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Nach dem ersten Sozialforum in Deutschland

Porto Alegre in Erfurt?

Von Erhard Crome

Während einer Veranstaltung in Berlin zur Nachlese der Ergebnisse von Porto Alegre, des fünften Weltsozialforums, im Januar stand ein kräftiger älterer Mann auf und fragte laut und fordernd: „Wieviele Divisionen hat denn das Weltsozialform?“ Als ihm dann beschieden wurde, dass es sich hier um einen politischen Raum handelt, den alle betreten können, die einen globalisierungskritischen und gegen die Kriegspolitik der Herrschenden gerichteten Grundkonsensus teilen, hier um Alternativen geistig ringen und untereinander Vernetzung betreiben, antwortete er: „Dann habt ihr doch gegen die Kriegsmaschine von Bush gar keine Chance!“

Das ist die alte Sichtweise, die auch Stalin teilte. Bekanntlich fragte er auf der Potsdamer Konferenz 1945, als es um den Vatikan ging, abschätzig eben dies, wieviele Divisionen der Papst habe. Die Geschichte ging aber so aus, dass es der polnische Papst war, der das Ende des Staatssozialismus sowjetischen Typs einläutete, ohne Divisionen, aber mit der Unterminierung dessen geistiger Legitimität. In gewissem Sinne ist es mit der globalisierungskritischen Bewegung heute ähnlich: Der Neoliberalismus hat die geistige Vorherrschaft verloren, aber herrscht in den Strukturen, bestimmt Regierungen und ihre Politik, sorgt für die Berufung der stromlinienförmigen Wirtschaftsprofessoren, auf die sich dann seine Schreiberlinge in den Großzeitungen berufen, wenn sie kritisches Denken zu verbellen sich bestreben oder arrogant in der Talkshow pöbeln. Und er verbreitet auch weiterhin die Mär, es sei „kein Geld da“; die „kleinen Leute“ sollten den Gürtel noch enger schnallen. In Wirklichkeit ist es natürlich da, nur nicht in den Staatsbudgets für Bildung, in den Renten- und Krankenkassen, sondern im Rüstungshaushalt und in den Taschen der Reichen, denen jahrelang Steuergeschenke gemacht wurden, die aber den Teufel tun, etwa neue Arbeitsplätze „in diesem unserem Lande“ zu schaffen, sondern dieses Geld lieber an den Börsen verzocken.

Das ist die wirkliche Lage. Und das wissen immer mehr Menschen auch in Deutschland. So war es an der Zeit, dass die Idee des Weltsozialforums, die am Beginn des Jahrhunderts von Porto Alegre ausging, nun auch nach Deutschland kam: vom 21. bis 24. Juli fand in Erfurt das erste Sozialforum in Deutschland statt. Kaum ist es beendet, finden hierzulande wieder sehr „deutsche“ Debatten statt: war Erfurt nun „ein Erfolg“ oder nicht? Da müßte zunächst eine Gegenfrage her: Woran mißt man den Erfolg eines Sozialforums? An den Teilnehmerzahlen? Die Organisatoren waren für die interne Planung davon ausgegangen, mit etwa 5000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu rechnen. Bis Freitag abend hatten sich etwa 2500 Menschen angemeldet und den Teilnehmerbeitrag entrichtet, obwohl sie meist selbst mit knapper Kasse leben müssen. Sonnabend kamen noch etliche hinzu; schließlich hatten etwa 3200 Menschen bezahlt. Gespräche mit Veranstaltern ergaben, dass meist auch Menschen an den einzelnen Veranstaltungen teilgenommen hatten, die sich augenscheinlich nicht angemeldet hatten. Da aus Gründen der demokratischen Selbstorganisation eine Kontrolle in der Regel nicht stattfand, konnte es am Ende nur eine Überschlagsrechnung geben: es haben etwa 5000 Menschen an dem Sozialforum teilgenommen.

Ist das nun viel oder wenig? Der Bundes-DGB hatte sich zurückgehalten, der DGB Thüringen dagegen war ein Hauptakteur; ihm war wesentlich zu verdanken, dass das Forum überhaupt in Erfurt stattfinden konnte. Die Gewerkschaft Verdi hatte in der Schlussphase das Forum ganz wesentlich mitunterstützt. Frank Bsirske, der Vorsitzende, hatte am Sonnabend auch auf einer der Konferenzen gesprochen und an der Demonstration am Sonnabend nachmittag teilgenommen. Horst Schmitthenner von der IG Metall war ohnehin seit Anbeginn ein wichtiger Förderer des Forums. Die Gesamtliste der Veranstalter und Unterstützer ist lang: amnesty international, Arbeitsloseninitiative Thüringen, Attac, Brot für die Welt, Fachhochschule Erfurt, GEW, Herrnhuter Brüdergemeinde, Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges, Kurdisches FrauenFriedensbüro, Netzwerk Grundeinkommen, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Runder Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen, Volkssolidarität, Zukunftswerkstatt Jena – um nur einige zu nennen. Insgesamt waren es etwa zweihundert, und sie haben an die dreihundert Veranstaltungen gemacht, von denen die meisten sehr gut besucht waren.

Der Erfolg des Forums ist gewiß nicht vordergründig an Zahlen zu messen, doch auch sie drücken etwas aus, das stattgefunden hat: der Zuspruch zu diesem ersten Sozialforum in Deutschland war groß. Aber vielleicht wäre er größer gewesen, wenn nicht die Bundestagswahl vor der Tür stünde, und wenn es nicht die Linkspartei gäbe. Dies aber wäre eine Frage im Reich der Spekulation. In der wirklichen Welt fragten die Journalisten immer wieder nach dem Verhältnis des Sozialforums zur Linkspartei. Die Antwort, die es immer nur geben konnte, lautete: es gibt keine Wahlaussage des Forums zugunsten einer Partei. Insofern birgt hier die Frage schon die Frustration in sich; wer auch heute noch das Organisationsverständnis von Stalin oder Trotzki im Kopf hat, muss dann natürlich das Forum für einen Misserfolg halten. Nur, bereits sehr früh war auf einem der Vorbereitungstreffen für Erfurt vereinbart worden: Wenn schon das „Markenzeichen“ Sozialforum, dann auch die Charta von Porto Alegre. Und danach fasst das Forum selbst keine Beschlüsse, und es ist niemand autorisiert, im Namen des Forums Erklärungen abzugeben.

Gleichwohl war auf dem Forum klar, wir haben es mit einer neuen Bruchlinie in unserer Gesellschaft zu tun: das sind die Verfechter des Neoliberalismus auf der einen Seite, wozu auch die Parteien der gegenwärtigen Bundestagsfraktionen gehören, und auf der anderen Seite jene, die mit Porto Alegre sagen: „Eine andere Welt ist möglich“. In diesem Sinne befinden sich die Forumsteilnehmer und die Linkspartei auf der gleichen Seite der Bruchlinie. Am Freitag abend hatte in der übervollen Aula des Heinrich-Mann-Gymnasiums eine Debatte zwischen Vertretern sozialer Bewegungen und Parteien-Vertreterinnen stattgefunden. Katja Kipping für die Linkspartei. PDS und Christine Buchholz für die WASG hatten hier sehr argumentativ ihre Positionen vertreten, und das große Interesse der Teilnehmenden ließ die Nähe spüren.

Auch in Deutschland aber gilt, dass die soziale Linke, wie sie in den sozialen Bewegungen ihren Ausdruck findet, und die politische Linke zwei verschiedene Akteure sind, mit je eigenen Interessen und Handlungsweisen. Moema Miranda aus Brasilien brachte das in der Konferenz des Sozialforums zum Thema Globalisierung auf den Punkt, als sie sagte, die sozialen Bewegungen Brasiliens hätten dreißig Jahre lang darum gekämpft, dass es die Regierung Lula gibt. Jetzt aber müsse sich die Linke in Brasilien angesichts seiner realen Politik auf eine kritische Position begeben und sich gleichsam neu erfinden. Wir sollten das jedoch nicht unter einer Verratsperspektive diskutieren, sondern müßten gemeinsam genauer analysieren, welche Spielräume linke Politik unter den Bedingungen der Globalisierung überhaupt haben kann. Das ist allerdings nicht nur eine brasilianische Frage.

In der Versammlang sozialer Bewegungen am Sonntag wurde dann beschlossen: „Ob es gelingt, weiteren neoliberalen Umbau zu verhindern, hängt entscheidend von den Protesten der sozialen Bewegungen vor und nach den Bundestagswahlen ab. Wer auch immer regieren wird und weiteren Sozialabbau betreibt, er muss mit unserem massiven Widerstand rechnen.“ [Siehe die "Erklärung" von Erfurt.] Das ist die originäre Sicht der sozialen Bewegungen. Die Linkspartei will den politischen Protest in den Wahlen bündeln und dann in parlamentarische Oppositionspolitik umsetzen. Das sind in der Tat zwei verschiedene Dinge.

Die Frankfurter Allgemeine hatte es vor allem auf die Debatte von Alternativen abgesehen. Es soll sie aus ihrer Sicht ja auch nicht geben. So hatte sie besonders eine Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufs Korn genommen, in der Moema Miranda und Daniela Dahn zum Thema der Alternativen mit den Teilnehmenden diskutiert hatten. Daniela Dahn verwies auf die Begrenzung, die der Realsozialismus, trotz aller inneren Probleme, in der Welt auf den Kapitalismus ausgeübt hatte. Seit 1990 agiere der Kapitalismus ungehemmt, und er habe „keine innere, genetische Begrenzung“. In der Debatte dazu wurde bestätigt, dass der real existierende Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist und Alternativen neu gefunden werden müssen. Insofern ist auch „Sozialismus“ neu zu denken. Moema Miranda betonte hier, dass die Linke das Recht haben muss, „Nein“ zu den Machenschaften des Neoliberalismus zu sagen, auch wenn sie noch nicht weiß, wie die Alternative einmal aussehen wird. Sie entsteht ohnehin in den politischen und gesellschaftlichen Kämpfen und nicht in den Köpfen der Intellektuellen.

Käthe Reichel las in Erfurt am Sonnabend einen eigenen Text zum Thema Kapitalismus und Krieg. Die Zuhörer lauschten konzentriert und man konnte eine Stecknadel fallen hören. Unter Bezugnahme auf Brecht in der „Kriegsfibel“ und seine Schriften zum Faschismus betonte Reichel seinen Satz, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle zum Faschismus schweigen. Schauen wir die neuen Kriege und die Sicherheitsgesetze im Innern an, so haben wir es mit der Entwicklung von Tendenzen zu tun, die auf Faschismus hinauslaufen, der von Leuten gemacht wird, die sich Antifaschisten und Demokraten nennen. Kunst hat das Recht, auch in der Zuspitzung zu warnen. Käthe Reichels Lesung machte erneut deutlich, dass in diesen Zeiten nicht nur der Dichter und Stückeschreiber Brecht, sondern auch der politische Denker Brecht neu zu sichten ist. Auch wenn eine kurzschlüssige Interpretation nicht weiterhilft, so tut es doch die Anwendung seiner Dialektik.

Das Erfurter Sozialforum hat die unterschiedlichsten politischen und sozialen Kräfte, die in verschiedenen Milieus und Kulturen beheimatet sind, in einen Diskussionszusammenhang miteinander gebracht:
Erwerbsloseninitiativen und Gewerkschaften, Jugendliche, Studenten und Frauenbewegung, MigrantInnen, Umweltschützer, zivilgesellschaftliche Initiativen. Das bleibt. Auch wenn etwa der Streit, ob es vor allem um Arbeit für alle und Mindestlohn oder zuerst um ein bedingungsloses Grundeinkommen auf einem menschlichen Niveau gehen soll, sich fortsetzen wird. Wahrscheinlich muss beides in einen inneren konzeptionellen und politischen Zusammenhang gebracht werden. Dann liegen die Positionen nicht mehr so weit auseinander. Eine andere Welt, das ist mehr Zeit zum Leben, weniger Arbeitshetze und mehr Lebensqualität in einer Welt, die friedlich, solidarisch, sozial, gerecht, umweltverträglich und nachhaltig eingerichtet ist.

Übereinstimmung bestand auch darin, dass es nicht nur um die Opfer der neoliberalen Politik in Deutschland geht, sondern zugleich um eine andere Rolle Deutschlands in der Welt. Das Non zur EU-Verfassung in Frankreich hat auch für die Linke in Deutschland die Möglichkeit eröffnet, die Rolle Deutschlands und EU-Europas in der Welt neu zu denken und von links zu definieren. Solidarität war vielleicht das am meisten Verbindende. Das nächste Sozialforum in Deutschland soll 2007 stattfinden. Es bleibt viel zu tun.

* Dieser Beitrag erschien in der Wochenendbeilage des "Neuen Deutschland", 30. Juli 2005


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