"Bundestag nickt EU-Verfassung ab" - "Europa in schlechter Verfassung"
Zwei Erklärungen aus der Friedensbewegung zur Abstimmung im Bundestag über die EU-Verfassung
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Presseerklärungen, die anlässlich der Bundestagsdebatte und Abstimmung über die EU-Verfassung am 12. Mai 2005 veröffentlicht wurden. Die Debatte im Parlament finden Sie hier dokumentiert: Die Reden im Bundestag im Wortlaut.
Bundestag nickt EU-Verfassung ab - Skepsis in der Bevölkerung bleibt
Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag-
Bundestag ratifiziert EU-Verfassungsvertrag
- "Friedensbewegung": Tiefpunkt politischer Ehrlichkeit und Transparenz
- Abgeordnete heben nur die "Schönwetterpassagen" hervor
- Kritik aus der Gesellschaft findet nicht statt
Kassel, 12. Mai - Die Debatte um die EU-Verfassung war ein Tiefpunkt an
politischer Ehrlichkeit und Transparenz. Dieses Fazit zog ein Sprecher
des Bundesausschusses Friedensratschlag im Anschluss an die Abstimmung
im Bundestag, die ein überwältigendes Ergebnis für die Ratifizierung des
Verfassungstextes erbrachte.
Wenn 569 Abgeordnete (von insges. 594) den Verfassungsvertrag absegnen und nur 23 dagegen stimmen (bei 2 Enthaltungen), dann zeige dies, wie weit sich der Bundestag von den politischen Meinungen und Haltungen der Bevölkerung entfernt hat. Repräsentative Umfragen in Deutschland haben in den letzten Wochen eine relativ stabile Pattsituation zwischen Befürwortern und Gegnern der Verfassung belegt, wobei die Anzahl der Bürger/innen, die sich überhaupt keine Meinung gebildet haben, erschreckend hoch ist.
Diesen Eindruck hatte auch die Friedensbewegung, die gestern in vielen
Städten an zentralen Orten unter Passanten Probeabstimmungen
veranstaltet haben:
Der größte Teil der Passanten hat sich nicht beteiligt, weil er sich
nicht oder nur unzureichend informiert fühlt. Diejenigen, die abgestimmt
haben (bisher liegen uns etwa 3.000 Stimmzettel aus 20 Städten vor),
haben vor allem kritisiert, dass es in Deutschland kein Referendum über
die EU-Verfassung gibt (mehr als 90 %), dass die Verfassung ihre
Mitgliedstaaten zur permanenten Verbesserung ihrer militärischen
Fähigkeiten verpflichtet (83 %) und dass die Verfassung
EU-Militäreinsätze rund um den Globus ermöglicht (78 %). Auf die
abschließende Frage, ob "Sie nach Ihrem jetzigen Kenntnisstand eher für
oder gegen die EU-Verfassung" stimmen würden, haben nur 70 Prozent
geantwortet. Von ihnen sprach sich aber eine klare Mehrheit (76 %) gegen
die Verfassung aus (berechnet auf die Gesamtzahl der 3.000 Befragten
sind das immerhin 53 %).
In der Bundestagsdebatte spielten die kritischen Einwände von globalisierungskritischer Seite oder von Seiten der Friedensbewegung so gut wie keine Rolle. Satt dessen wurde das Vertragswerk abgefeiert als "historisch" (Schröder) bis "alternativlos" (Gerhardt), die EU gar als "Friedens- und Wertegemeinschaft" (Merkel) hingestellt. Es ist beschämend für die höchste demokratische Instanz der Bundesrepublik, wenn die EU-Verfassung nur in ihren Schönwetterpassagen zitiert wird. Kein Wort von der Aufrüstungsverpflichtung, der sich laut Art. 41, Abs. 3, alle Mitgliedsstaaten unterwerfen, kein Wort von den europäischen Streitkräften, die auch ohne UN-Mandat in aller Welt Kriege führen dürfen (Art. 309, 1), kein Wort auch von der "Verteidigungsagentur" (Art. 41, 3), die künftig so etwas wie einen überstaatlich organisierten militärisch-industriellen Komplex bilden soll. Und kein Wort davon, dass die Außen- und Sicherheitspolitik auch künftig vom EU-Parlament nicht mit entschieden werden kann (das EU-Parlament kann nur "gehört" werden).
Das Verschweigen solcher militärischer Implikationen des EU-Verfassungsvertrags liegt ganz auf der Linie der bisherigen Desinformationspolitik von Bundesregierung und etablierten Parteien. Statt wirklich Transparenz herzustellen und den Bürger/innen klaren Wein einzuschenken, wetteiferte die politische Klasse im Tarnen und Täuschen. Es ist traurig, wenn eine einzige Abgeordnete - Frau Gesine Lötzsch (PDS) - eine Reihe kritischer Einwände der Friedensbewegung in die Debatte eingebracht hat.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag wird seine Kampagne gegen diese EU-Verfassung fortführen. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Und es wird Zeit, dass die Abgeordneten des "deutschen Volkes" das Meinungsspektrum der Bevölkerung realitätsnäher abbilden. Sonst ereilt den Bundestag ein ähnliches Schicksal wie das Europäische Parlament: Es wird nicht mehr wahr- oder Ernst genommen, weil man sich von ihm nicht vertreten fühlt.
Es wird sich als schwer wiegender historischer Fehler herausstellen, dass der deutschen Bevölkerung eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung verweigert wurde. Identifikation mit der Verfassung und der EU insgesamt kann auf diese Weise nicht entstehen. Zu befürchten ist eine innere Abkehr vom europäischen Gedanken und eine Zunahme nationalistischer Tendenzen. Gerade wenn man, wie die Friedensbewegung, für ein friedliches, demokratisches und soziales Europa eintritt, muss man gegen diese Verfassung sein.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)
Europa in schlechter Verfassung - Chance verpasst
Zur heutigen Ratifizierung der europäischen Verfassung im Bundestag erklärt Roland Blach, Beauftragter der DFG-VK in der Kampagne "Europa in schlechter Verfassung":
"Mit der heutigen Ratifizierung der EU-Verfassung wurde leider eine große Chance verpasst. Die Einbindung der Bevölkerung durch einen Volksentscheid, wie er z.B. in zwei Wochen in Frankreich durchgeführt wird, hätte die Chance eröffnet breit über die Arbeit und Ziele der Europäische Union zu diskutieren. Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) hat sich im Verbund mit vielen anderen Organisationen der friedens- und globalisierungskritischen Bewegung in den letzten Monaten wiederholt dafür eingesetzt, wichtige relevante Passagen des EU-Verfassungsvertrags in die Öffentlichkeit zu tragen.
Trotz vehementer Angriffe von Seiten der Verfassungsbefürworter aus Politik und Medien, die sich offensichtlich zum Großteil dem Orwellschen Neusprech verschrieben haben, müssen wir festhalten, dass
-
sich die Mitgliedsstaaten verpflichten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Artikel I-40): eine Aufrüstungsverpflichtung, die es in keiner anderen Verfassung gibt und die nichts in einer Verfassung zu suchen hat
-
sich die Mitgliedsstaaten auch zu "Kampfeinsätzen als Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet" (Artikel III-210) verpflichten: ein extrem weit gefasstes Mandat mit völlig offener Grenzziehung.
Die Einbindung in die "Europäische Sicherheitsstrategie" hat der EU-Generalsekretär und Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, folgerichtig und deutlich ausgeführt: "Eine Union mit 25 Mitgliedern und einem Verteidigungsgesamthaushalt von 160 Milliarden Euro sollte in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig auszuführen. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die frühe, schnelle und, falls erforderlich, robuste Interventionen fördert." In der EU-Militärstrategie heißt es weiter: "Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen". Die Grenze zum Angriffskrieg ist durchlässig.
Statt einer Militarisierung der europäischen Politik, die durch die EU-Verfassung zementiert wird, brauchen wir ein konsequentes Bekenntnis der EU zur zivilen Konfliktbearbeitung und zur Bereitstellung von mehr Mitteln dafür. Nötig sind Schritte zur Abrüstung, nicht zur Aufrüstung.
Ein Scheitern der Verfassung, z.B. durch eine Ablehnung in Frankreich, könnte die Chance eröffnen, ohne Zeitdruck breite Bevölkerungskreise in eine Debatte einzubinden. Eine Debatte, die sich zum Ziel setzt, sich gemeinsam für ein ziviles, solidarisches, demokratisches und ökologische Europa einzusetzen.“
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