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Verteidigungspolitische Richtlinien 2003

Erlassen vom Bundesminister für Verteidigung am 21. Mai 2003 (voller Wortlaut)

Im Folgenden dokumentieren wir die Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) vom 21. Mai 2003 im vollen Wortlaut. Quelle: www.bundeswehr.de). Eine kritische Stellungnahme hierzu aus der Friedensbewegung können Sie hier lesen: "Friedensbewegung will öffentliche Diskussion über die Verteidigungspolitischen Richtlinien erzwingen" .


Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung
Mitglied des Deutschen Bundestages
Berlin, 21. Mai 2003

Hiermit erlasse ich die
VERTEIDIGUNGSPOLITISCHEN RICHTLINIEN
für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung

Inhalt
  • I. VPR für ein verändertes sicherheitspolitisches Umfeld (Seite 3, die Seitenangaben beziehen sich auf den gedruckten Text)
  • II. Kernaussagen (S. 4)
  • III. Deutsche Sicherheit: Risiken und Chancen (S. 6)
  • IV. Prinzipien und Interessen deutscher Sicherheitspolitik S. 9)
  • V. Deutsche Verteidigungspolitik (S. 10)
    V.1 Multinationale Einbindung (S. 11)
    V.2 Bundeswehr im Einsatz (S. 13)
    V.3 Ressourcen (S. 14)
  • VI. Auftrag der Bundeswehr (S. 16)
  • VII. Aufgaben der Bundeswehr (S. 17)
  • VIII. Folgerungen für die Bundeswehr (S. 20)
    VIII.1 Umfang und Struktur der Bundeswehr (S. 21)
    VIII.2 Fähigkeiten der Bundeswehr (S. 22)
I. VPR für ein verändertes sicherheitspolitisches Umfeld

1. Die Sicherheitslage hat sich grundlegend gewandelt. Neue sicherheitspolitische Risiken und Chancen verlangen veränderte Fähigkeiten.

2. Auftrag, Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr orientieren sich konsequent an der zu erwartenden Sicherheitslage und den sicherheitspolitischen Verpflichtungen Deutschlands als NATO-und EU-Partner. Gleichzeitig berücksichtigen sie die Ressourcenlage.

3. Die begonnene umfassende Reform der Bundeswehr wird weiter entwickelt. Gewichtung und Ausgestaltung der Aufgaben der Bundeswehr unter den neuen strategischen Bedingungen stehen hierbei im Vordergrund. Die Allgemeine Wehrpflicht bleibt in angepasster Form für Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr unabdingbar.

4. Die Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr und die daraus resultierenden konzeptionellen und strukturellen Konsequenzen entsprechen dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat.

5. Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein. Dementsprechend lässt sich Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist. Die Vereinbarkeit internationaler Einsätze der Bundeswehr, die im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit durchgeführt werden, mit der Verfassung wurde durch das Bundesverfassungsgericht und den Deutschen Bundestag bestätigt.

6. Deutsche Verteidigungspolitik ist das Handeln Deutschlands zur Sicherheitsvorsorge im Rahmen seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Streitkräfte sind ein wesentlicher Teil einer auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten zielenden Außen- und Sicherheitspolitik.

7. Diese Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR)
  • legen die Grundsätze für die Gestaltung der Verteidigungspolitik fest,
  • bestimmen im Rahmen der gesamtstaatlichen Vorsorgepflicht für die Sicherheit Deutschlands den Auftrag der Bundeswehr, gewichten deren Aufgaben und machen Vorgaben für die Fähigkeiten der Streitkräfte der Zukunft.
8. Die VPR sind die verbindliche Grundlage für die Arbeiten im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Sie werden angesichts der Dynamik der sicherheitspolitischen Herausforderungen regelmäßig überprüft und weiterentwickelt.

II. Kernaussagen

9. Das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands ist durch veränderte Risiken und neue Chancen gekennzeichnet. Eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und auf absehbare Zeit nicht. Das Einsatzspektrum der Bundeswehr hat sich grundlegend gewandelt.

10. Die sicherheitspolitische Lage erfordert eine auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten zielende Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die das gesamte Spektrum sicherheitspolitisch relevanter Instrumente und Handlungsoptionen umfasst und auf gemeinsamem Handeln mit Verbündeten und Partnern aufbaut. Für die Bundeswehr stehen Einsätze der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie zur Unterstützung von Bündnispartnern, auch über das Bündnisgebiet hinaus, im Vordergrund.

11. Die multinationale Sicherheitsvorsorge ist ein grundlegender Bestimmungsfaktor deutscher Verteidigungspolitik. Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs und Rettungsoperationen werden nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden.

12. Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen. Die nur für diesen Zweck bereitgehaltenen Fähigkeiten werden nicht länger benötigt. Der Wiederaufbau der Befähigung zur Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb eines überschaubaren längeren Zeitrahmens - Rekonstitution - muss jedoch gewährleistet sein.

13. Die Bundeswehr wird in diesem Verständnis weiterentwickelt: Auftrag, Aufgaben, Ausrüstung und Mittel werden in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Die Aufgaben der Bundeswehr werden angesichts einer gewandelten sicherheitspolitischen Lage neu gewichtet. Die Fähigkeiten der Bundeswehr werden entsprechend angepasst. Die Finanzmittel werden künftig vor allem zur Erfüllung der militärischen Kernfähigkeiten eingesetzt.

14. Für die Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung wird ein fähigkeitsorientierter, teilstreitkraft- und bereichsübergreifender Gesamtansatz entwickelt. Rüstungskooperation im europäischen und transatlantischen Rahmen hat Vorrang vor der Realisierung von Vorhaben in nationaler Verantwortung.

15. Für die verstärkte und raschere Ausrichtung der Bundeswehr auf die wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung benötigt die Bundeswehr nach Einsatzbereitschaft und Präsenz differenzierte Streitkräfte, die schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden können. Hierzu bedarf es eines Fähigkeitsprofils mit Schwerpunkt auf sechs wesentlich miteinander verzahnten Fähigkeitskategorien:
  • Führungsfähigkeit; Nachrichtengewinnung und Aufklärung;
  • Mobilität;
  • Wirksamkeit im Einsatz;
  • Unterstützung und Durchhaltefähigkeit;
  • Überlebensfähigkeit und Schutz.
16. Die Wehrpflicht bleibt in angepasster Form für die Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr unabdingbar. Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger einschließlich der Befähigung zur Rekonstitution sowie die eventuelle Unterstützung bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen begründen auch künftig - neben anderen Gründen - die allgemeine Wehrpflicht.

III. Deutsche Sicherheit: Risiken und Chancen

17. Das internationale Umfeld Deutschlands ist ungeachtet der politisch vorteilhaften Veränderungen der vergangenen Jahre nicht frei von militärischen und nicht-militärischen Risiken, die Sicherheit und Stabilität gefährden und bedrohen.

18. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die zivilisierte Welt in ihrer Gesamtheit zutiefst erschüttert. Nachfolgende Terroranschläge haben das Bewusstsein für die asymmetrischen Gefährdungen geschärft, die jederzeit, an jedem Ort der Welt erfolgen und sich gegen jeden richten können.

19. Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus, bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.

20. Die Weiterentwicklung von Massenvernichtungswaffen in Verbindung mit weitreichenden Trägermitteln kann auch die Bevölkerung und die Länder Europas bedrohen. Die Streitkräfte im Einsatz unterliegen einer besonderen Gefährdung. Der Versuch von Terrorgruppen, Zugriff auf Massenvernichtungswaffen zu erhalten, hat die mit der Proliferation verbundenen Risiken verschärft.

21. Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen kann nur durch umfassende nichtverbreitungspolitische Maßnahmen und eine nach transparenten Regeln gestaltete Ordnungspolitik der internationalen Gemeinschaft eingedämmt und verhindert werden. Diese politische Krisenvorsorge bedarf der Ergänzung durch Schutzmaßnahmen gegenüber Risiken, die sich aus der Weiterverbreitung ergeben. Zur Abwehr von Bedrohungen sind zudem vor allem gegenüber nicht-staatlichen Akteuren entsprechende zivile und militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln.

22. Globale Nichtverbreitungsverträge und Rüstungsexportkontrollen sind zu verbessern. Die Lösung regionaler Konflikte kann dazu beitragen, Staaten zum Verzicht auf Massenvernichtungswaffen zu bewegen.

23. In Europa sind auch weiterhin gewaltsam ausgetragene, nationalistisch und ethnisch motivierte, oft von kriminellen Strukturen geförderte Gewaltkonflikte möglich. Die fortdauernd labile Sicherheitslage auf dem Balkan macht weiterhin das besondere Engagement gerade der europäischen Nationen erforderlich. Militärische Beiträge zur Gestaltung eines sicheren Umfelds für eine nachhaltige politische und gesellschaftliche Normalisierung bleiben unerlässlich.

24. Europa ist von Krisen an seiner südlichen und südöstlichen Peripherie unmittelbar betroffen. Die veränderte Sicherheitslage fordert sowohl die NATO als auch die EU in neuer Weise.

25. Die Lösung der vielfältigen regionalen Krisen und Konflikte bleibt von herausragender Bedeutung für Sicherheit und Stabilität im europäischen und globalen Rahmen. Ungelöste politische, ethnische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte wirken sich im Verbund mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit aus. Ihnen kann nur durch ein umfassendes Sicherheitskonzept und mit einem System globaler kollektiver Sicherheit begegnet werden.

26. Moderne Informationsgesellschaften sind abhängig von Informations- und Kommunikationssystemen und damit verletzlich. Einfache Anwendungstechniken und ungenügende Schutzmaßnahmen erhöhen die Gefährdung von Staat, Gesellschaft und Infrastruktur und erleichtern vielfältige Formen der Informationskriegführung.

27. Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar.

28. Die gewaltigen politischen Umwälzungen in Europa und die Überwindung des sich global auswirkenden Kalten Krieges haben aber auch zu neuen Chancen für Sicherheit und Stabilität geführt. Die breite internationale Koalition gegen den Terror ist die Grundlage für eine effektive Prävention und Bekämpfung dieser Bedrohung. Dabei eröffnet diese Koalition neue Handlungsoptionen für gemeinsame Risikovorsorge, auch zwischen Staaten unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Das Völkerrecht und insbesondere die Charta der VN bilden die Grundlage für das Handeln im Kampf gegen den Terror.

29. Deutsche Sicherheitspolitik gewinnt im vereinten Europa zusätzliche Handlungsoptionen. Gemeinsam mit den Verbündeten und Partnern in der NATO und der EU sowie in Zusammenarbeit mit Russland und anderen Deutschland partnerschaftlich verbundenen Staaten gilt es, kooperative Strategien zur multilateralen Risikovorsorge und zu internationalen Konfliktlösungen weiter zu entwickeln. So können die Chancen für eine regionale und auch weltweit angelegte Sicherheitsvorsorge genutzt und sicherheitspolitische Risiken verringert werden. Abrüstung und Rüstungskontrolle bleiben wesentliche Faktoren der globalen Sicherheitsordnung.

30. Die fortschreitende Erweiterung und Vertiefung der euroatlantischen Sicherheitsstrukturen schaffen einen weltweit einzigartigen Stabilitätsraum. Die Öffnung von NATO und EU für neue Mitglieder festigt Sicherheit und Stabilität, verlangt aber auch, mehr Pflichten zu übernehmen.

31. Deutschland profitiert von dieser Entwicklung in Europa. Eine Gefährdung des deutschen Staatsgebiets durch konventionelle Streitkräfte ist derzeit und auf absehbare Zeit nicht zu erkennen.

32. Mit der Anpassung der NATO an das veränderte sicherheitspolitische Umfeld sind die Grundlagen dafür gelegt, dass das Bündnis auch in der Zukunft seine zentrale Rolle wahrnehmen wird. Die USA bleiben für die Sicherheit Europas unverzichtbar.

33. Die sicherheitspolitische Integration der EU und die daraus entstehende Handlungsfähigkeit sind ein Kernelement bei der Sicherung von Frieden und Stabilität in Europa. Mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) stärkt die EU ihr Instrumentarium zum gemeinsamen Handeln in der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, auch über Europa hinaus. Die ESVP ist kein Ersatz für, sondern eine notwendige Ergänzung zur NATO, die die Allianz stärkt und den Kern eines europäischen Pfeilers der Allianz bildet. Bereits heute verstehen sich EU und NATO als strategische Partner bei internationaler Konfliktverhütung und Krisenbewältigung.

34. Die außenpolitische Neuorientierung Russlands eröffnet Chancen für eine konstruktive Zusammenarbeit in Europa und im globalen Rahmen. Die Entscheidung des Weltwirtschaftsgipfels 2002, die Russische Föderation als Vollmitglied in den Kreis der G8-Staaten aufzunehmen, die Intensivierung des Dialogs im Rahmen des NATO-Russland-Rats und die gemeinsamen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus bilden die Grundlage für eine noch engere langfristige Kooperation in sicherheitspolitischen Fragen.

IV. Prinzipien und Interessen deutscher Sicherheitspolitik

35. Oberstes Ziel deutscher Sicherheitspolitik ist es, die Sicherheit und den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Sie nutzt dazu die bestehenden globalen und regionalen Sicherheitsinstitutionen wie die Vereinten Nationen (VN), die Organisation für Sicherheit und Zu sammenarbeit in Europa (OSZE), die Nordatlantische Allianz (NATO) und die Europäische Union (EU). Die Vielfalt der Aufgaben erfordert eine gesamtstaatliche Sicherheitspolitik mit flexiblen und aufeinander abgestimmten Instrumenten, die mittelfristig in einer nationalen Sicherheitskonzeption gebündelt werden müssen.

36. Deutsche Sicherheitspolitik ist umfassend angelegt und berücksichtigt politische, ökonomische, ökologische, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen und Entwicklungen. Sicherheit kann weder vorrangig noch allein durch militärische Maßnahmen gewährleistet werden. Vorbeugende Sicherheitspolitik umfasst politische und diplomatische Initiativen sowie den Einsatz wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer, rechtsstaatlicher, humanitärer und sozialer Maßnahmen.

37. Gleichwohl sind die politische Bereitschaft und die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte, Stabilität und Sicherheit notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen oder wiederherzustellen, unverzichtbare Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit eines umfassenden Ansatzes von Sicherheitspolitik. Grundgesetz und Völkerrecht bilden die Grundlage für alle Einsätze der Bundeswehr.

38. Kein Staat kann unter den heutigen Bedingungen für sich allein Frieden, Sicherheit und Wohlstand gewährleisten. Die Gestaltung des internationalen Umfelds in Übereinstimmung mit deutschen Interessen, die Bewältigung der komplexen Herausforderungen, die Eindämmung von Risiken und Bedrohungen und der Schutz Deutschlands vor ihnen sind im nationalen Alleingang nicht zu leisten. Gemeinsame Anstrengungen sind notwendig.

39. Die neuen sicherheitspolitischen Chancen und die komplexen Risiken erfordern eine deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die auf die Verhütung von Krisen und Konflikten ausgerichtet ist, das gesamte Spektrum sicherheitspolitisch relevanter Instrumente und Handlungsoptionen umfasst und gemeinsam mit den Verbündeten und Partnern in der NATO und in der EU organisiert ist. Ihr Ziel ist, vorbeugend und eindämmend Gewalt zu verhindern. Dies verlangt zwingend nationale und internationale Fähigkeiten zur Früherkennung und Aufklärung.

40. Für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergeben sich daraus drei Folgerungen:
Erstens: Die transatlantische Partnerschaft bleibt die Grundlage unserer Sicherheit. Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika gibt es auch künftig keine Sicherheit in und für Europa. Deutschland wird weiterhin einen substanziellen Beitrag zur transatlantischen Partnerschaft leisten.
Zweitens: Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte, kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gestärkt. Auch die Globalisierung macht ein voll handlungsfähiges Europa erforderlich. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beruht auf der strategischen Partnerschaft mit der Nordatlantischen Allianz und ermöglicht selbständiges europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein muss oder will.
Drittens: Deutschland beteiligt sich aktiv an der Arbeit von VN und OSZE, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten, der Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts weltweit Geltung zu verschaffen, Demokratie, wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Entwicklung nachhaltig zu stärken, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten sowie die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen zu überwinden.

V. Deutsche Verteidigungspolitik

41. Deutsche Verteidigungspolitik wird maßgeblich durch drei Faktoren geprägt:
  • die multinationale Einbindung der Bundeswehr im Rahmen einer auf europäische Integration, transatlantische Partnerschaft und globale Verantwortung ausgerichteten Außenpolitik,
  • das veränderte Einsatzspektrum der Bundeswehr und die gewachsene Anzahl an internationalen Einsätzen,
  • die verfügbaren Ressourcen.
V.1 Multinationale Einbindung

42. Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr - mit der möglichen Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen - werden gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden.

43. Bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fällt den VN eine herausragende Rolle zu. Der Sicherheitsrat der VN trägt nach der Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.

44. Internationale VN-Friedensmissionen haben sich erheblich gewandelt. Sie reichen von den klassischen Blauhelm-Missionen über die Konfliktverhütung durch politische Aktivitäten und vorbeugende Truppenstationierung bis hin zum Einsatz bewaffneter Kräfte zur Eindämmung von Konflikten und zur Stabilisierung der politischen Lage. Immer häufiger geht es auch um die Beendigung innerstaatlicher Konflikte und die Wiederherstellung friedlicher Lebensbedingungen für die Bevölkerung. Dafür benötigen Friedensmissionen ausgewogene militärische, zivile und polizeiliche Fähigkeiten.

45. Die Bereitschaft zu substanziellen Beiträgen und das Engagement in allen Gremien wie auch in der konkreten Arbeit der VN in den Krisengebieten wahrt und verstärkt Deutschlands Einfluss auf die künftige Rolle der Weltorganisation.

46. Die Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO ist Grundlage für seine Sicherheit. Die NATO bleibt auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Garant für stabile Sicherheit in Europa, kollektives Verteidigungsbündnis und transatlantisches Konsultationsforum. Dadurch leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Gestaltung der gesamteuropäischen Friedensordnung und verknüpft die Sicherheit Europas mit der Sicherheit Nordamerikas.

47. Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geografischen Umfeld wirken sich immer häufiger und nachdrücklicher auf das Bündnis aus. Die NATO muss sich diesen Anforderungen stellen und in der Lage sein, die lebenswichtigen Sicherheitsinteressen ihrer Mitglieder zu verteidigen. Deutschland wird einen angemessenen Beitrag leisten, damit die NATO in Übereinstimmung mit dem Washingtoner Vertrag und der Charta der VN sowie auf der Grundlage ihres strategischen Konzepts das volle Spektrum ihrer Aufgaben erfüllen und kollektiv auf die neuen Herausforderungen reagieren kann, aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.

48. Deutschland ist mit seinen Streitkräften mehr als jeder andere Bündnispartner in die NATO integriert. Ihm fällt im Bündnis eine herausragende Rolle und Verantwortung für den künftigen Kurs der NATO zu.

49. Die NATO sieht den Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe und Maßnahmen zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zum Schutz gegen Massenvernichtungswaffen und ballistische Flugkörper und zur Verteidigung gegen den Terrorismus vor. Die Bundeswehr wird sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an diesen Vorhaben beteiligen. Die Kompatibilität mit dem Aufbau von Fähigkeiten im Rahmen der ESVP wird sichergestellt.

50. Die EU ist der Kern des europäischen Stabilitätsraums. Für ihre politische Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit ist es unabdingbar, dass sie umfassend in allen Politikbereichen handlungsfähig wird. Krisen, die Europa berühren, muss die EU mit einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können. Die ESVP ist daher ein entscheidender Schritt zur Vertiefung der Integration und zur Erweiterung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas. Ziel ist die Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion als Teil einer voll entwickelten Politischen Union.

51. Deutschland hat in den vergangenen Jahren bei den Beschlüssen der EU zur Ausgestaltung der ESVP eine Schlüsselrolle gespielt. Die Umsetzung der europäischen Streitkräfteziele und die Beseitigung erkannter Fähigkeitsdefizite im nationalen und europäischen Rahmen sowie die Bereitstellung der angezeigten militärischen Fähigkeiten und Mittel sind Maßstab dafür, wie Deutschland und seine Partner ihre Verantwortung im Rahmen der EU wahrnehmen.

52. Die Kräfte, die der NATO und der EU angezeigt werden, stehen beiden Organisationen zur Verfügung.

53. Die Verpflichtung Deutschlands zur schnellen militärischen Reaktionsfähigkeit im Rahmen von NATO und EU macht eine ebenso schnelle politische Entscheidungsfähigkeit auf nationaler Ebene unabdingbar.

V.2 Bundeswehr im Einsatz

54. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich das Einsatzspektrum der Bundeswehr grundlegend verändert. Intensität, Umfang und Dauer von Operationen stellen unterschiedliche und wachsende Anforderungen an die Streitkräfte.

55. Die Bundeswehr ist gefordert bei der Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Notlagen und bei humanitären Einsätzen. Gemeinsam mit Streitkräften befreundeter Nationen und Partnern beteiligt sie sich an friedenserhaltenden, stabilisierenden und friedenserzwingenden Operationen. Durch diese Einsätze trägt die Bundeswehr dazu bei, gewaltsame Konflikte zu verhindern oder zu beenden. Sie wirkt durch Stabilisierung und Abschreckung gegen die Verschärfung von Krisen und Konflikten und ermöglicht die Konsolidierung von Friedensprozessen. Hinzu kommen Einsätze im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, auch als Beiträge zur Unterstützung von Bündnispartnern.

56. Darüber hinaus leistet die Bundeswehr breitgefächerte militärische Beiträge in den Einsatzgebieten, die von der Mithilfe bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im jeweiligen Gebiet und der Unterstützung humanitärer Maßnahmen über Schutzmaßnahmen für eingesetzte militärische Kräfte - auch die anderer Nationen - bis hin zu Schutzvorkehrungen gegen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen reichen können. Immer häufiger übernimmt die Bundeswehr Führungsaufgaben bei multinationalen Operationen.

57. Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen. Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes. Die Notwendigkeit für eine Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Operationen kann sich weltweit und mit geringem zeitlichen Vorlauf ergeben und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit hoher Intensität umfassen.

58. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Einsatzarten sind fließend. Eine rasche Eskalation von Konflikten, wodurch ein friedenser haltender Einsatz in eine Operation mit höherer Intensität übergeht, ist nie auszuschließen.

59. Die derzeitigen und künftigen Einsätze der Bundeswehr machen es notwendig, dass die Streitkräfte sich angemessen an multinationalen Operationen im Rahmen des gesamten Einsatzspektrums von Konfliktverhütung und Krisenbewältigung beteiligen können sowie zur Unter stützung von Bündnispartnern auch über das Bündnisgebiet hinaus befähigt sind.

60. Die bisherigen Rahmenvorgaben für Anzahl und Umfang von möglichen Operationen bedürfen der Überprüfung und Anpassung, um die hohe Belastung, in Teilen Überlastung der Einsatzkräfte abzubauen.

61. Bei der Ausrichtung der Bundeswehr auf die künftigen Aufgaben ist es erforderlich, sich auf die Verbesserung der für die Einsätze besonders wichtigen Fähigkeitsbereiche zu konzentrieren. Die Befähigung zur Interoperabilität und zum multinationalen Zusammenwirken im Einsatz mit Bündnispartnern ist zu verbessern.

62. Ausschließlich für die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angreifer dienende Fähigkeiten werden angesichts des neuen internationalen Umfelds nicht mehr benötigt. Sie können zudem angesichts der knappen, zur Schwerpunktbildung zwingenden Ressourcenlage nicht mehr erbracht werden, ohne dass sich dies nachteilig auf die künftig erforderlichen Fähigkeiten auswirkt. Notwendig bleibt vielmehr eine Befähigung, die es erlaubt, die Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb eines überschaubaren längeren Zeitrahmens wieder aufzubauen. Dies erfordert die Beibehaltung der Wehrpflicht. Darüber hinaus müssen die Streitkräfte - eingebettet in gesamtstaatliches Handeln - zu einem angemessenen Beitrag zur Verhinderung, Abwehr und Bewältigung von terroristischen Anschlägen und zum Schutz Deutschlands vor asymmetrischen Angriffen von außen im Rahmen der geltenden Gesetze befähigt sein. Auch hierfür ist die Beibehaltung der Wehrpflicht unerlässlich.

V.3 Ressourcen

63. Die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Auftrag und dem daraus entwickel ten Haushaltsplan ergeben. Die mittelfristige Finanzplanung ist eine verbindliche Grundlage für die Planungen der Bundeswehr.

64. Der Verteidigungshaushalt wird derzeit bestimmt durch nahezu konstante Betriebsausgaben, einen hohen Anteil Personalkosten und zu geringe Materialinvestitionen bei gleichzeitig starker Überplanung und hohen Bindungsständen. Die strukturelle Neuausrichtung und die materielle Modernisierung stehen aufgrund begrenzter Finanzmittel noch nicht in Übereinstimmung. Deshalb ist eine Umschichtung innerhalb des Verteidigungshaushalts zugunsten von Investitionen notwendig.

65. Die bisherige Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung wird noch stringenter an dem fähigkeitsorientierten, teilstreitkraft- und bereichsübergreifenden Gesamtansatz ausgerichtet und multinational abgestimmt. Auch im Hinblick auf die hohen Kosten multinationaler Einsätze und gemeinsamer Operationen sind uneingeschränktes streitkräftegemeinsames Denken und Handeln und eine entsprechende Führungsstruktur unabdingbar.

66. Die verfügbaren Mittel werden vor allem zum Erhalt und zur Verbesserung militärischer Kernfähigkeiten eingesetzt. Hierbei kommt den Anstrengungen zur Erhöhung der Effizienz in der Bundeswehr, auch in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, hohe Bedeutung zu.

67. Durch Rüstungskooperation, Abbau verzichtbarer Fähigkeiten, Standardisierung, gemeinsame Aufgabenwahrnehmung, funktionale Arbeitsteilung und Rollenspezialisierung werden Mittel gespart. Fortschreitende politische Integration in Europa sowie knappe finanzielle Spielräume verstärken Notwendigkeit und Möglichkeiten zu weitergehender Multinationalität.

68. Europäische und transatlantische Bündelung nationaler Mittel ist Vorgabe für die Rüstungskooperation. Gemeinsame Planung, gemeinsame Beschaffung, gemeinsamer Betrieb von Waffensystemen und gemeinsame Ausbildung stecken den Rahmen ab für das, was durch europäische Integration und Herausbildung der ESVP sicherheitspolitisch notwendig und möglich ist und sich bereits in einer effizienteren europäischen Rüstungskooperationspolitik manifestiert. Die Arbeiten zur Entwicklung einer Europäischen Rüstungsagentur werden vorangetrieben.

69. Deutschland wird als Voraussetzung für solche Kooperationsfähigkeit eine leistungs- und wettbewerbsfähige industrielle Basis in technologischen Kernbereichen aufrechterhalten, um auf die Entwicklung entscheidender Waffensysteme Einfluss nehmen zu können. Dies fördert Bündnis- und Europafähigkeit und ist daher ein Teil deutscher Sicherheitspolitik. Der industrielle Zusammenschluss nationaler Rüstungs kapazitäten wird unverändert eine wichtige Rolle spielen.

VI. Auftrag der Bundeswehr

70. Der Auftrag der Bundeswehr ist eingebettet in die gesamtstaatliche Vorsorgepflicht für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, unseres Landes und unseres Wertesystems sowie für die Wahrung unserer Interessen im europäischen und transatlantischen Zusammenhang.

71. Die Bundeswehr als Instrument einer umfassend angelegten, vorausschauenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik
  • sichert die außenpolitische Handlungsfähigkeit,
  • leistet einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen,
  • gewährleistet die nationale Sicherheit und Verteidigung und trägt zur Verteidigung der Verbündeten bei,
  • fördert multinationale Zusammenarbeit und Integration.


72. Damit Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre Gestaltungsfunktion wahrnehmen kann, ist eine leistungsfähige Bundeswehr unabdingbar. Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren und eine aktive Rolle in der Friedenssicherung zu spielen, stellt Deutschland in angemessenem Umfang Streitkräfte bereit, die schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden können. Dazu gehört auch die Unterstützung von Bündnispartnern, an den Bündnisgrenzen oder in einem geografisch noch weiteren Rahmen.

73. Die Bundeswehr ist zu einem unverzichtbaren Instrument einer umfassend angelegten Politik der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung geworden. Ihre Beiträge zur multinationalen Sicherheitsvorsorge und zur Stärkung der internationalen Sicherheitsorganisationen fördern die europäische und globale Stabilität.

74. Die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung bleibt die politische und verfassungsrechtliche Grundlage der Bundeswehr. Als Garant nationaler Sicherheit schützt und verteidigt die Bundeswehr Deutschland gegen jede Bedrohung seiner Bevölkerung und seines Territoriums und trägt zur Verteidigung seiner Verbündeten bei.

75. Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder.

76. Die Bundeswehr leistet einen wichtigen Beitrag zum Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen durch umfassende Zusammenarbeit und Austausch mit Partnerstreitkräften in aller Welt. Gleichzeitig trägt die Bundeswehr durch die multinationale Zusammenarbeit im europäischen und im NATO-Rahmen wesentlich zur Integration und Vertrauensbildung in Europa bei und fördert das politische Ziel einer eigenständigen europäischen Handlungsfähigkeit.

VII. Aufgaben der Bundeswehr

77. Die Aufgaben der Bundeswehr leiten sich ab aus dem ihr gegebenen verfassungsrechtlichen Auftrag und den Zielen deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

78. Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung - einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus - sind für deutsche Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.
Diese Aufgaben prägen maßgeblich die Fähigkeiten, das Führungssystem, die Verfügbarkeit und die Ausrüstung der Bundeswehr. Sie sind strukturbestimmend für die Bundeswehr.
Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung unterscheiden sich hinsichtlich Intensität und Komplexität nicht von Einsätzen zur Unterstützung von Bündnispartnern und können sogar in diese übergehen. Beiderlei Einsätze bedingen daher grundsätzlich identische militärische Fähigkeiten.

79. Unterstützung von Bündnispartnern umfasst die Wahrung der Integrität des Staatsgebiets einschließlich der Hoheitsgewässer und des Luftraumes sowie der politischen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Verbündeten. Dazu gehört die Unterstützung im Kampf gegen den Terror sowie der Schutz der Bevölkerung und lebenswichtiger Infrastruktur.
Bei Angriffen auf Bündnispartner und bei Krisen und Konflikten, die zu einer konkreten Bedrohung von Bündnispartnern eskalieren können, gilt die Beistandsverpflichtung Deutschlands. Sie gilt auch für die Unterstützung von Bündnispartnern im Falle der Abwehr gegen asymmetrische, vor allem terroristische Angriffe.
Ein existenzbedrohender Angriff auf das Bündnis als Ganzes würde die komplexesten Anforderungen an den Staat und seine Streitkräfte stellen und eine grundlegende Umkehr der politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre oder die Entstehung völlig neuer politischer Konstellationen voraussetzen. Er ist unwahrscheinlich.

80. Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.
Die Landesverteidigung im Rahmen des Bündnisses bleibt Aufgabe der Bundeswehr als Ausdruck staatlicher Souveränität und gemeinsamer Sicherheitsvorsorge gegen derzeit zwar unwahrscheinliche, aber für die Zukunft nicht grundsätzlich auszuschließende bedrohliche Entwicklungen der sicherheitspolitischen Lage. Sie kann den Einsatz deutlich umfangreicherer eigener Streitkräfte erfordern. Angesichts der sicherheitspolitischen und strategischen Lage können die hierfür erforderlichen zusätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt werden. Diese Rekonstitution wird vor allem durch die allgemeine Wehrpflicht sichergestellt. Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann. Grundwehrdienstleistende und Reservisten kommen dabei in ihrer klassischen Rolle, dem Schutz ihres Landes und ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger, zum Einsatz.
Die Überwachung des deutschen Luft- und Seeraums sowie die Wahrnehmung luft- und seehoheitlicher Aufgaben in ressortübergreifender Zusammenarbeit sind ständige Aufgaben.
Die Unterstützung für Streitkräfte von Verbündeten und Partnern in Deutschland verlangt keine zusätzlichen eigenen Fähigkeiten, sondern wird mit den vorgehaltenen Fähigkeiten der Bundeswehr und unter Rückgriff auf zivile Mittel erfüllt.

81. Rettung und Evakuierung werden grundsätzlich in nationaler Verantwortung durchgeführt, eine Beteiligung von Verbündeten und Partnern ist jedoch möglich. Diese Aufgabe unterliegt keinen geografischen Einschränkungen und setzt die besonders schnelle Verfügbarkeit von Spezialkräften voraus.

82. Partnerschaft und Kooperation als militärische Daueraufgaben unterstützen politische Maßnahmen zur Vorbeugung und Nachsorge von Krisen und Konflikten und fördern Stabilität durch Vertrauensbildung. Sie schaffen die Voraussetzung für transparentes gemeinsames Handeln und umfassen auch die gleichberechtigte Teilnahme an multinationalen Aktivitäten und Übungen. Dies schließt Maßnahmen zur Rüstungskontrolle ein.

83. Hilfeleistungen der Bundeswehr werden bei Vorliegen der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen subsidiär bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen im Inland sowie zur Unterstützung humanitärer Hilfsaktionen und zur Katastrophenhilfe im Ausland erbracht. Solche Hilfeleistungen der Bundeswehr haben eine neue Qualität gewonnen. Sie werden im In- und Ausland unter Abstützung auf vorhandene Kräfte, Mittel und Einrichtungen gewährt. Als Beitrag zum Wiederaufbau der gesellschaftlichen Ordnung und der Infrastruktur in Krisengebieten können sie als eigenständige Operation durchgeführt werden. Die Verfahren zur Durchführung derartiger Operationen sind im engen Zusammenwirken mit anderen staatlichen Institutionen und zivilen Hilfsorganisationen weiterzuentwickeln.

VIII. Folgerungen für die Bundeswehr

84. Der Einsatz der Bundeswehr zur internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung und gegen den Terror hat den entscheidenden Einfluss auf den weiteren Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz. Dementsprechend sind geeignete und hinreichende Kräfte mit einer hohen Verfügbarkeit und schnellen Reaktionsfähigkeit vorzuhalten. Erste Kräfte müssen rasch verlegt werden können, um bereits im Anfangsstadium einer Operation im Krisengebiet verfügbar zu sein.

85. Die Befähigung zur Unterstützung von Bündnispartnern bleibt vor allem vor dem Hintergrund möglicher regionaler Konflikte oder terroristischer Angriffe notwendig. Die Streitkräfte sind deutlicher daran auszurichten, dass ihre Fähigkeiten, Mittel und Strukturen mit denen ihrer Partner harmonisiert sind und dadurch doppelte Kapazitäten vermieden werden. Auch der Verzicht auf einzelne Fähigkeiten ist möglich, wenn diese von anderen Streitkräften geleistet oder übernommen werden können. Der deutlich erweiterten, politisch und militärisch nutzbaren Vorwarnzeit im Fall eines Angriffs auf das Bündnis als Ganzes ist strukturell Rechnung zu tragen.

86. Die herkömmliche Landesverteidigung im Bündnisrahmen gegen konventionelle Angriffe als die bisher maßgeblich strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den sicherheitspolitischen Erfordernissen. Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger einschließlich der Überwachung des deutschen Luft- und Seeraums sowie der Wahrnehmung luft- und seehoheitlicher Aufgaben hat demgegenüber an Bedeutung gewonnen. Dieser Schutz Deutschlands wird neu ausgerichtet, verlangt die konsequente Abstufung von Präsenz, Bereitschaft und Ausbildung der Streitkräfte sowie die Synergie aller staatlichen Instrumente der Sicherheitsvorsorge.

87. Für das künftige Aufgabenspektrum ist hervorragend qualifiziertes und hochmotiviertes Personal in der Bundeswehr erforderlich, das in der Lage ist, in einem komplexer gewordenen sicherheitspolitischen Umfeld zu agieren. Die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr muss daher sichergestellt bleiben, auch um im Wettbewerb mit der Wirtschaft leistungsfähigen Nachwuchs gewinnen und den Anteil von Frauen erhöhen zu können. Das Potenzial der Reservisten ist konsequent zur Ergänzung der Fähigkeiten der aktiven Truppe zu nutzen.

88. Die Bundeswehr übernimmt mit ihren vielfältigen Aufgaben eine in hohem Maß gesellschaftlich und politisch wichtige Rolle in unserem Land, die den uneingeschränkten Rückhalt verdient. Gleichzeitig entwickelt die Bundeswehr ihr Konzept der Inneren Führung weiter, um es an die neuen Einsatzbedingungen der Streitkräfte anzupassen und die Einbettung der Streitkräfte in die Gesellschaft zu verstärken. Dies gilt entsprechend für die Traditionsbildung und die Politische Bildung.

VIII.1 Umfang und Struktur der Bundeswehr

89. Die Aufgaben der Bundeswehr haben entscheidenden Einfluss auf ihre Konzeption. Konfliktverhütung und Krisenbewältigung erfordern in hohem Maße Professionalität und Flexibilität. Entscheidende Voraussetzung für multinationale Einsätze und gemeinsame Operationen ist ein hoher Grad an Interoperabilität. Die gestiegenen Anforderungen erfordern zudem uneingeschränktes streitkräftegemeinsames Denken und Handeln. Im Vordergrund stehen daher nicht die Fähigkeiten der einzelnen Teilstreitkräfte, sondern ausschließlich die Fähigkeit der Bundeswehr als Ganzes.

Der Erhalt und die Verbesserung der militärischen Kernfähigkeiten hat Vorrang. Die diesem Ziel nicht unmittelbar dienenden Einrichtungen und Leistungen der Bundeswehr werden einer kritischen Überprüfung unterzogen.

90. Die Ausrichtung der Bundeswehr auf ihre wahrscheinlicheren Aufgaben erfordert nach Einsatzbereitschaft und Präsenz differenzierte Streitkräfte. Militärische Kapazitäten für internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie zur Unterstützung von Bündnispartnern müssen rasch verfügbar und durchhaltefähig sein. Ebenso wird ein angemessenes Dispositiv zum Schutz Deutschlands bereitgehalten, welches zudem als Kern für eine - im Falle einer sich abzeichnenden Verschlechterung der politischen Lage notwendige - Rekonstitution dienen kann.

VIII.2 Fähigkeiten der Bundeswehr

91. Damit die Bundeswehr ihren Aufgaben gerecht werden kann, wird sie über leistungsfähige Streitkräfte verfügen, die schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden können. Dazu ist ein Fähigkeitsprofil erforderlich, welches sechs wesentliche, miteinander verzahnte Fähigkeitskategorien umfasst:
  • Führungsfähigkeit;
  • Nachrichtengewinnung und Aufklärung;
  • Mobilität;
  • Wirksamkeit im Einsatz;
  • Unterstützung und Durchhaltefähigkeit;
  • Überlebensfähigkeit und Schutz.
92. Eine moderne und qualitativ hochwertige materielle Ausprägung sämtlicher Teilfähigkeiten ist angesichts der sicherheitspolitischen Lage nicht erforderlich und finanziell auch nicht zu leisten. Auf der Grundlage der mittelfristigen Finanzplanung wird daher eine aus den Aufgaben der Bundeswehr abgeleitete Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung entwickelt. Priorität haben weiterhin die bisher nicht vorhandenen Teilfähigkeiten "Strategische Verlegung" und "Weltweite Aufklärung" sowie "leistungsfähige und interoperable Führungssysteme und -mittel". Die Grundfähigkeit zur Flugkörperabwehr, zu der auch der Schutz von Truppen im Einsatz vor Angriffen mit Raketen und Flugkörpern gehört, ist weiter auszubauen.

93. Daneben gilt es, vor allem diejenigen Teilfähigkeiten zu erwerben oder zu verbessern, die dazu geeignet sind, den erforderlichen militärischen Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu leisten.

94. Mittel- bis langfristig sind Maßnahmen zum Schutz vor Auswirkungen eines Informationskriegs zu entwickeln.

95. Beschaffungs- und Ausrüstungsplanungen haben stringent einem multinational abgestimmten, fähigkeitsorientierten, teilstreitkraft- und bereichsübergreifenden Gesamtansatz zu folgen.

Siehe auch:
"Friedensbewegung will öffentliche Diskussion über die Verteidigungspolitischen Richtlinien erzwingen"
Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag - und eine Presseerklärung der DFG-VK (21. Mai 2003)
Mehr Bewusstsein für die individuelle Verantwortung der SoldatInnen gefordert - Wehrpflicht nicht "unabdingbar"!
EAK-Stellungnahme zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien (23. Juni 2003)
Die alten VPR im Wortlaut: "Verteidigungspolitische Richtlinien 1992"
Erlassen vom Bundesverteidigungsministerim am 26. November 1992


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