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"CDU, CSU und SPD schließen Aufrüstungsvertrag"

Eine Stellungnahme aus der Friedensbewegung zum außenpolitischen Teil des Koalitionsvertrags

Im Folgenden dokumentieren wir eine Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag vom 14. November 2005 im Wortlaut



Hamburg/Kassel, 14. November 2005 - Der Bundesausschuss Friedensratschlag beriet am Wochenende u.a. über den zwischen CDU, CSU und SPD abgeschlossenen Koalitionsvertrag. Die Sprecher des Bundesausschusses, Lühr Henken (Hamburg) und Peter Strutynski (Kassel) gaben im Anschluss daran folgende Stellungnahme ab.

Kurzfassung:

Der außenpolitische Teil des Koalitionsvertrags ist getragen von der "Kontinuität" der Außen- und Sicherheitspolitik der rot-grünen Bundesregierung, die ihrerseits 1998 sich in die Kontinuität der deutschen Außenpolitik der Ära Kohl gestellt hatte.
Der Koalitionsvertrag bleibt weitgehend allgemein und ergeht sich in mehr oder weniger wohl klingenden Worthülsen. An den Stellen, wo es konkreter wird, kommen durchweg (mögliche) Verschärfungen des außen- und sicherheitspolitischen Kurses zum Vorschein. Sie betreffen z.B.:
  • die stärkere Betonung der nationalen Interessen im Europäischen Einigungsprozess,
  • die Rehabilitierung des Anbiederungskurses der CDU/CSU an die US-Kriegspolitik gegen den Irak,
  • eine aktivere Industriepolitik zur Konsolidierung der deutschen und europäischen Rüstungsproduktion,
  • die offensivere Formulierung geostrategischer Ziele in Osteuropa, im Nahen und Mittleren Osten und in Asien,
  • den in Erwägung gezogenen Einsatz der Bundeswehr im Inneren,
  • die Unterordnung der Entwicklungspolitik unter sicherheitspolitische Belange.

Die Stellungnahme in sieben Schritten:

1. Wohlklingende Phrasen

Dass der außen- und sicherheitspolitische Teil des Vertrags der Großen Koalition enttäuschend ausfallen würde, war zu erwarten gewesen. Auf 15 Seiten (von insgesamt 140) haben die Experten der drei Parteien im Wesentlichen fortgeschrieben, was auch in der rot-grünen Koalition außenpolitischer Konsens war: Die Bundesregierung beschreitet weiter den Weg Deutschlands von einer europäischen Mittelmacht zu einer hoch gerüsteten Großmacht mit weltweiten Ambitionen. Dabei spielen neben den "Werten" die "Interessen unseres Landes" eine zentrale Rolle.

Kapitel IX des Koalitionsvertrags beginnt mit der gut klingenden Verheißung, deutsche Außenpolitik diene "dem Frieden in der Welt". Dabei lägen ihr ein "umfassender Sicherheitsbegriff" sowie die "Beachtung des Völkerrechts und die Einhaltung der Menschenrechte" zugrunde. Europäische und atlantische Sicherheit gehörten zusammen, weshalb sich Deutschland sowohl zur Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) als auch zur NATO als dem "zentralen Instrument unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik" bekenne.

2. Ein erweitertes Europa mit erweiterten deutschem Einfluss

Zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses fällt den Koalitionären nicht sehr viel mehr ein, als dass die Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags fortzuführen sei und unter der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 neue Anstöße erhalten werde. Welcher Art diese Anstöße sein werden und wie mit der Tatsache umgegangen werden soll, dass der Verfassungsvertrag mit den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden Makulatur ist, wird nicht verraten. Stattdessen vernehmen wir, dass "die Stellung der deutschen Sprache in Europa ihrer Bedeutung entsprechend berücksichtigt wird" und dass die künftige Regierung für eine "abgestimmte und effiziente Vertretung deutscher Interessen in den europäischen Institutionen sorgen" wolle (S. 127).

Damit wird das voraus gegangene Bekenntnis zum "Multilateralismus" und zur "Stärkung europäischer Politik" (S. 125) entwertet und von der rechtslastigen Ideologie des "Deutschland zuerst" überlagert. Was dies bedeutet, wird in den Passagen zur europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik angedeutet: Deutschland werde auf keinen Fall mehr an die EU bezahlen als "1 % seines Bruttonationaleinkommens", wobei eine "Belastungsneutralität für Deutschland" erreicht werden müsse (S. 128). Auch bei der Regional- und Strukturförderung müsse Deutschland angemessen berücksichtigt werden. Gleiches gilt für das erweiterte Europa, in dem "faire Wettbewerbsbedingungen eingehalten" werden sollten (S. 129) und der deutsche Arbeitsmarkt "bis zu sieben Jahre vor dem unkontrollierten Zuzug von Arbeitnehmern geschützt" werden müsse.

All das läuft auf die integrationsabträgliche Philosophie hinaus: Wer viel bezahlt, muss auch ebenso viel zurück bekommen. Und: Wir schaffen ein Europa der unbegrenzten Kapitalfreiheit und der begrenzten Freiheit für Arbeitnehmer.

3. Schulterschluss mit den USA - EU soll Militärpakt werden

Geht es nach dem Willen der Großen Koalition, so setzt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einerseits auf ein "selbstbewusstes Europa", andererseits auf eine noch engere militärische Zusammenarbeit mit den USA. Die größte Fehleinschätzung des Koalitionsvertrags dürfte in dem Satz liegen: "Die Zusammenarbeit mit den USA ist besonders wichtig für ein gedeihliches Verhältnis zwischen der islamischen Welt und dem Westen, bei der Sicherung von Frieden und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten ..." (S. 130) Dieses blinde Vertrauen in die Islam- und Nahostpolitik der USA zeugt von einer völlig verkehrten Wahrnehmung der durch den Irakkrieg geschaffenen bzw. verstärkten Instabilität im Nahen Osten und der übrigen Welt. Fast scheint es so, als sollte die peinliche Anbiederung von Frau Merkel an den Kriegskurs der USA vor dem Irakkrieg nun nachträglich rehabilitiert werden - eine Ohrfeige für den scheidenden Kanzler Schröder, die er an dieser Stelle am wenigsten verdient hat!

Das distanzlose Abfeiern der "Europäischen Sicherheitsstrategie" als "Richtschnur europäischen sicherheitspolitischen Handelns" (S. 131) bedeutet nichts anderes als die Fortsetzung der Politik einer Militarisierung der EU, die sich im Aufbau zusätzlicher "multinationaler Gefechtsverbände", militärischer "Planungs- und Führungsfähigkeiten" und der Verbesserung der militärischen "Fähigkeiten und Handlungsoptionen" materialisiert. Das sind auch jene Bestimmungen des EU-Verfassungsvertrags (insbes. Art. I-41), die weiter voran getrieben werden, obwohl die Verfassung gescheitert ist. Der Koalitionsvertrag betont außerdem die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der EU zu einer "Sicherheits- und Verteidigungsunion". Damit wird ein gefährlicher und anachronistischer Weg beschritten, auf dem die einst so erfolgreiche EU (EWG, EG) von einer Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft in einen Militärpakt umgewandelt werden soll.

4. Bundeswehr: "Armee im Einsatz" - Mehr Geld für die Rüstung

Beim Abschnitt "Bundeswehr" fällt auf, dass - gegenüber den Koalitionsvereinbarungen 1998 und 2002 - ein Prioritätenwechsel der Bundeswehraufgaben vorgenommen wird. Er hat sich aber schon in den letzten Jahren der rot-grünen Bundesregierung klar abgezeichnet. 2002 hieß es noch: "Aufgaben der Bundeswehr sind Landes- und Bündnisverteidigung und internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen einschließlich humanitärer Einsätze und Evakuierungen." Jetzt heißt es, "das künftige Aufgabenspektrum der Bundeswehr sowie dessen strukturelle Konsequenzen werden ganz wesentlich durch die sicherheitspolitischen Entwicklungen bestimmt. Dementsprechend dient die Bundeswehr der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, der Unterstützung von Bündnispartnern, der Landesverteidigung, der Rettung und Evakuierung, der Partnerschaft und Kooperation sowie den Hilfeleistungen im Inland."

Die Landesverteidigung, zu dessen alleinigem Zweck laut Grundgesetz die Bundeswehr gegründet wurde, rutscht von Platz 1 auf Platz 3 der Aufgabenskala.

Neu aufgenommen wurden in den Koalitionsvertrag 2005 wurden folgende Grundsätze:
  • Der Kampf um den "Erhalt der Kernfähigkeiten der deutschen wehrtechnischen Industrie". In dieser Formulierung sind bereits eingeleitete Entwicklungen aufgehoben wie der Werftenverbund (realisiert durch den Verkauf von Atlas Elektronik in Bremen) und die sich anbahnende Umstrukturierung der Panzerherstellung in Europa.
  • Die Ankündigung eines "Weißbuches" für Ende 2006. (Sollte ursprünglich schon 2004 erscheinen, was aber an den Grünen scheiterte.)
  • 2005 taucht der Begriff "Interesse" im Zusammenhang mit "national" oder "unser" im außenpolitischen Teil des Koalitionsvertrags 16 mal auf, (2002 überhaupt nicht in dem Zusammenhang).
5. Deutschland formuliert geostrategische Interessen

Was die Beziehungen Deutschlands zu Europa (über die Grenzen der EU hinaus) und der ganzen Welt betrifft, so sollen sie sowohl "auf der Grundlage gemeinsamer Werte" (welche das sind, wird an keiner Stelle verraten) als auch auf Grund "vitaler Interessen" gestaltet werden (S. 134). Dabei umfasst der geostrategische Horizont der neuen Regierung die Staaten Osteuropas (insbesondere Russland, Weißrussland und die Ukraine), den südlichen Kaukasus und Zentralasien sowie den Nahen und Mittleren Osten (S. 134 f). Die asiatischen Großmächte China, Japan und Indien sowie Lateinamerika und die Karibik werden überwiegend unter ökonomischen, Afrika dagegen wird ausschließlich unter humanitären Gesichtspunkten betrachtet.

Eine wichtige Rolle sollen auch die Vereinten Nationen spielen. Konkret fällt den Koalitionären dabei aber nur ein, den UN-Reformprozess zu unterstützen und im übrigen an dem Wunsch nach einem ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat sowie an Bonn als Standort für UN-Institutionen festzuhalten.

Kaum der Erwähnung wert ist darüber hinaus die OSZE, das regionale System kollektiver Sicherheit in Europa. Die OSZE wird nur einmal beiläufig beim Namen genannt, wogegen sie 2002 noch "gestärkt" werden sollte und als einzige gesamteuropäische Institution mit einem "umfassenden Sicherheitsbegriff" charakterisiert wurde. Die Große Koalition hat die OSZE offenbar ein für allemal abgeschrieben.

Einen eigenen Abschnitt widmet der Koalitionsvertrag den "globalen Fragen". Hier wird wenigstens darauf hingewiesen, dass es "neben den militärischen Fähigkeiten" auch um "genügend ziviles Personal für den (Wieder-)Aufbau tragfähiger rechtsstaatlich-demokratischer Institutionen" geht und dass der "Ressortkreis Zivile Krisenprävention" gestärkt werden solle (S. 136 f). Das klingt indessen wie eine rhetorische Pflichtübung, denn anschließend geht es wieder ausschließlich um Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sie fänden im Rahmen "internationaler Friedenseinsätze" statt, erfolgten "auf der Basis des Völkerrechts" und mit einem "umfassenden Ansatz politischer, wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer und militärischer Mittel" (S. 137). Dass die herausragenden Auslandseinsätze der Bundeswehr bisher stets völkerrechtswidrig waren bzw. sind (Jugoslawienkrieg 1999, Teilnahme an Enduring Freedom seit 2001) und dass in allen anderen Fällen militärischen Engagements das Militär nicht zuletzt, sondern zuerst eingesetzt wurde, wird in dem Koalitionsvertrag schamhaft verschwiegen.

6. Einsatz der Bundeswehr im Inneren in Erwägung gezogen

Wenn es dem Koalitionspartner SPD bisher Ernst war mit der Haltung, dass Bundeswehr im Inneren außer zur Katastrophenhilfe nicht eingesetzt werden dürfe, dann hat er sich nun offenbar eines anderen belehren lassen. Was den Kampf gegen den Terrorismus betrifft, bisher von Deutschland aus militärisch nur im Ausland betrieben, so enthält der Koalitionsvertrag die alarmierende Feststellung: "Notfalls muss auch der Einsatz militärischer Mittel in Erwägung gezogen werden." (S. 137) Bereits im Bundeswehr-Abschnitt hieß es, dass "die äußere und innere Sicherheit nicht mehr trennscharf zu unterscheiden" sei (S. 132). Zu befürchten ist daher, dass die Große Koalition, die über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag verfügt, das Grundgesetz dahingehend verändern wird, dass die Innere Sicherheit auch zu einer Angelegenheit des Militärs wird. Erinnerungen an die Große Koalition 1966 bis 1969, als die Notstandsgesetze in das Grundgesetz eingefügt wurden, werden wach.

7. Entwicklungspolitik als Instrument der Sicherheitspolitik

Auch wenn der Abschnitt, der sich mit "Entwicklungspolitik" befasst, betont, diese sei "ein eigenständiger Teil unserer gemeinsamen deutschen Außenpolitik", so muss doch stark an deren "Eigenständigkeit" gezweifelt werden. Die Entwicklungsprobleme insbesondere in Afrika, so heißt es im Koalitionsvertrag, "gefährden unmittelbar Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa" (S. 138). Alle entwicklungspolitischen Maßnahmen werden so dem Ziel untergeordnet, den "demographischen Entwicklungen" und dem "steigenden Migrationsdruck in Richtung Europa" entgegen zu wirken (S. 139). Hier lebt der Gedanke an die "Festung Europa" auf, der durch reale Maßnahmen der EU zur Flüchtlingsbekämpfung an den EU-Außengrenzen, z.B. in Nordafrika praktische Gestalt angenommen hat.

Damit soll nicht gesagt sein, dass es im entwicklungspolitischen Teil des Koalitionsvertrags nicht auch unterstützenswerte Ziele und Vorgaben gibt: Die Aufstockung der Entwicklungshilfeausgaben auf bis zu 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (eine Uraltforderung der Vereinten Nationen) bis zum Jahr 2015 sollte möglichst schon früher erreicht werden. Eine solche Erhöhung darf aber auf keinen Fall mit anderen Leistungen oder Zusicherungen gegengerechnet werden. Zu dieser Sorge gibt folgender Satz im Koalitionsvertrag Anlass: "Dazu tragen die Erhöhung der Haushaltsmittel, Entschuldung der Entwicklungsländer und innovative Finanzierungsinstrumente bei." (S. 140)

Insgesamt ist von der Großen Koalition eine forcierte Politik der Renationalisierung und Militarisierung der Außenpolitik zu erwarten. Die Friedensbewegung wird darauf zu reagieren wissen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg
Peter Strutynski, Kassel


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