Einmischung ja - aber ohne Gewalt
Eine Stellungnahme von Ernst-Otto Czempiel zur Debatte um den NATO-Krieg gegen Jugoslawien
Unter der Überschrift "Vorbeugen, nicht nachkarten - Die Lehren aus dem Krieg um Kosovo: Eine moderne Außen- und Sicherheitspolitik setzt nicht auf die Feuerkraft von Armeen" gab der Frankfurter Politik- und Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel eine sehr interessante Stellunganhme ab, die wir im Folgenden dokumentieren.
Zum Thema haben wir auf unserer Homepage bisher die folgenden Stellungnahmen dokumentiert:
Ernst-Otto Czempiel: Vorbeugen, nicht nachkarten
Die von Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz angestoßene Debatte um die
deutsche Außenpolitik ist mehr als überfällig. Seit 1994 marschiert der
Westen wieder, leider in die falsche Richtung. Er führt internationale Kriege
gegen Bürgerkriege.
In Bosnien-Herzegowina verschob die
Nato mit einem kurzen, aber entscheidenden Bombardement das Kriegsglück
zu Gunsten der Kroaten, die ihr das jetzt mit der Aufkündigung des
Friedensschlusses von Dayton dankten. Mit dem Luftkrieg gegen Serbien griff
die Nato in den laufenden Bürgerkrieg im Kosovo ein und besetzte die
Provinz, ohne zuvor eine serbisch-albanische Einigung herbeigeführt zu
haben.
Hatte der Vertrag von Dayton fünf Jahre lang gehalten, so gingen im Kosovo
Bürgerkrieg und Vertreibung weiter, diesmal mit den Albanern als Täter und
den Serben als Opfer. Der Bürgerkrieg dehnt sich unter den Augen der Nato
bis nach Mazedonien aus. Weil sich die KFOR zum Konfliktpartner gemacht
hat, werden ihre Soldaten über kurz oder lang in ihn hineingezogen werden.
Die Gebrauchsanweisung für derlei Einsätze hat die Nato im April 1999 in
ihrem neuen strategischen Konzept vorgelegt. Die Militäraktionen der Nato
gehorchen also nicht irgendeiner humanitären Not, sondern eigenem Antrieb,
dem eine Deutung der Welt und ein bestimmtes Verständnis von Außenpolitik
zu Grunde liegt. Es verstößt nicht nur gegen das Völkerrecht, den
Nordatlantikvertrag, das Grundgesetz und das Selbstverständnis der
Bundesrepublik als Zivilmacht; dieses Konzept von Außenpolitik ist vor allem
erfolglos und teuer. Die Verteidigungshaushalte der
Nato-Staaten sind heute höher als in den siebziger Jahren des Kalten
Krieges. Tendenz steigend.
Das merkwürdige Phänomen hat nicht nur die bekannten
organisationssoziologischen und interessenpolitischen Ursachen, ihm liegt
auch ein Lernverzicht zu Grunde. Kämpft das Militär immer den letzten Krieg
nach, so bewegt sich die Sicherheitspolitik in den Szenarien von vorgestern.
Sie redet zwar gern und dauernd von der Globalisierung, nimmt aber nicht zur
Kenntnis, dass die Welt sich wirklich geändert hat. Die Außenpolitik spricht
nicht nur, sie denkt auch in den Kategorien der Staatenwelt, in der die Politik
von den Regierungen gemacht und der Krieg als Fortsetzung der Politik
angesehen wurde.
Aber diesen Kriegstyp gibt es schon lange nicht mehr, er ist mit der Kadenz
des Ost-West-Konflikts in den achtziger Jahren weitgehend verschwunden.
Von 36 gewaltsamen Konflikten, die im vorigen Jahr registriert wurden, war nur
noch einer, der zwischen Eritrea und Äthiopien, ein regelrechter Krieg. Die
anderen waren sämtlich Bürgerkriege. Auch in ihnen wird gekämpft, aber aus
ganz anderen Gründen und mit ganz anderen Mitteln. Gesellschaften setzen
Gewalt ein gegen die sie unterdrückenden Regierungen, gesellschaftliche
Gruppen bekämpfen einander.
Dieser Politikwechsel ist die Folge grundlegenden sozioökonomischen
Wandels in Europa, der sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
unter der Decke des Kalten Krieges vollzog. Die fünfziger Jahre vermehrten
den Wohlstand, der die Ausbildung und die Information der Gesellschaften
verbesserte. Die Demokratisierung in Westeuropa stärkte die Rechte der
Gesellschaften gegenüber ihren politischen Systemen und verwirklichte damit
erstmals politische Erwartungen, die in allen europäischen Gesellschaften
vorhanden und aktiv gewesen sind.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit verkoppelte die bis dahin isolierten
Staaten miteinander, machte sie von der wechselseitigen Zusammenarbeit
abhängig. Gleichzeitig emanzipierten sich große gesellschaftliche Akteure,
allen voran die transnationalen Korporationen, aus der territorial fixierten
Kontrolle der Regierungen. Durch all diese Prozesse wurden in Euro-Atlantik
Fremde zu Nachbarn.
Diese Gesellschaftswelt unterscheidet sich mehrfach, vor allem aber darin von
der alten Staatengesellschaft, dass der Krieg funktional keinen Sinn mehr
macht und der Staat große Teile seiner Souveränität gegenüber den Nachbarn
und seiner eigenen Gesellschaft eingebüßt hat. Die Steigerung von
Wohlstand, Einfluss und Macht hängt heute nicht mehr von der Vergrößerung
des Territoriums ab, die nur mit Gewalt zu bewerkstelligen oder abzuwehren
war, sondern vom Bildungsniveau, der Innovationsfähigkeit und dem
wirtschaftlichen Leistungspotenzial.
Nicht Besitz ist gefragt, sondern Zugang. Im Zustand der Interdependenz kann
kein Staat mehr verlangen, bei der Regelung seiner "inneren Angelegenheiten"
unabhängig und völlig frei zu sein. Die Nachbarn haben ein berechtigtes
Interesse an diesen Zuständen, weil sie von ihnen betroffen werden.
Verteidigungsminister Rudolf Scharping hatte völlig Recht, wenn er sein
Resümee des Kosovo-Konfliktes mit dem Imperativ überschrieb: "Wir dürfen
nicht wegsehen."
Die Gesellschaftswelt enthält die Verpflichtung zur außenpolitischen
Nachbarschaftshilfe. Das war eine ganz moderne Einsicht.
Leider waren die angewendeten Strategien unmodern. Der Nato-Luftkrieg
gegen Serbien hat die Gewalttaten im Kosovo zwar beendet, aber keine davon
verhindert. Er hat zusätzlich mindestens sechshundert Menschenleben
gefordert und die Zerstörung des Kosovo, von der Serbiens zu schweigen,
noch verschlimmert. Vor allem: der Konflikt zwischen Serben und Albanern
wurde nicht gelöst, nicht einmal in Arbeit genommen. Mit einer veralteten
Strategie lassen sich keine guten Ergebnisse erzielen.
Der Westen musste das eigentlich wissen. Die Vereinigten Staaten hatten
den Bürgerkrieg in Vietnam sieben Jahre lang mit kriegerischen Maßnahmen
bearbeitet. 52.000 amerikanische Soldaten und noch sehr viel mehr
Vietnamesen kamen dabei ums Leben - umsonst, wie die Verantwortlichen
von damals inzwischen eingeräumt haben.
Fünf Jahre lang hatte die Sowjetunion in Afghanistan die gleiche Erfahrung
gemacht. Ihr Versuch, in den afghanischen Bürgerkrieg mit kriegerischer
Gewalt von außen einzugreifen, endete ebenfalls mit einer Niederlage.
Allerdings wurde der Beschluss der Sowjetunion, solche Interventionen nicht
zu wiederholen, mit ihrer Auflösung vergessen. Russland führt in
Tschetschenien erneut Krieg gegen den Bürgerkrieg, offenbar ohne Rücksicht
auf Verluste. Hier sieht der Westen ganz genau, dass das nicht nur
rechtswidrig, sondern erfolglos ist. Warum wendet er diese Erkenntnisse nicht
auf seine eigenen Strategien an?
Neue Einblicke
Er könnte noch zwei weitere Lehrstücke studieren. Die Friedenssicherung der
Vereinten Nationen in Somalia ging in dem Moment in die Brüche, in dem sie
sich mit Hilfe amerikanischer Truppen und ihrer Kampfkraft in den
somalischen Bürgerkrieg einzumischen versuchte. Nicht nur mussten die
amerikanischen Truppen verlustreich und gedemütigt das Experiment
aufgeben. Somalia versank für lange Jahre im eigenen Blut und aus der
Aufmerksamkeit des Westens.
Reiches Erfahrungsmaterial enthält das Ende des Ost-West-Konflikts. Der
ihm ursprünglich zu Grunde liegende Wettbewerb zwischen dem liberalen und
dem kommunistischen Herrschafts- und Gesellschaftssystem war alsbald
überlagert worden von der in der Staatenwelt wohl bekannten klassischen
Konfrontation zweier Militärallianzen.
Die Rüstungsdynamik zwischen den beiden Lagern dominierte lange Zeit das
Verständnis der Konfliktformation. Die Nato deutete sogar das Ende der
Konfrontation als ihren militärischen Sieg. Es ist das gute Recht der Politik,
sich auch fremde Federn an den Helm zu stecken. Zwar muss man der
Allianz bescheinigen, dass sie sich während des Konfliktes zurückhaltend
und klug verhalten und unter dem Einfluss der Europäer 1967 die militärische
Konfrontation mit einer Entspannungskomponente ergänzt hat. Aber dass
Warschauer Pakt und Kommunismus implodierten, verdankte der Westen
dem von den Europäern seit 1975 vorangetriebenen Helsinki-Prozess. Er
setzte 1975 eine höchst moderne, auf die wirtschaftlich-gesellschaftliche
Überlegenheit des Westens gegründete Strategie in Gang. Sie zeigte den
kommunistisch regierten Gesellschaften, dass ihre Entwicklungserwartungen
in dem demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Westen längst
verwirklicht worden waren. Damit war der dem Ost-West-Konflikt zu Grunde
liegende Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen wieder aktiviert worden.
Die Staaten des Warschauer Paktes waren im Sachbereich der Sicherheit
den
Nato-Ländern absolut ebenbürtig. Unterlegen aber waren die
kommunistischen Herrschaftssysteme in den beiden Sachbereichen der
wirtschaftlichen Wohlfahrt und der Partizipation an der Herrschaft. An der
Unfähigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und demokratische Teilnahme an der
Herrschaft in einem zureichenden Maß zu bieten, ist der Warschauer Pakt
gescheitert.
Dieses Ende des Kalten Krieges und seine Ursachen zu untersuchen, wäre
eine Hauptaufgabe der westlichen Außen- und Sicherheitspolitik nach 1990
gewesen. Gerade weil das Ende so unerwartet, so unkonventionell und so
unblutig erfolgte, hätte es als Hinweis aufgefasst werden müssen, dass die
europäische Welt sich verändert hatte. Der Umbruch hätte Einblicke in die
neuen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse erlaubt, die in der Gesellschaftswelt
entstanden waren.
Der Westen hätte lernen können, dass nicht die Feuerkraft von Armeen,
sondern der Konsens der Gesellschaften für den Erfolg der Außen- und
Sicherheitspolitik maßgebend geworden war. Militärische Fähigkeiten wurden
deswegen nicht überflüssig, bleiben als Reserve für den Verteidigungsfall
unentbehrlich. Sie sind aber - jedenfalls in Euro-Atlantik - kein Instrument der
Politikgestaltung mehr. Sie muss Strategien anheim gegeben werden, die
durch die Förderung von Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand
den Interessen der Gesellschaft dienen und damit deren Konsens erzeugen.
Ein wenig von dieser Einsicht war 1990 durchaus vorhanden, führte auf der
Konferenz von Paris im November 1990 zur Verabschiedung der Charta für ein
neues Europa, für ein "neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der
Einheit".
Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit wurde als europäische
Organisation institutionalisiert. Nato und Warschauer Pakt verabredeten mit
dem Vertrag über konventionelle Sicherheit in Europa ein umfangreiches
Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Verifikationssystem - ein absolutes
Novum auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik.
Aber die Einsicht wurde nicht vertieft. Niemand bemühte sich um eingehende
Analysen der politischen Prozesse, die den Kalten Krieg beendet hatten.
Welche Folgen daraus für eine moderne Außen- und Sicherheitspolitik unter
den Bedingungen der Gesellschaftswelt erforderlich waren, wurde nicht
studiert, nicht einmal thematisiert. Die politisch-militärischen Eliten, die den
Kalten Krieg geführt hatten, beschränkten sich darauf, die nächsten Jahre
schweigend auszusitzen. Als mit der Wende Präsident Bill Clintons 1994 hin
zur Nato-Osterweiterung diese Zurückhaltung überflüssig geworden war,
stellte diese Elite ihren Führungsanspruch in der gewohnten Form wieder her.
Das Fenster der strategischen Erfahrung, das vier Jahre lang ungenutzt offen
gestanden hatte, schloss sich wieder.
Damit kamen die vertrauten Strategien der Abschreckung
(Nato-Osterweiterung), der Gleichgewichtsbildung (Nato-Russland-Grundakte)
und der Gewaltanwendung wieder zur Geltung. Die Demokratisierungspolitik
wurde vernachlässigt, die OSZE nach Wien abgeschoben und das
vertrauensbildende Netz der KSE, das durch das Wiener Dokument von 1994
noch verstärkt worden war, schlicht vergessen. Am 25. April 2001 feierte das
Zentrum für Verifikationsforschung der Bundeswehr sein zehnjähriges
Jubiläum und gleichzeitig eine Dekade höchst erfolgreicher moderner
Sicherheitspolitik zwischen Ost und West - ohne dass die Öffentlichkeit oder
gar die Politik davon auch nur Notiz genommen hätten.
Angesichts dieses Lernverzichts wundert es nicht, dass die westliche Politik
gegenüber dem Konfliktphänomen der Moderne, den Bürgerkriegen, so
erfolglos bleibt. Inzwischen wird erneut klar, dass die Militärintervention im
Kosovo - schrieb Steven Erlanger in der International Herald Tribune -, "wie
alle anderen Interventionen der Großmächte auf dem Balkan im vergangenen
Jahrhundert möglicherweise mehr dazu beigetragen hat, die Region zu
destabilisieren, als sie zu stabilisieren". Es hat also wieder einmal, wie es ein
prominenter amerikanischer Diplomat ausdrückte, "die Hoffnung über die
Erfahrung triumphiert".
Da die Intervention in Serbien und im Kosovo nun schon zwei Jahre alt ist,
ohne dass die Motive und Entscheidungsprozesse diskutiert worden wären,
muss man befürchten, dass das systematische Schweigen System hat. Es
soll die Gesellschaften an die Wiederkehr der Gewalt als politisches Mittel
gewöhnen und jede kritische Nachfrage, vor allem jede
Aufwand-Erfolg-Rechnung verhindern. Je weniger diese Negativ-Bilanz
analysiert wird, desto eher lässt sie sich vergessen, wenn nach einer
Schamfrist ein neuer Interventionsanlass gefunden wird.
Veränderte Umstände
Das dazugehörige Nato-Konzept von 1999 ist nicht revidiert worden, sondern
nach wie vor in Kraft. Bei aller Kritik der Europäer diesem Programm
gegenüber haben sie einen ähnlichen Auftrag ihren 1999 beschlossenen
Krisenreaktionsstreitkräften mitgegeben. Sie sollen die 1992 auf dem
Petersberg der Westeuropäischen Union zugewiesenen "humanitären
Aufgaben und Rettungseinsätze, die friedenserhaltenden Aufgaben, die
Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur
Herbeiführung des Friedens" übernehmen - also genau die militärischen
Expeditionen, die im neuen
Nato-Konzept stehen. Hält die Lernschwäche des Westens an, muss
befürchtet werden, dass er sich auch durch den sich abzeichnenden
Misserfolg auf dem Balkan kaum von weiteren Expeditionen dieser Art
abhalten lassen wird.
Natürlich müssen die Wege, die zum
Nato-Luftkrieg gegen Serbien und zur Besetzung des Kosovo geführt haben,
auch im Einzelnen untersucht werden. Der Westen hat viele handwerkliche
Fehler gemacht; vor allem hat er zugelassen, dass das aussichtsreiche
Abkommen zwischen Milosevic und dem amerikanischen Botschafter
Holbroke vom Oktober 1998 von der OSZE nicht richtig ausgestattet und von
der UCK unterlaufen wurde. Die Konferenz von Rambouillet wurde von den
europäischen Mitgliedern der Kontaktgruppe stümperhaft, von den USA durch
ihre Bevorzugung der UCK höchst einseitig gesteuert.
Damit stellt sich eine weitere Frage: Wie wird eigentlich im "Westen"
Außenpolitik konzipiert und implementiert? Sicherlich nicht als koordinierte
Zusammenarbeit zwischen dem Hohen Beauftragten der Europäischen Union
für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und dem amerikanischen
Außenminister. Auch nicht in einer organisierten Beziehung zwischen EU und
Nato. Zwischen beiden gab es lange Zeit überhaupt keine Beziehung. Die
Atlantische Gemeinschaft hat noch immer kein politisches
Entscheidungsgremium. Die einzige atlantische Institution ist die
Militärallianz, und ihr Monopol wird von Washington eifersüchtig gehütet. Die
Entscheidungsprozesse der
Nato laufen im Verborgenen ab.
Im Serbienkrieg hat sich gezeigt, dass die von den westlichen Demokratien
gebildete Allianz nicht schon deswegen eine demokratische Allianz ist. Wie
bei der Europäischen Union führt die sich verfestigende Kooperation der
Regierungen zu Institutionen im zwischenstaatlichen Raum, die von den im
Nationalstaat verbleibenden Parlamenten nicht mehr kontrolliert werden
können. Funktionale Integration enthält die Tendenz zur Entdemokratisierung.
In der Europäischen Union wird sie durch die Neigung der Regierungen zu
immer mehr intergouvernementaler Zusammenarbeit explizite verstärkt.
In der Nato war das gar nicht nötig, weil sie immer eine
Regierungsorganisation gewesen war. Im Kollektiv des Nordatlantikrates
verschwindet die Einzelverantwortung der Regierungsvertreter und ihre
Rückbindung an die demokratischen Kontrollprozesse zu Hause. Bei der
Ausführung der Grundsatzbeschlüsse des Rates durch die Militärorganisation
spielt dieser Rat keine Rolle mehr. Wie sich beim Luftkrieg gegen Serbien
gezeigt hat, fasst die Nato ihre Entscheidungen in einer Nachtschaltung
zwischen dem Pentagon und dem amerikanischen Oberbefehlshaber in
Europa. In der Europäischen Union wird über das durch die Integration
ausgelöste Demokratiedefizit wenigstens diskutiert, gegenüber der Nato fehlt
selbst ein Problembewusstsein.
War während des Kalten Krieges das Demokratiedefizit des Bündnisses nicht
aufgefallen, weil der Verteidigungsauftrag evident und seine Ausführung durch
die Nato problemgerecht war, so tritt es nach 1990 deutlich in Erscheinung.
Die Verteidigungsnotwendigkeit existiert nicht mehr, und der Gewalteinsatz
zu humanitären oder politischen Zwecken ist infolge der soziopolitischen
Veränderung des operativen Umfeldes nicht mehr erfolgreich. Dass dennoch
die während des Kalten Krieges errichteten Institutionen und die von ihnen
eingesetzten Strategien unter so gänzlich veränderten Umständen beibehalten
werden, zeigt das Hauptproblem des Westens: Er muss, wie er es von 1990
bis 1994 versucht und dann aufgegeben hat, ein modernes Konzept von
Außen- und Sicherheitspolitik konzipieren, das den veränderten Bedingungen
entspricht und deswegen erfolgreich sein kann.
Theoretisch wird dieser Bedarf von der Politik anerkannt. Hatte
Verteidigungsminister Rudolf Scharping richtig darauf hingewiesen, dass
Bürger- und Menschenrechtsverletzungen in unserer Nachbarschaft die
Einmischung erfordern, so haben die beiden früheren Bundespräsidenten von
Weizsäcker und Herzog mit ihrem Begriff der "Weltinnenpolitik" die jedenfalls
in Euro-Atlantik eingetretenen neuen Zustände adäquat beschrieben.
Daraus ergeben sich für die neue Außenpolitik zwei radikale Neuerungen.
Ebenso wie in der Innenpolitik Polizei und Feuerwehr nur im Notfall eingesetzt
werden, wohnt der militärischen Gewalt nur noch eine Reservefunktion, keine
politikgestaltende Kraft mehr inne. Sie ist übergegangen an eine der
Innenpolitik ähnelnde Strukturpolitik, die aber nur dann möglich wird, wenn
das in der Staatenwelt geltende Interventionsverbot zu den Akten gelegt wird.
Die Einmischung der Nachbarn in das Herrschafts- und Politiksystem eines
Problemstaates gehört zur Tagesordnung der Gesellschaftswelt. Freilich
muss diese Einmischung, wie in der Innenpolitik auch, rechtzeitig und absolut
gewaltlos erfolgen.
Dass gegenüber Jugoslawien nicht diese neue Politik, sondern die ganz alte
betrieben wurde, bezeichnet das eigentliche Versagen der westlichen Politik.
Sie hätte nach Titos Tod 1980 den Zerfall des jugoslawischen Kunststaates
und nach 1986, dem Herrschaftsantritt von Milosevic, seine
Unterdrückungspolitik im Kosovo und das Aufziehen des Bürgerkrieges
vorhersehen können. Warnungen seitens der Fachwelt und der Wissenschaft
gab es genug. Stattdessen hat der Westen auf jede Steuerungspolitik
verzichtet, um dann, als der Bürgerkrieg im Kosovo 1996 offen ausbrach, mit
der militärischen Intervention von 1999 die zweite traditionelle Antwort zu
geben.
Dass sich diese "schiefe Schlachtordnung", wie sie schon im 19. Jahrhundert
kritisiert wurde, bis heute erhalten hat, zeigt, wie groß der Nachholbedarf der
westlichen Außenpolitik ist. 1992 gab der UN-Sicherheitsrat dem
Generalsekretär den Auftrag, die Vorbeugung als Konzept und die
dazugehörigen Strategien und Instrumente zu entwickeln. Das hat Boutros
Boutros-Ghali auch getan.
In den Außenpolitiken der Staaten hat sich indes nichts geändert. Die
Tradition und die in ihr eingewurzelte Interessenkonstellation wirken wie
Mühlsteine um den Hals der Modernisierung. Noch schwerer zu beheben ist
ein gerade in Demokratien auftretendes Handicap. Die "Kultur der Prävention"
verlangt von den Politikern, Leistungen zu erbringen, die nicht ihnen, sondern
ihren Nachfolgern zugute kommen. Solche Selbstlosigkeit müsste eigens
honoriert werden. Vielleicht sogar mit bedeutenden Friedensprämien. Geld
genug dazu wäre vorhanden.
Der Hochkommissar für nationale Minderheiten der OSZE Max van der Stoel
hat vorgerechnet, dass die acht Jahre seiner Amtstätigkeit, in der er zahllose
Minderheitenkonflikte in den osteuropäischen Staaten aufgelöst, also
mögliche Gewaltausbrüche vermieden hat, weniger gekostet haben, als der
Erwerb von zwei Cruise Missiles. Vorbeugung ist nicht nur besser als
Nachkarten, es ist auch preisgünstiger.
Die Instrumente vorbeugender Einmischung sind im Zeitalter der
Interdependenz reichlich vorhanden. Wirtschaftliche Vorteile lassen sich an
demokratische Reformen knüpfen, wie sie die Europäische Union von den
Beitrittskandidaten verlangt.
Auslandshilfe sollte prinzipiell nur für konsumentenorientierte Strukturpolitik
gegeben werden, Militärhilfe überhaupt nicht. Kredite, wie sie Jugoslawien
nach 1980 reichlich bekam, lassen sich mit Bedingungen ausstatten.
Partnerschaften zwischen Städten, Parteien, Gewerkschaften und
Wirtschaftsunternehmen exportieren ganz unpolitisch Normen und Praktiken
der Demokratie.
Im Jahr 2000 hat der Westen erstmals die serbische Opposition mit Rat und
Tat unterstützt. Prompt war sie erfolgreich. Hätte der Westen schon 1996
geholfen, als die Studenten in Belgrad auf die Straße gegangen waren, wäre
Milosevic vielleicht schon damals gestürzt worden. Der Stabilitätspakt für den
südlichen Balkan, ebenfalls 1999 von der EU beschlossen (glücklicherweise
auf deutsche Anregung hin), ist Vorbeugung pur. Er brauchte nur etwas
weniger Organisation und dafür mehr Geld.
Das neue Paradigma vorbeugender Außenpolitik ist also im Kern schon
vorhanden, es muss nur noch durchgesetzt werden. Dazu brauchen wir die
Debatte.
Aus: FR, 09.05.2001
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