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Die Überwachten begehren auf

25 000 demonstrierten gegen Erosion der Bürgerrechte/ Polizeiübergriffe am Rande der Demo

»Freiheit statt Angst« - Unter diesem Motto zogen Zehntausende am Sonnabend durch Berlin. Sie prangerten Überwachung und Internetzensur an und forderten einen besseren Datenschutz. Die Demonstration war Teil eines internationalen Aktionstages. Am Rande der Veranstaltung kam es zu Übergriffen der Berliner Polizei.

»Wir brauchen, wir lieben, wir haben, wir mögen, wir leben, wir wollen, alles außer Kontrolle«, sang das Duo Mono und Nikitaman auf der Abschlusskundgebung der »Freiheit statt Angst«-Demonstration auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Rund 25 000 Menschen waren nach Angaben des Veranstalters zuvor gegen Überwachung durch Staat und Unternehmen mit einem bunten Protestzug durch die Innenstadt gezogen.

Auf T-Shirts und Plakaten waren immer wieder die Konterfeis von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit dem Zusatz »Stasi 2.0« und Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen als »Zensursula« zu sehen. Diesen Spitznamen hatte sich die Ministerin für ihr Gesetz zur Einführung von Internetsperren eingehandelt, das nach Ansicht der Netzgemeinde wirkungslos im Kampf gegen Kinderpornografie ist. Aber vor allem gelten die Sperren als Einstieg in eine umfassende Zensur des Internets. Besonders seit der Einführung der Vorratsdatenspeicherung, bei der die Daten von Telefon- und Internetverbindungen aller Bürger erfasst und gespeichert werden, sehen viele die Bundesrepublik auf dem Weg zu einem Überwachungsstaat.

Zu der Großdemonstration hatten Bürgerinitiativen, Internetaktivisten, Gewerkschaften und Berufsverbände von Anwälten, Ärzten, Journalisten sowie Parteien aufgerufen. So waren LINKE, Grüne, FDP und Piratenpartei mit eigenen Demowagen im Protestzug vertreten. »Das Internet darf kein bürgerrechtsfreier Raum werden«, lautete eine der zentralen Forderungen der Demonstranten. Das Ausspionieren des realen öffentlichen Raums mittels Überwachungstechnik thematisierten zahlreiche Demonstranten, indem sie Kamera-Kostüme trugen.

Bereits vor der Großdemonstration hatten am Roten Rathaus bei einer ersten kleineren Kundgebung rund 450 Menschen unter dem Motto »Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn« demonstriert. Unter den Teilnehmern befanden sich auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Petra Pau, ver.di-Chef Frank Bsirske und der Leiter des Datenschutzzentrums Schleswig-Holstein, Thilo Weichert.

Petra Pau bezeichnete in einer kurzen Rede vor dem Roten Rathaus die Vorratsdatenspeicherung als »unsinnig« und warnte vor einem präventiven Sicherheitsstaat. Ver.di-Chef Bsirske verurteilte vor allem das Ausspionieren von Arbeitnehmern durch ihre Vorgesetzten. Der Datenschützer Thilo Weichert konstatierte: »Staat und Wirtschaft legen uns immer mehr elektronische Fuß-, Hand-, und Gehirnfesseln an.«

Der antikapitalistische Block mit etwa 3000 Teilnehmern kritisierte vor allem die zunehmende polizeiliche Repression gegen linke Aktivisten und den Zusammenhang von ökonomischer Krise und gleichzeitiger Verschärfung der Inneren Sicherheit. Einige Polizeibeamte schienen gewillt, diese Thesen zu stützen und prügelten auf friedliche Demonstranten ein. Doch einer der Teilnehmer filmte den brutalen Übergriff und stellte den Kurzfilm noch am Sonnabend ins Internet. Daraufhin sah sich die Polizeiführung gezwungen, gegen die beteiligten Beamten »ein Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt einzuleiten«.

* Aus: Neues Deutschland, 14. September 2009

Dokumentiert:

Redebeitrag von Rolf Gössner

während der Auftaktkundgebung zur Demo "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn" in Berlin am 12. September 2009, Potsdamer Platz

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter!

"Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei" - es ist diese Erkenntnis, die uns antreibt, hier und heute zu demonstrieren: gegen politische Angstmacherei, gegen Überwachungswahn und den Angriff auf die Bürgerrechte.

I. Ein ausufernder Antiterrorkampf bescherte uns eine dramatische Einschränkung der Freiheitsrechte. Eine wahre Flut sogenannter Antiterrorgesetze haben die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft beträchtlich erhöht - angeblich im Namen der Sicherheit, doch mit Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Tatsächlich kommt das Bundesverfassungsgericht kaum noch nach, etliche dieser maßlosen Sicherheitsgesetze für grundrechtswidrig zu erklären. Tatsächlich dokumentiert die hohe An-zahl verfassungswidriger Gesetze ein katastrophales Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse - strenggenommen: ein Fall für den Verfassungs-schutz. Solche parteipolitischen Wiederholungstäter sind eine wahre Gefahr für dieses Land - und sie sind schlichtweg nicht wählbar.

II. Leider ist das nicht alles. Wir erleben auch einen besorgniserregenden Umbau des Staates und eine Entfesselung staatlicher Gewalten. Wir erleben eine Militarisierung der Inneren Sicherheit, in deren Mittelpunkt der Bun-deswehreinsatz im Innern steht. Wir erleben eine zunehmende Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten - zuletzt mit der neuen Abhörzentrale in Köln und mit dem Umbau des Bundeskriminalamtes zu einem zentralen deutschen FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur präventiven Vorfeldausforschung.

Das ist ein skandalöser Vorgang: Denn mit dieser neuen Sicherheitsarchitektur wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Dies verstößt gegen das Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei - einer wichtigen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit. So werden elementare Lehren aus der deutschen Geschichte entsorgt - mit der Folge einer gefährlichen Machtkonzentration der Sicherheitsorgane. So droht der demokratische Rechtsstaat zu einem präventiv-autoritären Sicherheitsstaat zu werden - einem Staat im permanenten Ausnahmezustand, in dem der Mensch zum Sicherheitsrisiko mutiert, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger verloren gehen, Angst und Entsolidarisierung gedeihen.

Und spätestens hier stellt sich die Frage: Soll der Staat mit diesem Umbau und der Anhäufung von Kontroll-Instrumenten auf Vorrat womöglich nicht nur vor Gewaltkriminalität und Terror geschützt werden? Wappnet er sich in Wirklichkeit - gerade in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen - vorsorglich auch gegen mögliche soziale Unruhen und Aufstände? Tatsächlich scheint der präventive Sicherheitsstaat in dem Maße aufgerüstet zu werden, in dem der Sozialstaat abgetakelt wird.

III. Diesem Zerstörungsprozess und der zugrundeliegenden Sicherheitsideologie müssen Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und politisch-soziale Bewegungen, müssen wir alle energischer entgegentreten. Die heutige Demonstration für "Freiheit statt Angst" hier in Berlin ist ein hoffnungsvolles Signal. Genauso wie die fast 35.000 Verfassungsbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeicherung - die größte Massen-beschwerde in der deutschen Rechtsge-schichte. Was ist noch zu tun? Wir müssen dringend das verengte und angstbesetzte Sicherheitsdenken aufbrechen. Wir brauchen einen anderen, einen sozialen, umwelt- und friedenspolitischen Sicherheitsbegriff - einen Begriff von Sicherheit, der auch an Ursachen und Bedingungen von Terror, Gewalt und Kriminalität ansetzt, von denen kaum noch die Rede ist. Denn die Übel dieser Gesellschaft und der Welt lassen sich jedenfalls nicht mit Vorratsdatenspeicherung, Internet-Sperren und Antiter-rorgesetzen bekämpfen, sondern viel mehr mit sozialer Gerechtigkeit, einer neuen Weltwirtschaftsordnung und ei-ner konsequenten Umwelt-, Klima- und Friedenspolitik.

Wir fordern schon heute von der neuen Bundesregierung ein Ende der Politik mit der Angst, wir fordern eine Generalrevision aller "Notstandsgesetze für den Alltag"! Wir fordern auch ein striktes Exportverbot für deutsche Überwachungstechnologien an diktatorische Staaten (wie den Iran)! Und wir wollen einen transparenten demokratischen Staat - und keine gläsernen Bürger unter Generalverdacht!

Und angesichts der vielen staatlichen, aber auch betrieblichen Datenskandale und des oft leichtfertigen Umgangs mit persönlichen Daten - im Internet, beim Einkauf mit Rabatt- und Kreditkarten, am Handy oder in Fernsehshows - brauchen wir auch eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Personendaten, über den Wert von Privat- und Intimsphäre und über das Problem ausufernder Überwachung und sozialer Kontrolle in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Bei der Lösung der drängenden Frage, wie der Ausverkauf der Privatsphäre und die Beschneidung der Kommunikationsfreiheit in einer modernen Informationsgesellschaft gestoppt werden können, sind wir alle gefordert.

** Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist in Bremen; Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Berlin (www.ilmr.de); Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen; Mitherausgeber des "Grundrechte-Reports - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" und als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008 (www.grundrechte-report.de). Seit 10 Jahren Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrotherAward" (www.bigbrotherawards.de). Autor zahlreicher Bücher zur Entwicklung von Polizei, Geheimdiensten und Justiz sowie der Bürgerrechte und des Datenschutzes; zuletzt: "Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der 'Heimatfront'" (Hamburg 2007).
Internet: www.rolf-goessner.de





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