Friedensbewegung will öffentliche Diskussion über die Verteidigungspolitischen Richtlinien erzwingen
Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag - und eine Presseerklärung der DFG-VK
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Stellungnahmen aus der Friedensbewegung zu den "Verteidigungspolitischen Richtlinien", die am 21. Mai 2003 im Kabinett vorgestellt wurden.
Doch zunächst die offizielle Mitteilung über die Kabinettsvorlage durch das Verteidigungsministerium:
Neue Marschrichtung für die Bundeswehr
Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums, 21. Mai 2003
Mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) stellt
Verteidigungsminister Peter Struck die
sicherheitspolitischen Weichen für Deutschland. Am 21. Mai
2003 präsentierte er die VPR in Berlin.
Die veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa und
der Welt hatte die Neuausrichtung der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik notwendig gemacht. Die herkömmliche
Landesverteidigung hat an Bedeutung verloren, die Reaktion
auf internationale Konflikte, asymmetrische Bedrohungen,
Terrorismus und Massenvernichtungswaffen dagegen steht im
Focus deutscher Sicherheitsfragen. Damit
verändern sich die Aufgaben der Bundeswehr. Für sie
werden zukünftig Einsätze zur Konfliktverhütung und
Krisenbewältigung im Mittelpunkt stehen. Gemeinsam mit den
Bündnispartnern in EU und NATO und eingebunden in das
multinationale Umfeld von VN und OSZE wird sich Deutschland
verstärkt diesen Aufgaben widmen. Diese Einsätze
werden die zukünftige Struktur der Bundeswehr bestimmen.
Zu den militärischen Kernfähigkeiten gehören
Führungsfähigkeit, Nachrichtengewinnung und Aufklärung,
Mobilität, Wirksamkeit im Einsatz, Unterstützung und
Durchhaltefähigkeit und Überlebensfähigkeit und Schutz.
Die allgemeine Wehrpflicht bleibt in angepasster Form für
Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und
Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr unabdingbar. Die
VPR werden im Planungsstab des Bundesministers der
Verteidigung erarbeitet und dienen als Rahmenvorgabe für
weitere Planungsdokumente wie die "Konzeption der
Bundeswehr" (KdB) oder den Bundeswehrplan des
Generalinspekteurs. Die
letzten VPR stammen aus dem Jahr 1992, davor wurde das Dokument zwei Mal - 1972 und 1979 -
erstellt.
***
Pressemitteilung
Friedensbewegung will öffentliche Diskussion über die
Verteidigungspolitischen Richtlinien erzwingen
Zu den heute im Kabinett vorgestellten neuen Verteidigungspolitischen
Richtlinien (VPR) gaben die Sprecher des Bundesausschusses
Friedensratschlag, Lühr Henken (Hamburg) und Peter Strutynski (Kassel),
folgende Erklärung ab:
1) Der Bundesausschus Friedensratschlag stellt kritisch fest:
a) Die neuen VPR sprengen den Rahmen, den das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland der Bundeswehr gesetzt hat (Art. 87a), und
zwar sowohl
-
in Bezug auf die weltweit möglichen Auslandseinsätze, also auch
- in Bezug auf den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.
b) Die VPR bedeuten eine grundlegende Umorientierung der Bundeswehr hin
zu weltweiten Militär- und damit Kriegseinsätzen.
c) Die VPR forcieren die Militarisierung der EU.
d) Die Umsetzung der VPR hat neue teure Rüstungsbeschaffungsmaßnahmen
zur Folge.
2) Der Bundesausschuss Friedensratschlag begrüßt, dass eine Übernahme
der völkerrechtswidrigen US-Doktrin des "Präventivkriegs" durch die VPR
weder der Form noch der Sache nach nicht erfolgte.
3) Der Bundesausschuss Friedensratschlag warnt davor, den
koalitionsinternen Streit um die Allgemeine Wehrpflicht und die Debatte
um einige Bundeswehrstandortschließungen überzubetonen. Die zentrale
Frage, ob die Bundeswehr Interventionsarmee wird oder nicht, bleibt
nämlich davon unberührt.
4) Der Bundesausschuss Friedensratschlag ruft die Bundesregierung auf,
über die VPR und die Zukunft der Bundeswehr in einen breiten
gesellschaftlichen Dialog einzutreten, so wie das Bundespräsident Rau in
seiner "Berliner Rede" vom Dienstag (20.05.2003) gefordert hat.
Die Stellungnahme des Bundesausschusses im Einzelnen (Langfassung):
1. Die neuen VPR stellen zutreffend fest, dass es "eine Gefährdung des
deutschen Staatsgebiets durch konventionelle Streitkräfte derzeit und
auf absehbare Zeit nicht gibt". Aus diesem positiven Resultat des Endes
der Ost-West-Konfrontation zieht die Bundesregierung jedoch keine
entsprechende Konsequenz: substanzielle Abrüstung. Der Abrüstung im
Osten Europas fehlt die Entsprechung im Westen. Während die russischen
Militärausgaben nach konservativen Berechnungen heute lediglich noch ein
Sechstel der sowjetischen im Jahre 1985 betragen, sind jene der
europäischen NATO-Staaten im gleichen Zeitraum lediglich um 30 Prozent
gesunken. Die Einsparungen durch Abrüstung würden Milliarden für
Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge und Arbeitsplätze freisetzen.
2. Die neuen VPR stellen fest, dass sich Bundeswehreinsätze künftig
"weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen
lassen." Mit anderen Worten, die Bundeswehr wird im breiten Spektrum von
humanitärer Hilfe über Peacekeeping und Terroristenbekämpfung bis zum
Krieg rund um den Globus eingesetzt. Verteidigungsminister Struck hat
mit seinem markigen Ausspruch, dass Deutschland auch am Hindukusch
verteidigt werde, deutlich gemacht, dass seine Reform den endgültigen
Abschied von einer Verteidigungsarmee darstellt, wie sie im Grundgesetz
vorgeschrieben ist. (Art. 87a).
3. Die neuen VPR orientieren die Bundeswehr auf den weltweiten Einsatz
und setzen dabei sowohl auf die NATO als auch auf "selbständiges
europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein will oder muss." Das
Schwergewicht der deutschen Interessen liegt dabei in der
Militarisierung der Europäischen Union. Die rot-grüne Bundesregierung
ist bestrebt, die EU-Militärpolitik zu prägen. Sie bietet mit 18.000
Mann das größte nationale Kontingent der 80.000-Mann starken schnellen
Eingreiftruppe auf, die in diesem Jahr einsatzfähig sein soll, und
stellt sogar ein Drittel des 100.000-Mann-Pools, aus dem die Truppe dann
jeweils zusammengesetzt wird. Deutschland wird ab 2005 als einziger
EU-Staat über ein weltumspannendes Spionagesatellitensystem verfügen.
Bei der EU-Eingreiftruppe handelt es sich nicht nur um eine
"militärische Komponente" (Bundespräsident Rau), sondern um eine
veritable Streitmacht, die neben Heeresverbänden und 336 Kampfflugzeugen
auch 100 Schiffe umfasst (davon u.a. 4 Flugzeugträger, 17 Fregatten, 5
Korvetten und 7 U-Boote). Die Ausrichtung der EU auf eine
Militarisierung ist der grundfalsche Weg. Sie führt zu einem neuem
Wettrüsten.
4. Die neuen VPR erwecken den Eindruck eines sich selbst beschränkenden
und zurückhaltenden Militärgebarens Deutschlands, das zudem finanziellen
Restriktionen unterworfen sei. Dass dem nicht so ist, wird angesichts
der massiven Aufrüstung der Bundeswehr deutlich: In Auftrag gegeben
wurden u.a.:
180 Eurofighter
80 High-Tech-Kampfhubschrauber Tiger
600 Marschflugkörper für Tornados und Eurofighter
3 neue Fregatten
5 neue Korvetten (vor allem für den Beschuss von See an Land)
4 supermoderne U-Boote
60 strategische Lufttransportmaschinen Airbus
und ein nationales weltweit nutzbares Radaraufklärungssatellitensystem
für die Bundeswehr.
Außerdem werden kostenintensive Entwicklungen fortgesetzt, wie die eines
taktischen Luftverteidigungssystems, das 10 bis 15 Mrd. Euro
verschlingen wird, und das zwar nicht für die Landesverteidigung taugt,
aber für die Auslandseinsätze. Seriöse Schätzungen gehen von Kosten in
Höhe von 140 bis 150 Mrd. Euro lediglich für neue Waffen und
Ausrüstungen in den kommenden 20 Jahren aus. Mittel, die dazu dienen
sollen, die Bundeswehr Prestige zu verschaffen und zu einem global
einsetzbaren Instrument der deutschen Außenpolitik zu machen.
Die massiven sozialen Probleme hierzulande und in der Welt verlangen
wahrlich eine andere Prioritätensetzung.
5) Die neuen VPR sollen der Bundeswehr den Einsatz im Innern "zum Schutz
der Bevölkerung und lebenswichtiger Infrastruktur des Landes vor
terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen" ermöglichen. Im Entwurf
heißt es, dass "die Streitkräfte immer dann zur Verfügung stehen, wenn
nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der
Schutz der Bürger und kritischer Infrastruktur ein erheblicher
Personaleinsatz erforderlich macht." Das Grundgesetz (Art. 115a)
schreibt vor, dass dieser Einsatz die Feststellung des
Verteidigungsfalles durch den Bundestag voraussetzt. Eine Berufung
allein auf Art. 35 des Grundgesetzes, welcher in besonderen Fällen den
Einsatz der Bundeswehr bei Unglücken und Katastrophen ermöglicht, ist
unzulässig.
6. Die neuen VPR scheinen in der jüngsten Fassung in punkto
"Präventivkrieg" entschärft worden zu sein. Unmittelbar nach dem von
weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnten Irakkrieg, der entsprechend
der Bush-Doktrin den Präzedenzfall eines Präventivkrieges darstellt, war
das Anliegen der konservativen Generalität und der CDU/CSU wohl (noch?)
nicht durchsetzbar. So wurde ebenfalls in letzter Minute in die
Kabinettsvorlage der Passus aufgenommen, dass der UN-Sicherheitsrat "die
Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit" trage. Dieser Kern des Artikels 24 der
UN-Charta ist de jure von jedem UNO-Mitgliedsstaat anerkannt - nicht
jedoch von der von der derzeitigen US-Regierung geführten "Koalition der
Kriegswilligen". Allerdings war sie auch für die deutsche Regierung
keine Selbstverständlichkeit, als sie 1999 mit der NATO zusammen
Jugoslawien bombardieren ließ. Insofern ist diese demonstrative
Feststellung in den VPR zu begrüßen. Auch ist fraglich, wie lange dieser
Passus tragfähig bleibt, um Krieg verhindern zu können, angesichts einer
Debatte, die darauf abzielt, die UN-Charta "weiterzuentwickeln", so dass
militärische Einmischungen in innere Angelegenheiten anderer Staaten
erleichtert werden.
7) Die neuen VPR halten an der Wehrpflicht fest. Die insbesondere von
den Grünen dauerhaft in die Debatte eingeworfene Frage der Abschaffung
der Wehrpflicht überlagert allerdings das Kernthema und lenkt vom
Wesensgehalt der VPR ab, die darauf abzielen, die Bundeswehr zur
weltweit einsetzbaren Angriffsfähigkeit auszubauen. Dies kann unabhängig
von der Wehrform geschehen. Gleichwohl wäre die Aufhebung der
allgemeinen Wehrpflicht ein erster Schritt zur Aufhebung aller
Zwangsdienste.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Regierung Kohl aus dem
Jahre 1992 waren ein Meilenstein für die Bildung der
"Krisenreaktionskräfte", mit denen der Nachkriegskonsens der deutschen
militärischen Zurückhaltung Stück für Stück aufgebrochen wurde. Die
rot-grüne Regierung stellte bereits im Jahr 2000 diese Richtlinien in
den Schatten, als sie beschloss, bis 2006 die sogenannten Einsatzkräfte
verdreifachen zu wollen. Mit den neuen Richtlinien strebt die Regierung
an, die europäische Zentralmacht Deutschland zu einem permanenten
militärischen globalen Akteur zu machen. Dies widerspricht dem
Friedensgebot der UN-Charta (Art. 2) und des Grundgesetzes (Art. 26) und
kann nicht im Interesse der Bevölkerung liegen. Die Friedensbewegung
fordert daher eine breite öffentliche Debatte über den künftigen Kurs
der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg, Peter Strutynski, Kassel
Hamburg/Kassel, den 21. Mai 2003
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DEUTSCHE FRIEDENSGESELLSCHAFT - VEREINIGTE KRIEGSDIENSTGEGNERINNEN (DFG-VK)
-PRESSEMITTEILUNG vom 21.05.2003-
Krieg als Normalfall?
Das aggressivste Bundeswehrprogramm seit 1945
"Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Minister Struck heute
vorgestellt hat, stellen das aggressivste deutsche Militärprogramm seit dem
Zweiten Weltkrieg dar", kommentiert Jürgen Grässlin, Bundessprecher der
DFG-VK. Wenn davon geredet werde, dass sich Verteidigung "geographisch nicht
mehr eingrenzen" lasse, bedeute dies "die Androhung von Krieg in allen
Richtungen". Hinter der Rhetorik von Sicherheit und Stabilität verberge sich
eine Absage an jede Form von Entspannung und Verständigung: "Die Welt wird
unsicherer, wenn die Bundeswehr überall potentielle Einsatzgebiete sieht."
"Mit diesen Richtlinien verabschiedet sich die Bundeswehr vom Grundgesetz",
so Grässlin weiter. Die Zuweisung von Kriegseinsätzen out of area als neue
Hauptaufgabe sei mit dem Artikel 87a GG - "Der Bund stellt Streitkräfte zur
Verteidigung auf" - unvereinbar.
Dem behaupteten Ziel, Schutz vor Terrorangriffen zu bieten, werde die
Bundesregierung durch vermehrte Militäreinsätze nicht näherkommen, so
Grässlin. In diesem Bereich führe nichts darum herum, die politischen und
sozialen Ursachen von Terror zu beheben. Gerade dies sei aber offenbar nicht
angestrebt. Der Hinweis in den Richtlinien auf für die deutsche Wirtschaft
wichtige Transportwege und Handelsrouten lasse erkennen, was das
tatsächliche Motiv für die "Armee im Einsatz" sei.
Die Bundesregierung müsse zur Kenntnis nehmen, dass Bodenschätze jenen
gehören, in deren Land sie liegen, so Grässlin. "Egal, ob die Bundeswehr am
Hindukusch steht, am Persischen Golf oder wo auch immer künftig deutsche
Begehrlichkeiten entstehen mögen: Dort wird nichts verteidigt, sondern es
werden proklamierte deutsche Interessen mit Angriffskriegen durchgesetzt."
Die DFG-VK sieht auch keine Veranlassung, die Möglichkeiten für einen
Bundeswehreinsatz im Innern zu erweitern. Es steht vielmehr zu befürchten,
dass dadurch versucht wird, den Alltag zu militarisieren.
Angesichts der bedrohlich zu nennenden Selbstverständlichkeit, mit der Krieg
zum Normalfall deutscher Außenpolitik werden soll, wird der Widerstand gegen
die von deutschem Boden ausgehenden Aggressionen wichtiger denn je. Die
DFG-VK wird jeglichen Kriegsplänen weiterhin entschieden entgegentreten und
verweist zugleich auf die Alternativen, wie sie etwa in der DFG-VK-Kampagne
"Schritte zur Abrüstung" formuliert sind. Die Kampagne fordert einen
schrittweisen Abbau des Militärs und die Umschichtung freiwerdender Mittel
zugunsten der Friedenssicherung.
Frank Brendle
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Die neuen "Verteidigungspolitische Richtlinien" 2003 im Wortlaut
Erlassen vom Bundesverteidigungsministerim am 21. Mai 2003
Die alten VPR im Wortlaut: "Verteidigungspolitische Richtlinien 1992"
Erlassen vom Bundesverteidigungsministerim am 26. November 1992
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