungen der Geschädigten notwendig geworden sind oder noch notwendig werden, zu übernehmen. Es ist ihnen eine Entschädigung für Verdienstausfall und den Nachteil ihres beruflichen Fortkommens zu zahlen. Den Hinterbliebenen der Getöteten stehen Rentenansprüche und - wie international in vergleichbaren Fällen ständig praktiziert - Entschädigungen für den Verlust ihrer Angehörigen zu.

Selbstverständlich sind wir bereit, mit der Bundesrepublik Deutschland über die Höhe einer zu zahlenden Gesamtentschädigung für die Personen, die wir vertreten, zu verhandeln. Dies hat jedoch nur dann Sinn, wenn sich diese Verhandlungen auf der zahlenmäßigen Grundlage bewegen, die wir vorstehend skizziert haben.

Darauf weisen wir von vornherein hin, damit erst gar nicht der Versuch unternommen wird, die Menschen, die Objekt eines verabscheuungswürdigen Kriegsverbrechens geworden sind, mit Minimalbeträgen abzuspeisen, was einer Verhöhnung der Opfer gleichkäme.

Sollte die Vorlage von Erbscheinen, Geburtsurkunden, Totenscheinen und weiteren Dokumenten erforderlich sein, wird ein entsprechender Hinweis erbeten.

Ulrich Dost
Rechtsanwalt

Zum Geschehen in Varvarin

Schilderungen von Angehörigen der Opfer von Varvarin

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