Tiger auf dem Sprung
Chinas Nuklearstreitmacht
Von Wolfgang Kötter*
Die Volksrepublik China tritt selbstbewusst als Kernwaffenmacht auf, verweigert jedoch offizielle Angaben über ihr Nukleararsenal. Vorliegende Informationen stützen sich auf Schätzungen und Geheimdienstberichte oder beruhen teilweise auf purer Spekulation, auf die sich auch seriöse Analysten wie das Londoner Institut für Internationale Strategische Studien IISS und das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI beziehen. Wir setzen mit diesem Text die Serie über Potenziale und Einsatzdoktrinen der führenden Kernwaffen-Mächte fort.
Mao Tse-tung hielt anfänglich nicht viel von Kernwaffen. Noch in den frühen fünfziger Jahren verspottete er die atombewehrten Amerikaner als "Papiertiger", die es niemals mit der chinesischen Volksbefreiungsarmee aufnehmen könnten. Ein von der US-Regierung nicht ausgeschlossener Einsatz von Kernwaffen im Dauerkonflikt um den Status Taiwans ließ die chinesische Führung jedoch bald umdenken. Man startete - zunächst mit massiver sowjetischer Hilfe - ein eigenes Atomprogramm. 1955 unterzeichneten China und die UdSSR einen "Vertrag über nukleartechnologische Kooperation", der nach chinesischer Lesart auch den Transfer einer "Musterbombe" vorsah, um damit eine Art Prototyp für den Aufbau eines eigenen Arsenals zu haben. So konnten der erste nukleare Sprengsatz und die erste Wasserstoffbombe 1964 beziehungsweise 1967 gezündet werden. In den Jahrzehnten danach sollten auf dem Lop-Nor-Testgelände in der Wüste Gobi weitere 45 - teilweise auch atmosphärische - Nuklearversuche folgen.
Zunächst reichte den chinesischen Militärs die Fähigkeit zum nuklearen Gegenzug (Zweitschlagkapazität), um im Falle eines Kernwaffenangriffs mit einem Vergeltungsschlag antworten zu können - eine Strategie der Minimalabschreckung, die rein defensiven Charakter trug und sich in der Struktur der Streitkräfte widerspiegelte. Dabei wurde in dieser Pionierzeit der chinesischen Atomstreitmacht versucht, begrenzte Arsenale wie auch technologische Defizite durch eine hohe Mobilität zu kompensieren. Das Oberkommando setzte auf eine Luftverteidigung mit Boden-Luft-Raketen und ließ die in Hangars und Höhlen stationierten Flugkörper anfangs mit Zugmaschinen zu den Abschussrampen schleppen. Erst dort wurden die separat gelagerten Sprengköpfe montiert, so dass in der Regel 60 Minuten zwischen Alarmierung und Abschuss einzukalkulieren waren.
Ernsthaft behindert wurde eine Modernisierung dieses Potenzials durch die 1965 beginnende Kulturrevolution und das Zerwürfnis mit der UdSSR, die der chinesischen Atommacht sämtlichen externen Beistand entzog. Wie kaum anders zu erwarten, behalf man sich in dieser Situation mit dem Nachbau erworbener Waffen, setzte aber zusehends auf eigene Entwicklungen. Mit der Öffnungs- und Reformpolitik Deng Xiaopings nach dem III. Plenum des XI. Parteitages der KP Chinas im Herbst 1978 zeichnete sich zugleich ein strategischer Wandel ab, indem die Doktrin vom nuklearen Vergeltungsschlag durch ein Konzept ersetzt wurde, das einen "frühzeitigen Einsatz von Kernwaffen in großem Umfang" und den taktischen Atomkrieg nicht mehr ausschloss.
Flugzeugträger und ein globaler Aktionsradius
Nach Angaben des Natural Defense Council in Washington verfügt China heute über etwa 400 nukleare Sprengköpfe, wovon zirka 260 für strategische Aufgaben auf landgestützten Langstreckenraketen, Bombern und auf einem Unterseeboot reserviert sind (s. Übersicht). Ungefähr 140 Sprengsätze erfüllen taktische Funktionen als Artilleriegeschosse, Bomben, Munition für Kurzstreckenraketen oder als Minen. Das Rückgrat der Atomstreitmacht bilden die ballistischen Raketen. Schätzungen zufolge können 20 von ihnen Territorien der USA in Alaska oder Hawai erreichen, etwa 300 sind auf Ziele in Japan, Indien oder Russland gerichtet. Bis 2015, so glauben Experten, dürften die meisten der strategischen Raketen mobil stationiert sein.
Mit seiner 14.500 Kilometer langen Küstenlinie misst China dem Ausbau der Marine besondere Bedeutung bei, sprich: den Seestreitkräften mit Überseeflotte, Unterseebooten und Raketenbewaffnung. Allerdings kommandiert die Admiralität bisweilen nur ein nukleargetriebenes und nicht immer einsatzfähiges U-Boot der Xia-Klasse (es trägt zwölf der ersten feststoffgetriebenen strategischen Raketen) sowie vier kleinere Angriffs-U-Boote. Keines von ihnen soll jemals die regionalen Küstengewässer verlassen haben, was gewiss auch damit zu tun hat, dass sich besonders auf das Südchinesische Meer die Begehrlichkeiten mehrerer Anrainer richten - nicht zuletzt beim Streit um die Spratlys, einer kleinen Inselkette aus Korallenriffen und Sandbänken, an der wichtige Schifffahrtsrouten vorbei führen und in deren Umfeld Öl und Erdgas vermutet werden. Der Spratly-Konflikt gilt als so exemplarisch, dass er beispielsweise an der Universität Bristol zum Standard-Repertoire bei Planspielen für einen Kriegsausbruch im Pazifik gehört.
Noch verfügt China über keinen einzigen Flugzeugträger, wohl aber ein ehrgeiziges Programm für den Bau von 25 davon, die eines nicht fernen Tages einen globalen Aktionsradius garantieren sollen, auf dass chinesischen Interessen auch fernab der eigenen Küsten Nachdruck verliehen werden kann.
Chinas verhältnismäßig große Zahl von Bombern galt lange Zeit als veraltet, da es sich überwiegend um Nachbauten früherer sowjetischer Typen handelte, die amerikanischen F-16, russischen Su-30 oder französischen Mirage-2000 weit unterlegen waren. Inzwischen kooperiert die Volksbefreiungsarmee wieder verstärkt mit Russland, kaufte dort 1992 neue Kampfflugzeuge und Patente zur Eigenproduktion. Außerdem wurden fast 1.000 Spezialisten aus dem früheren Militärisch-Industriellen Komplex der UdSSR angeworben, die einen spürbaren Technologietransfer bei der Raketen- und Nukleartechnologie bewirkt haben. Den chinesischen Streitkräften stehen heute moderne C4I-Systeme (Command, Control, Communications, Computers and Intelligence) für die militärische Führung, für Nachrichtenlinien, elektronische Operationen und Aufklärung zur Verfügung.
Vorrangig die Militarisierung des Weltraums veranlasst Chinas Militärs zu einem forcierten Tempo auf der Nachrüstungsspur. Am 16. Oktober 2003 landete Chinas erster Taikonaut Yang Liwei nach 14 Erdumrundungen und 21 Stunden im All wohlbehalten in der Steppe der Inneren Mongolei. Für die Zukunft sind weitere Flüge mit Shenzhou-Raumschiffen geplant und im Jahre 2006 soll erstmals eine Taikonautin an Bord gehen. Weil Chinas Wunsch zur Mitarbeit an der Internationalen Raumstation ISS von den USA vehement blockiert wird, soll eine eigene Orbitalstation aufgebaut und bis 2020 der erste Chinese auf dem Mond landen (oder denselben zumindest umkreisen) - ausnahmslos Projekte, die als Reaktion auf die amerikanische Weltraumrüstung zu betrachten sind. "Der erste bemannte Raumflug war für unser Land so wichtig wie die Entwicklung und Erprobung der ersten nuklearen und thermonuklearen Waffen", verkündet stolz Wissenschaftsminister Xu Guang.
Großes Land "Rot" attackiert kleinen Inselstaat "Braun"
Ohne jeden Zweifel empfindet die chinesische Führung die von den USA anvisierten nationalen wie regionalen Raketenabwehrsysteme als fundamentale Bedrohung der eigenen Sicherheit und globalen Kräftebalance. Besonders durch die erwogene Einbeziehung von Japan, Südkorea und Taiwan in dieses Programm könnte das Nuklearpotenzial Chinas weitgehend neutralisiert werden. Schließlich wäre man im Fall einer Konfrontation schutzlos einem nuklearen Erstschlag der USA ausgeliefert, ohne wirksam antworten zu können. Bei einer jüngst von der US-Armee veranstalteten Star Wars-Simulation, die in das Jahr 2017 verlegt war, griff das große Land "Rot" mit starken Kräften den kleinen Inselstaat "Braun" an, dem das mächtige Land "Blau" zu Hilfe kam. Fünf Tage tobte eine erbitterte Schlacht im Weltraum - mit ballistischen Raketen, Hochenergie-Lasern und bemannten Raumschiffen. Die Farben standen, wie unschwer zu erraten war, für die Republik Taiwan, die USA und den "Feind", die Volksrepublik China.
Lange Zeit war Peking jedem multilateralen Abrüstungsdiskurs mit Ignoranz begegnet. Der Genfer Abrüstungsausschuss sah sich mit einer Politik des leeren Stuhls bedacht - die Chinesen unterzeichneten weder den Teilteststoppvertrag von 1963 noch den Nichtverbreitungsvertrag von 1970. Erst wenn die Supermächte 50 Prozent ihrer Arsenale verschrottet hätten, käme ein Einstieg in Betracht, lautete die Begründung. Seit jedoch in Peking internationale Akzeptanz wieder etwas gilt, hat die Position des kapriziösen Außenseiters ausgesorgt. Seit 1992 sitzt eine chinesische Abordnung in der Genfer Abrüstungskonferenz, im gleichen Jahr wurde der Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet und 1996 der umfassende Teststoppvertrag, dessen Ratifizierung allerdings aussteht. Das Entscheidende jedoch ist: Die Volksrepublik China verzichtete bisher als einziger Kernwaffenstaat (*) auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und erklärte sich bereit, Nichtkernwaffenstaaten uneingeschränkte Sicherheitsgarantien zu geben.
Ungeachtet dessen gilt es derzeit als absolute Priorität für Chinas Diplomatie, ein Wettrüsten im Weltraum zu verhindern. Der erwähnten Genfer Konferenz liegt seit längerem ein russisch-chinesischer Vertragsentwurf vor, der auf einen allgemeinen Gewaltverzicht für alle im Weltraum stationierten Objekte zielt.
Zweitschlag gegen das amerikanische Festland
Parallel zu diesen Bemühungen werden Offensivpotenziale mit dem Argument modernisiert, im Falle eines Atomangriffs wolle China in der Lage sein, mit eigenen Mitteln die "Killer"-Raketen eines amerikanischen Abwehrsystems zu überwinden. Folglich müsse man die Zahl der strategischen Offensivraketen vervierfachen. Im regionalen Umfeld dürften diese Absichten für Unruhe sorgen, so dass gewiss auch Indien zur nuklearen Nachrüstung ausholen und Pakistan nicht abseits stehen wird. Selbst in Japan werden bekanntlich Stimmen für eine nukleare Option laut.
Dank eines Modernisierungsschubs im Wert von zehn Milliarden Dollar könnte die Zahl der auf die USA gerichteten chinesischen Sprengköpfe bis 2015 auf 75 bis 100 wachsen, schon 2010 dürften 60 - teils mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüstete - Interkontinentalraketen von China aus das nordamerikanische Festland erreichen können. Dreimal so viel wie heute. Obwohl die Bush-Regierung die Volksrepublik bisher nie zur "Achse des Bösen" gezählt hat, reden die Falken in der Administration nicht nur gern und oft von der "neuen gelben Gefahr", sondern haben beim Aufbau eines weltraumgestützten Abwehrsystems auch nie einen Zweifel gelassen, gegen wen es sich vorzugsweise richten sollte.
Chinas Kernwaffenarsenal 2004
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Landgestützte Raketen (DF-3A / DF-4 / DF-5/5A/ DF-21A):
Anzahl: 120
Zeitraum der Stationierung: 1971 bis 1985
Reichweite (in km): 1.800 bis 5.500 km
Zahl der Sprengköpfe: 120 -
JL1-Raketen auf U-Boot:
Anzahl: 12
Zeitraum der Stationierung: 1986
Reichweite (in km): 1.000 km
Zahl der Sprengköpfe: 12 -
Luftgestützte Raketen (H-6 / Q-5):
Anzahl: 130
Zeitraum der Stationierung: 1965 bis 1970
Reichweite (in km): 400 bis 3.100 km
Zahl der Sprengköpfe: 130 -
Strategische Sprengköpfe insgesamt: 262
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Taktische Atomwaffen insgesamt: 138
Quelle: Bulletin of the Atomic Scientist
* Aus: Freitag, 36, 27. August 2004
Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte im Juli/August/September eine Reihe von Beiträgen über die Atomwaffenarsenale und -politik der Kernwaffenstaaten. Es erschienen:
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