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Kritik an Erler - Unterstützung für Friedenswissenschaftler

Weitere Stellungnahmen zur FR-Debatte um den NATO-Krieg

In der Frankfurter Rundschau wird seit der Veröffentlichung der Thesen der beiden Friedensforscher Lutz und Mutz vom ISFH und der wenig konstruktiven Antwort des SPD-Abgeordneten Gernot Erler eine interessante Debatte darüber geführt, ob der NATO-Krieg völkerrechtswidrig oder "legitim" war und welche Rolle Bundesregierung und Bundestag dabei gespielt haben. Die bisherigen Beiträge haben wir im vollen Wortlaut auf unserer Homepage dokumentiert:
Im Folgenden drei weitere Beiträge, die als Leserbriefe in der FR erschienen sind:

Für offenen Dialog

Zu "Lehren ziehen statt Tribunale veranstalten" (FR vom 12./13. April 2001): Heute, zwei Jahre nach dem Kosovo-Krieg, ist der Balkan vom zugesagten Frieden weit entfernt. Zeitgleich zu dieser ernüchternden Bilanz kommen erhebliche Zweifel an den damaligen Gründen für einen Krieg in Jugoslawien auf. Die Vorwürfe wiegen schwer: Die Bundesregierung wird von verschiedenen angesehenen gesellschaftlichen Gruppen und Personen beschuldigt, Fakten erfunden und manipuliert, Lageberichte der eigenen Behörden zurückgehalten und Aussagen der OSZE-Beobachter unterdrückt, ja bewusst gelogen zu haben.

Dieser Verdacht macht eine nüchterne Aufarbeitung der Kriegsursachen unumgänglich. Die dafür von Gernot Erler in seinem offenen Brief geforderte Zusammenarbeit zwischen Friedensforschern und Politikern ist erstrebenswert - aber sie reicht nicht aus. Wir, die Ärzte für Frieden und in sozialer Verantwortung, fordern den Bundestag auf, zur Überprüfung aller Vorwürfe gegen die Bundesregierung umgehend eine unabhängige Untersuchungskommission aus anerkannten kompetenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens einzusetzen. Diese soll sich auch mit der Rolle des Parlamentes bei der Entscheidung für den Krieg beschäftigen.

Eine Demagogisierung kritischer Geister als Teil einer angeblichen "Kampagne gegen die westlichen Kosovokriegs-Entscheidungen" durch Gernot Erler halten wir für nicht förderlich. Nachfragen müssen erlaubt sein. Auch in dem zentralen Streitpunkt, ob es eine humanitäre Katastrophe im Kosovo vor Kriegsbeginn gab. Noch am 17. März 1999, also eine Woche vor Kriegsbeginn, schätzt das Hauptquartier der OSZE-Mission im Kosovo die Lage wie folgt ein: "Die humanitäre Situation ist schwierig, aber unter Kontrolle. Es gibt zur Zeit keine so genannte humanitäre Katastrophe, und eine solche ist auch nicht zu erwarten, wenn die Hilfsmaßnahmen fortgesetzt werden".

Ähnliche Berichte gibt es zeitgleich vom Auswärtigen Amt und den Nachrichtenexperten des deutschen Verteidigungsministeriums. Angesichts dieser Einschätzung fragen wir: Welche zuverlässigeren Quellen als die (…) sind herangezogen worden, um zu einem anderen Urteil zu kommen? Verfolgte die Nato mit der Bombardierung Jugoslawiens ein anderes Interesse als das der Wahrung der Menschenrechte? Wie sieht die ökologische Bilanz des Krieges aus? Wir würden uns wünschen, dass es zu einem offenen Dialog aller Befürworter und Gegner des Krieges kommt. Damit in Zukunft alle Mittel der kriegsvorbeugenden Politik genutzt werden können.
Dr. med. Ute Watermann,
Sprecherin der IPPNW, Berlin
(FR, 04.05.2001)

Keineswegs ist die neue deutsche Außenpolitik eine Friedenspolitik

Zu "Lehren ziehen statt Tribunale veranstalten" (FR vom 12./13 April 2001): So wie der Untertitel - Der Krieg in Kosovo - von der Tatsache ablenkt, dass sich der Krieg auf das gesamte Staatsgebiet Jugoslawiens erstreckte, besteht die Erwiderung des außenpolitischen Sprechers der SPD, Gernot Erler, auf den offenen Brief der Friedensforscher Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz zum Kosovo-Konflikt leider nur aus Halbwahrheiten und gezielten Desinformationen. Für die Aufarbeitung des mit deutscher Beteiligung geführten Luftkrieges eignet sie sich nicht. Die Tricks und Fehlbeurteilung des Krieges, die den Friedensforschern vorgeworfen werden, finden sich nur bei Erlers Argumentation.

Es fängt damit an, dass behauptet wird: "Im Frühjahr 1999 gab es keine Alternative mehr zu dem Beginn der Luftangriffe, nachdem sich im Laufe des Jahres 1998 in Kosovo eine humanitäre Katastrophe entwickelt hatte . . ." Wer solches behauptet, kann notwendigerweise nicht auf die Argumente der Friedensforscher eingehen, wonach selbst fünf Monate nach Abschluss der Holbrooke-Milosevic-Vereinbarung vom Oktober 1998 über einen international überwachten Waffenstillstand von den 2000 vorgesehenen zivilen Beobachtern der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - Red.) erst weniger als die Hälfte von ihnen vor Ort waren.

Als der Krieg einen Monat später begann und es für die volle Aufstockung der OSZE-Beobachter zu spät war, konnte der Westen hingegen binnen weniger Wochen Kampfgeschwader und Flottenverbände zusammenziehen und über Monate einen Tag-und-Nacht-Hightech-Krieg führen mit Zehntausenden von Angriffsflügen für Milliarden von Dollar. "Aber ein bescheidenes Aufgebot ziviler Verifikatoren auf die Beine stellen kann oder will er offenbar nicht" (so Lutz / Mutz).

Als Historiker, der, nach eigenen Worten, in den letzten beiden Jahren einen erheblichen Anteil seiner Arbeitszeit dem Kosovo-Konflikt gewidmet hat, dürfte Erler nicht entgangen sein, dass vor Kriegsbeginn im März 1999, zum Beispiel nach dem Generalbericht des Politischen Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung der Nato zu den Folgen des Kosovo-Konflikts (Freitag, 15. 12. 2000) . . ., keine humanitäre Katastrophe in Kosovo vorlag und nicht die serbische Armee, sondern vielmehr die albanische UCK die Konflikteskalation verursacht hat.

Nach Aussage der US-Diplomatin in Kosovo, Norma Brown (FR vom 16. 2. 2001), stellte sich die Situation wie folgt dar: "Sicher, es gab humanitäre Probleme und es gab viele Vertriebene durch den Bürgerkrieg. Aber das spielte sich so ab: Die Leute verließen ihre Dörfer, wenn die Serben eine Aktion gegen die UCK durchführten - und kamen danach wieder zurück. Tatsache ist: Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die Nato bombardiert. Das wurde diskutiert: In der Nato, der OSZE, bei uns vor Ort und in der Bevölkerung." Dieser Lagebeschreibung entsprach auch die bundesdeutsche Praxis, Asylbewerber aus Kosovo bis zu Kriegsbeginn wieder abzuschieben.

Irreführend ist auch die rechtliche Beurteilung, nach der die Beteiligung Deutschlands am Luftkrieg keinen Verstoß gegen das Grundgesetz darstelle, weil sie als eine Operation der Nato in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Artikel 24, Absatz 2 des Grundgesetzes anzusehen sei. Abgesehen davon, dass auch gegen höherrangiges Völkerrecht verstoßen worden ist, hat Erler verschwiegen, dass sich der Krieg nicht durch die Nato-Statuten legitimieren lässt, weil die Nato zur Zeit des Krieges noch als reines Verteidigungsbündnis verfasst war.

Auch ernst zu nehmende Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, die unter besonderen Voraussetzungen Gewaltanwendung als eine Art Nothilfe für vertretbar halten, sind nach eingehender Durchdringung der Problemlage zu dem Ergebnis gekommen, dass im Fall des Kosovo-Konflikts die Anwendung von Gewalt weder moralisch noch juristisch gerechtfertigt werden kann. (Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin am 17. 1. 2001 zur Beurteilung des Kosovo-Krieges aus der Perspektive globaler Verantwortungsethik.) Obwohl seinerzeit alle verteidigungspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen Anweisung von der Regierung hatten, den Wortlaut des Rambouillet-Diktates, das unter anderem vorsah, das gesamte Staatsgebiet Jugoslawiens der militärischen Hoheit der Nato zu unterstellen, geheim zu halten und inzwischen auch bekannt geworden ist, dass zum Beispiel der Südwestfunk Mikrofon-Verbot erteilte, wenn vom "Angriffskrieg" der Nato gesprochen wurde (FR vom 27. 9. 1999: "Mitschwimmen im ,mainstream'") , suggeriert uns Erler, dass sich der Deutsche Bundestag und auch die Öffentlichkeit fundiert mit dem Kosovo-Krieg beschäftigt hätten.

Ist denn wenigstens die neue deutsche Außenpolitik eine Friedenspolitik, wie Erler meint? Ganz im Gegenteil! Statt die spätestens seit der Auflösung des Warschauer Paktes überflüssige Nato ebenfalls aufzulösen, wird die Nato-Osterweiterung vehement betrieben, eine zusätzliche Europäische Verteidigungsgemeinschaft gebildet und der grundgesetzwidrige Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Interventionsarmee betrieben, die in die Lage versetzt werden soll, gleichzeitig zwei Kriege außerhalb Deutschlands zu führen.

Schließlich fehlt es Gernot Erler, wie er selbst schreibt, an Fantasie, den Jugoslawien-Krieg als einen "Koalitionskrieg traditionellen Musters" nach dem Motto: "Dem Sieger fällt zu, was der Verlierer abtritt", zu sehen.

Ich empfehle Erler, doch einmal den italienischen Publizisten Primo Moroni zu befragen, der 1994 in einem Interview auf ein von deutschen Wirtschafts- und Finanzkreisen geführtes Projekt über die geoökonomische, politische und kulturelle Umgestaltung Europas hinwies, zu der auch die knapp 40 Millionen Einwohner umfassende Alpen-Adria-Gemeinschaft mit Ex-Jugoslawien gehört (vergleiche G. Feldbauer: "Von Mussolini bis Fini", Berlin, Elefanten Press 1996, Seite 165). Vielleicht findet er dabei auch den Grund für die Zerstörung der jugoslawischen Automobilindustrie.
Dietrich Antelmann, Berlin
(FR, 10.05.2001)

Leichtfertig

Zu "Lehren ziehen statt Tribunale veranstalten" (FR vom 12./13. April 2001): Gernot Erlers Grundthese, Lehren aus dem Kosovo-Krieg zu ziehen, ist zuzustimmen. Es wird allerdings deutlich - auch durch die Diskussionsbeiträge der Leserzuschriften -, dass er seinen Blickwinkel dabei wesentlich verbreitern muss. Seine Schilderung der Tätigkeit von Parlament und Regierung ist wertvoll für unsere Information. Vorschnell erscheint mir seine Beurteilung über die "erstaunlich schnellen Ergebnisse der friedenspolitischen Kosovo-Erfahrungen". Kann man heute schon von gesicherten Ergebnissen sprechen? Diese dann aber gar noch anzubieten als Lösungsmöglichkeit für einen "neuen Krisenbogen Balkan-Nahost-Schwarzmeer-Kaukasus-Zentralasien-Kaspisches Meer", der das nächste Bewährungsfeld europäischer Politik werden soll? Mir erscheint diese Aussage vor allem in Hinblick auf die realen Möglichkeiten Europas als leichtfertig und verantwortungslos.
Heinrich Klatt, Soderstorf
(FR, 10.05.2001)

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