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Ist die Anwendung von Gewalt moralisch gerechtfertigt?

Eine Antwort von Amerikanern auf ihre Kollegen in Deutschland

Am 12. März 2002 veröffentlichten 60 US-Intellektuelle ein Manfifest für den "gerechten Krieg", in dem von einem wertkonservativen Standpunkt aus die Kriegspolitik der US-Regierung im Grundsatz gutgeheißen wurde.
Darauf antworteten am 12. April 2002 etwa 150 US-Wissenschaftler in einem offenen Brief "An unsere Freunde in Europa"worin sie sich kritisch mit den Kriegspositionen der 60 Intellektuellen auseinandersetzten.
Dieser Kritik schlossen sich am 2. Mai rund 90 deutsche Wissenschaftler/innen in einem Brief ("Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus") an.
Nun kam am 8. August eine neuerliche Stellungnahme der Krieg befürwortenden Intellektuellen aus den USA, die wir im Folgenden ebenfalls dokumentieren wollen. Wir vermuten, dass auch hierauf eine Antwort aus Deutschland nicht lange auf sich warten lassen wird. Bei Erscheinen werden wir sie selbstverständlich ebenfalls dokumentieren.
(Sie ist am 25. September erschienen und wird von uns hier dokumentiert.)



Ist die Anwendung von Gewalt moralisch gerechtfertigt?

Eine Antwort von Amerikanern auf ihre Kollegen in Deutschland
08. August 2002

Wir haben Ihren Brief "A world of peace and justice would be different" (Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus) erhalten, den 103 Persönlichkeiten aus Deutschland öffentlich im Mai diesen Jahres verbreitet haben. Sie antworteten damit auf den Brief von 60 Amerikanern "What We're Fighing For" (Wofür wir kämpfen), den wir im Februar diesen Jahres in Washington D.C. veröffentlicht haben. Wir sind dankbar, dass Sie sich die Zeit genommen haben, uns zu schreiben, und wir möchten diesen Dialog fortführen.

Ihre Feststellung, dass es "keine moralische Rechtfertigung für den entsetzlichen Massenmord am 11. September gibt", schätzen und teilen wir. Ebenso stimmen wir Ihrer Überzeugung zu, dass die besondere Würde, die jedem Menschen "unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und Religion" inhärent ist, die notwendige Grundlage bietet für eine ernsthafte moralische Reflektion über das Thema.

Dennoch enttäuscht uns Ihre Reaktion. Sie bezeichnen Ihren Brief zwar als eine "Antwort", gehen jedoch nur indirekt auf unser zentrales Argument ein. In unserem Manifest "What We're Fighting For" knüpfen wir an die Tradition des gerechten Krieges an. Auf der Grundlage dieser Theorie sind wir davon überzeugt, dass der Gebrauch von militärischer Gewalt gegen die Mörder des 11. September und gegen diejenigen, die sie unterstützen, nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar moralisch geboten ist. Mit dieser Schlussfolgerung stimmen Sie offenbar nicht überein. Aber abgesehen davon, dass Sie die Tradition des gerechten Krieges als einen "unglückseligen historischen Begriff" bezeichnen, entfalten Sie an keiner Stelle irgendeine schlüssige moralische Position zur Frage des Gebrauchs von Waffengewalt.

Lassen Sie uns wiederholen: Moralische und intellektuelle Einstellungen zum Thema Krieg teilen sich in vier grundlegende Kategorien. Dem Pazifismus zufolge ist jeder Krieg moralisch verwerflich. Der Realist sagt, dass es in Kriegen nur um Macht und Eigennutz geht, weshalb moralische Analysen darüber unerheblich sind. Die Anhänger von Heiligen Kriegen oder Kreuzzügen sind davon überzeugt, dass Gott - oder eine säkulare Ideologie, die ein oberstes Ziel verfolgt - die Tötung von Nicht-Gläubigen autorisieren kann. Von diesen drei Positionen unterscheidet sich die Theorie des gerechten Krieges fundamental. Ihr zufolge gelten auch im Krieg universelle moralische Prinzipien, die festlegen, ob und wann der Einsatz von Gewalt moralisch gerechtfertigt ist.

Welche dieser vier Positionen ist Ihre? Das verschweigen sie uns. Falls Sie Pazifisten sind, sollten Sie dies sagen. Der Pazifismus ist eine ehrenhafte Einstellung, die wir allerdings - bei allem Respekt - nicht teilen. Wie es scheint, sind Sie vom Grundgefühl her stark pazifistisch geprägt. Darauf jedenfalls deuten viele Ihrer Aussagen hin, die sie zum Einsatz von Waffengewalt in Afghanistan nach dem 11. September machen. Andererseits würdigen Sie die Teilnahme der USA am Zweiten Weltkrieg als "hervorragenden Beitrag".

Falls Sie Realisten sind, die moralische Argumente über den Krieg generell verachten, dann sollten Sie dies ebenfalls zugeben, obwohl wir diesbezüglich unsere Zweifel haben, denn Ihr Brief strotzt nur so vor moralisierenden Behauptungen. Außerdem nehmen wir an, dass Sie das Prinzip des Heiligen Krieges ablehnen. Was Ihnen also als einzige moralische und intellektuelle Position bleibt, ist die Theorie des gerechten Krieges. Bitte denken Sie daran: Diese Tradition strebt in erster Linie danach, die Anwendung von Waffengewalt zu begrenzen und nicht zu preisen. Überdies hat sie nachhaltig Einfluss ausgeübt auf die internationale Gesetzgebung und die Einrichtung internationaler Institutionen, wie zum Beispiel die Gründung der Vereinten Nationen. Das alles zählt für Sie offenbar nicht. Die gesamte Tradition des gerechten Krieges kanzeln Sie in einem einzigen Nebensatz ab, gewissermaßen als Vorspiel zu Ihrer harschen Attacke auf die Entscheidung der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten, Deutschland inbegriffen, gegen die Al-Qaida- und Taliban-Kämpfer in Afghanistan zu den Waffen zu greifen.

Wo also stehen Sie? Ist der Einsatz von Waffengewalt für Sie jemals moralisch gerechtfertigt? Falls nein, warum nicht? Falls ja: Nach welchen moralischen Kriterien sollte diese Frage entschieden werden? Und wie sollte man diese Kriterien, so wie Sie sie verstehen, auf die gegenwärtige Krise anwenden? Es ist einfach und zweifellos ihr gutes Recht, die Vereinigten Staaten für so ziemlich alles anzuprangern, was sie in der Welt seit 1945 getan haben. Das aber befreit Sie nicht von der Verantwortung, eine klare und in sich schlüssige Position zu den moralischen Grundfragen zu beziehen. Wir erwarten Ihre Antwort.

Ihr Ton klingt alarmistisch. Sie beklagen den "wachsenden Einfluss fundamentalistischer Kräfte" in den USA, die auch "vor dem Weißen Haus nicht Halt" machen. Wir wollen diese Feststellung nicht bewerten, sondern lediglich darauf hinweisen, dass Sie an keiner Stelle in Ihrem Brief Alarm schlagen über die Tatsache, dass "fundamentalistische Kräfte" in vielen muslimischen Ländern an Boden gewinnen. Doch damit nicht genug: In Ihrem Brief empfehlen Sie den USA sogar, ihr gesamtes militärisches Personal aus Saudi-Arabien abzuziehen, weil offenbar bereits die bloße Präsenz dieser Truppen von vielen Muslimen "als ein Stachel im eigenen Fleisch betrachtet und als Angriff auf die eigene Kultur und das Selbstwertgefühl empfunden wird".

Was erklärt diese Diskrepanz? Haben Sie ausschließlich etwas gegen den "Fundamentalismus" in den USA? Glauben Sie, dass die "fundamentalistischen Kräfte" in der muslimischen Welt - bei jenen Gruppen also, die das US-Militär nicht mögen, den Frauen das Wahlrecht und den Führerschein verweigern, die zur Ermordung von Schriftstellern aufrufen, deren Werke ihnen nicht passt, und die in regelmäßigen Abständen allen Fremden und Ungläubigen den Krieg erklären - dass diese Kräfte eine geringere Bedrohung für die Welt darstellen als jene "fundamentalistischen Kräfte", von denen Sie fürchten, dass sie in den Vereinigten Staaten an Boden gewinnen?

An vielen Stellen Ihres Briefes schwingt Gleichgültigkeit gegenüber den Gefahren mit, die von muslimischen Extremisten ausgeht. Das ist auch in Ihrem Ratschlag ersichtlich, wie unsere Regierung auf die Ereignisse vom 11. September hätte reagieren sollen. Sie empfehlen uns, die rechtsstaatlichen Mittel, mit denen Verbrechen auf nationaler Ebene geahndet werden, "global zu erweitern". Diese Idee ist nicht nur vage, sie verwischt auch die Unterschiede zwischen einem individuellen kriminellen Akt und einer kriegerischen Handlung. Leider versäumen Sie es, uns mitzuteilen, wie Menschen, die angegriffen werden, sich aktuell verteidigen können.

Den Anstieg der islamistischen Gewalt beschreiben Sie als "eine Folge der Instabilität der Machtbalance in der gegenwärtig unipolaren Weltordnung". Sollten wir diese Analyse richtig verstehen, so ergibt sich daraus eine seltsame Konsequenz: Falls die USA und ihre Verbündeten, das deuten Sie in Ihrem Brief zumindest an, weniger Macht und Einfluss und Staaten wie Saudi-Arabien, Irak, Iran sowie andere Länder im Nahen Osten mehr Macht und Einfluss hätten, würde die Welt sichererer und friedlicher. Wenn man bedenkt, dass viele dieser Staaten (obwohl nicht alle), die Sie als zu wenig mächtig und einflussreich empfinden, von Despoten regiert werden, die ihre eigene Bevölkerung unterdrücken und jenen Terror exportieren, der gegenwärtig die Welt bedroht - inklusive der islamischen Welt -, dann können wir uns Ihrer Empfehlung nicht anschließen.

Ihr Brief befasst sich auch mit den zivilen Toten im Afghanistan-Krieg. Das ist ein überaus ernstes Thema, das uns ebenfalls sehr besorgt. Allerdings behandeln Sie das Problem nicht seriös. Ihre Behauptung über die Zahl der Ziviltoten ist im besten Falle unbewiesen. Begrifflich indes bezeichnen Sie die Ziviltoten als Beispiel für einen amerikanischen "Massenmord". Damit setzen sie die zivilen Opfer im Afghanistan-Krieg mit jenen Menschen moralisch auf eine Stufe, die bei den Terroranschlägen vom 11. September in New York, Washington, D.C. und Pennsylvania ums Leben kamen. Sie sagen uns, dass keine moralische Kalkulation "einen Massenmord mit einem weiteren Massenmord rechtfertigen" kann. Solche Bemerkungen machen uns traurig. Es ist moralische Blindheit, wenn Sie die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten in einem Krieg, dessen Grund gerechtfertigt ist, und in dem es das Ziel des Soldaten ist, den Verlust von zivilem Leben zu minimieren, mit der beabsichtigten Ermordung von Zivilisten, die sich in einem Bürogebäude befinden, durch Terroristen vergleichen, deren oberstes Ziel es ist, die Zahl der Ziviltoten zu maximieren.

Gegen Ende Ihres Briefes schreiben Sie: "Nur wenn weltweit und bei den ökonomisch und militärisch schwächeren Nationen und Kulturkreisen die Auffassung einkehrt, dass der Westen als der ökonomisch und militärisch mächtigste Kulturkreis es mit der Universalität der Menschenwürde ernst meint, dass diese nicht bloß eine Floskel ist, von der je nach Bedarf Gebrauch gemacht wird, nur dann erhöht sich die Chance, dass terroristische Selbstmordattentate nicht die beabsichtigte Resonanz erfahren, sondern in allen Ländern auf vehemente Ablehnung stoßen."

Ungeachtet dessen, dass wir mit Ihnen in anderen Bereichen nicht übereinstimmen, finden wir in dieser Festellung doch wichtige Elemente einer Einsicht. Sie könnte als Grundlage für einen künftigen Dialog dienen.

Nochmals vielen Dank für Ihre Antwort.

Unterzeichnerinnen

John Atlas, President, National Housing Institute; Executive Director, Passaic County Legal Aid Society
Jay Belsky, Professor and Director, Institute for the Study of Children, Families and Social Issues, Birkbeck University of London
David Blankenhorn, President, Institute for American Values
David Bosworth, University of Washington
R. Maurice Boyd, Minister, The City Church, New York
Gerard V. Bradley, Professor of Law, University of Notre Dame
Allan Carlson, President, The Howard Center for Family, Religion, and Society
Lawrence A. Cunningham, Professor of Law, Boston College
Paul Ekman, Professor of Psychology, University of California, San Francisco
Jean Bethke Elshtain, Laura Spelman Rockefeller Professor of Social and Political Ethics, University of Chicago Divinity School
Amitai Etzioni, University Professor, The George Washington University
Hillel Fradkin, President, Ethics and Public Policy Center
Samuel G. Freedman, Professor at the Columbia University Graduate School of Journalism
Francis Fukuyama, Bernard Schwartz Professor of International Political Economy, Johns Hopkins University
Maggie Gallagher, Institute for American Values
William A. Galston, Professor at the School of Public Affairs, University of Maryland; Director, Institute for Philosophy and Public Policy
Claire Gaudiani, Senior research scholar, Yale Law School, and former president, Connecticut College
Elizabeth Fox Genovese, Eleonore Raoul Professor of the Humanities, Emory University
Robert P. George, McCormick Professor of Jurisprudence and Professor of Politics, Princeton University
Carl Gershman, President, National Endowment for Democracy
Neil Gilbert, Professor at the School of Social Welfare, University of California, Berkeley
Mary Ann Glendon, Learned Hand Professor of Law, Harvard University Law School
Norval D. Glenn, Ashbel Smith Professor of Sociology and Stiles Professor of American Studies, University of Texas at Austin
Os Guinness, Senior Fellow, Trinity Forum
David Gutmann, Professor Emeritus of Psychiatry and Education, Northwestern University
Charles Harper, Executive Director, John Templeton Foundation
Sylvia Ann Hewlett, Chair, National Parenting Association
The Right Reverend John W. Howe, Episcopal Bishop of Central Florida
James Davison Hunter, William R. Kenan, Jr., Professor of Sociology and Religious Studies and Executive Director, Center on Religion and Democracy, University of Virginia
Samuel Huntington, Albert J. Weatherhead, III, University Professor, Harvard University
Byron Johnson, Director and Distinguished Senior Fellow, Center for Research on Religion and Urban Civil Society, University of Pennsylvania
James Turner Johnson, Professor, Department of Religion, Rutgers University
John Kelsay, Richard L. Rubenstein Professor of Religion, Florida State University
Judith Kleinfeld, Professor of Psychology, University of Alaska, Fairbanks
Diane Knippers, President, Institute on Religion and Democracy
Thomas C. Kohler, Professor of Law, Boston College Law School
Robert C. Koons, Professor of Philosophy, University of Texas at Austin
Glenn C. Loury, Professor of Economics and Director, Institute on Race and Social Division, Boston University
Harvey C. Mansfield, William R. Kenan, Jr., Professor of Government, Harvard University
Will Marshall, President, Progressive Policy Institute
Jerry L. Martin, President, American Council of Trustees and Alumni
Richard J. Mouw, President, Fuller Theological Seminary
Daniel Patrick Moynihan, University Professor, Maxwell School of Citizenship and Public Affairs, Syracuse University
John E. Murray, Jr., Chancellor and Professor of Law, Duquesne University
Anne D. Neal, Executive Director, American Council of Trustees and Alumni
Virgil Nemoianu, WJ Byron Distinguished Professor of Literature, Catholic University of America
Michael Novak, George Frederick Jewett Chair in Religion and Public Policy, American Enterprise Institute
Rev. Val J. Peter, Executive Director, Boys and Girls Town
David Popenoe, Professor of Sociology and Co-Director of the National Marriage Project, Rutgers University
Gloria G. Rodriguez, Founder and President, AVANCE, Inc.
Robert Royal, President, Faith & Reason Institute
Nina Shea, Director, Freedom’s House’s Center for Religious Freedom
Fred Siegel, Professor of History, The Cooper Union
Max L. Stackhouse, Professor of Christian Ethics and Director, Project on Public Theology, Princeton Theological Seminary
William Tell, Jr., The William and Karen Tell Foundation
Maris A. Vinovskis, Bentley Professor of History and Professor of Public Policy, University of Michigan
Paul C. Vitz, Professor of Psychology, New York University
Michael Walzer, Professor at the School of Social Science, Institute for Advanced Study
George Weigel, Senior Fellow, Ethics and Public Policy Center
Roger Williams, Mount Hermon Association, Inc.
Charles Wilson, Director, Center for the Study of Southern Culture, University of Mississippi
James Q. Wilson, Collins Professor of Management and Public Policy Emeritus, UCLA
John Witte, Jr., Jonas Robitscher Professor of Law and Ethics and Director, Law and Religion Program, Emory University Law School
Christopher Wolfe, Professor of Political Science, Marquette University
George Worgul, Executive Director, Family Institute, Duquesne University
Daniel Yankelovich, President, Public Agenda

Quelle: "Propositions", Instuitute for American Values (http://www.propositionsonline.com/html/ist_die_anwendung_von_gewalt_m.html)


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