"Von Ihnen als meinem Volksverteter hätte ich gern eine Stellungnahme"
Ein Briefwechsel zum EU-Verfassungsvertrag: Gert Weisskirchen (SPD) antwortet Karin Becker
Unter der E-mail-Adresse "Frauenliste Wiesloch" hat das Gemeindesratsmitglied Karin Becker von der "Frauenliste Wiesloch" (Wiesloch liegt in Baden-Württemberg) den
außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Gert Weisskirchen in Sachen EU-Verfassung angeschrieben. Karin Becker erläutert: "Ich bin seit 15 Jahren aktiv in der ödp. Herr Weiskirchen wohnt - wie ich auch - in Wiesloch, ist Bundestagsabgeordneter in meinem Wahlkreis. Seit 15 Jahren trete ich bei
Bundestagswahlen sozusagen gegen ihn an. Er kennt mich also - hat mir gleich geantwortet."
Im Folgenden dokumentieren wir - mit Einverständnis von Karin Becker - den kleinen Briefwechsel. Zur erweiterten Argumentation der EU-Verfassungsbefürworter und deren Gegner verweisen wir auf die letzten Beiträge auf unserer Homepage:
"EU-Verfassung kontrovers" - Teil 1 und Teil 2.
Sehr geehrter Abgeordnete Weisskirchen,
am 12. Mai 2005 werden Sie als mein Volksverteter im Bundestag über
den EU-Verfassungsentwurf abstimmen. Mit dieser Entscheidung treten verfassungsrechtliche Bestimmungen in Kraft, die Teile unseres Grundgesetzes in Frage stellen bzw. Tatbestände mit Verfassungsrang versehen, die m.E. nicht in eine Verfassung gehören.
Diesbezüglich möchte ich Ihre Aufmerksamkeit besonders auf folgenden Tatbestand lenken:
EURATOM
Durch Aufnahme des EAG-Vertrages in die EU Verfassung erhält die
Atomtechnologie Verfassungsrang! Somit wäre also ein Ausstieg aus der
Atomenergie ein Verfassungsverstoß (siehe EU Verfassungsentwurf, Teil
IV, S. 398). Ihre Zustimmung zu diesem Passus würde den von Ihnen und
Ihrer Partei geäußerten energiepolitischen Zielsetzungen widersprechen
und wäre zudem ein Schlag ins Gesicht aller BürgerInnen, die sich für
Nachhaltigkeit im Energiesektor einsetzen. Wären wir (!) dann
Verfassungsfeind bzw. Verfassungsfeindin?
Der Verfassungsentwurf enthält darüberhinaus weitere Regelungen, die
nicht Verfassungsrang bekommen dürfen, weil damit Fakten geschaffen
werden, die eigentlich der öffentlichen Meinungsbildung unterliegen sollten:
-
Art.III-177 schreibt die "offene Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb" fest. Bedeutet dies das Ende der sozialen Marktwirtschaft?
Entfällt jegliche Sozialbindung des Eigentums?
-
Art.I-41 in Verbindung mit Art.III-310 formuliert die Verpflichtung der EU Mitgliedsstaaten zu ständiger Aufrüstung.
-
Weiterhin fehlt das Initiativrecht des EU-Parlamentes im Gesetzgebungsverfahren - ein gravierender demokratischer Mangel!
Meine Angaben zum Verfassungsentwurf beziehen sich auf die Veröffentlichung, die beim Auswärtigen Amt unter der Tel.Nr. 030-50004990 kostenlos erhältlich ist.
Ich möchte übrigens betonen, dass ich als überzeugte Europäerin für eine Eurpäische Verfassung bin, nicht aber für eine Verfassung in der Form des vorliegenden Entwurfs.
Von Ihnen als meinem Volksverteter hätte ich gern eine Stellungnahme zu den von mir genannten Punkten.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Karin Becker
Sehr geehrte Frau Becker,
herzlich danke ich für Ihren Brief, der die Ratifizierung des
EU-Verfassungsvertrags zum Gegenstand hat. Ihre Sorgen sehe ich auch.
Dennoch halte ich Ihr apodiktisches Urteil für überzogen. Zunächst
bleibt fest zu halten: das Grundgesetz der BR Deutschland wird in seiner Essenz wie auch in seiner Wirkungsmacht nicht geschmälert. In so weit bleibt der Charakter unserer Republik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat unberührt. Das gilt im besonderen für die von Ihnen heran
gezogenen Einzelfragen:
1. Euratom
Der Ausstieg aus der Atomenergie ist und bleibt Merkmal der rot-grünen
Bundesregierung. Andere Mitgliedsstaaten in der EU sehen das anders. Der Kurs unserer Bundesregierung wird sich mit der Ratifizierung des Vertrags und danach nicht verändern. Wohl aber sind wir aufgefordert, im transnationalen Dialog die politischen Einstellungen innerhalb der EU zu beeinflussen.
2. Soziale Marktwirtschaft
Ein europäisches Sozialstaats-Modell ist im Entstehen begriffen.
Annähernde Vergleichbarkeiten sind bereits jetzt in Skandinavien und in
Zentraleuropa zu erkennen. Im Europäischen Parlament wird darüber seit
seiner Neuwahl intensiver als zuvor debattiert. Für die BR Deutschland
bleiben dabei die entscheidenden Artikel des GG unverzichtbar. Das gilt
insbesondere für die Sozialbindung des Eigentums.
3. EU als militärische Macht
Bereits heute verfügt die EU über eine höhere Anzahl von Soldaten als
z.B. die USA. Allerdings hat die EU es bislang nicht geschafft, ihre
Fähigkeiten effizient und kohärent zu bündeln. Die einschlägigen Artikel im Verfassungsvertrag verstehe ich so, dass sie dazu anhalten sollen, die militärischen Fähigkeiten in der EU insgesamt zu modernisieren, damit die EU auf weite Sicht unabhängiger von anderen Militärbündnissen
zu werden.
4. Legislatives Initiativrecht des EP
Es liegt im deutschen Interesse, dass das EP sich parlamentarische
Rechte Schritt für Schritt aneignet. Wer vorurteilsfrei sich die
historische Entwicklung des EP anschaut, wird erkennen, dass dieses
Parlament sich auf dem Wege hin zu voller Wertigkeit befindet. Manches
bleibt dabei noch zu tun.
Anders als Sie komme ich zu folgendem Schluß in der Bewertung des
vorliegenden Verfassungsvertrags:
Wer den aktuellen Kompromiß ablehnt, der nimmt in Kauf, dass es einen
neuen Anlauf für einen neuen verfassungsgebenden Prozeß braucht. Dabei
ist keineswegs gesichert, dass es danach einen Text geben wird, der
besser ist als der gegenwärtige. Eher muß befürchtet werden, daß, falls
der vorliegende Entwurf abgelehnt werden würde, der europäische Gedanke
weit zurück geworfen wird mit unabsehbar negativen Folgen für den
Einheitsprozeß.
Deshalb werde ich dem Verfassungsvertrag zustimmen, weil in ihm eine
hinreichende Zahl positiver Entwicklungsmomente zu finden sind, die
fruchtbar gemacht werden können für die historisch einmalige Chance,
allen Europäerinnen und Europäern einen gemeinsamen
verfassungsvertraglichen Rahmen zu geben, den sie künftig selbst
umgestalten können. Gerade wer die Unzulänglichkeiten des vorliegenden
Textes erkennt, aber weiß: diese Unzulänglichkeiten können durch
politisches Handeln in der Zukunft abgebaut werden, darf diese Chance
nicht verspielen.
Mit freundlichen Grüßen
Gert Weisskirchen
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