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"Nächstenliebe verlangt Gewaltanwendung"

US-Intellektuelle plädieren für den "gerechten Krieg" - Im Wortlaut

Am 12. März 2002 veröffentlichen 58 führende amerikanische Intellektuelle einen gemeinsamen Appell, den US-"Krieg gegen den Terror" zu unterstützen. In dem 18-seitigen Papier wird moralisch, politisch und juristisch zu begründen versucht, warum die universalen Werte und Grundrechte der wetlichen Zivilisation notfalls auch in einem "gerechten Krieg" zu verteidigen seien.
Der Aufruf gliedert sich in Überlegungen über amerikanische Werte, die Rolle der Religion, die Theorie des gerechten Krieges sowie einen Anhang mit Anmerkungen zu den Schlüsselbegriffen und der Debatte über den Entwurf. Zu den Unterzeichnern gehören der Soziologe Francis Fukuyama ("The End of History and the last Man"), der Kulturhistoriker Samuel P. Huntington ("Clash of Civilizations"), der Gesellschaftstheoretiker Amitai Etzioni, der Philosoph Michael Walzer, Politologen, Religionswissenschaftler, Völkerrechtler. In einer Reihe von Zeitungen hier zu Lande wurde Teile dieses Appells in deutschen Übersetzungen publiziert (Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung) und in den Feuilletons besprochen. "Während das Manifest in Europa lebhafte Diskussionen auslöste, blieb die inneramerikanische Reaktion bemerkenswert blass - als ob der 'gerechte Krieg' zur ethischen Selbstverständlichkeit geworden wäre", schreibt die Süddeutsche Zeitung einen Monat später (SZ, 11.04.2002). Dennoch handelt es sich um ein bemerkenswertes Dokument der Zeitgeschichte, das eine Menge über den geistigen Zustand eines Teils der US-amerikanischen geistigen "Elite" aussagt. Aus diesem Grund dokumentieren wir wichtige Teile des Appells in der deutschen Übersetzung von Christoph von Marschall (nach: Der Tagesspiegel vom 12.04.2002). Eine Antwort auf diesen Appell formulierten kritische US-Wissenschaftler einen Monat später. Dieser "Offene Brief" zeigt das andere und nicht eben bedeutungslose intellektuelle Amerika.



"Manchmal wird es notwendig für eine Nation, sich mit Waffengewalt selbst zu verteidigen. Weil aber Krieg eine schwerwiegende Angelegenheit ist, die das Opfern und Auslöschen wertvoller Menschenleben einschließt, verlangt das Gewissen von jenen, die den Krieg erwägen, dass sie die moralische Begründung ihres Handelns klar benennen, um voreinander und vor der Weltgemeinschaft die Prinzipien zu klären, die sie verteidigen. Wir bekräftigen fünf fundamentale Wahrheiten, auf die alle Menschen unterschiedslos Anspruch haben.

1. Alle Menschen sind frei geboren und haben die gleiche Würde und die gleichen Grundrechte.

2. Das Grundelement jeder Gesellschaftsordnung ist der Mensch. Jede Regierung hat die legitime Aufgabe, die Grundlagen für menschliches Wohlergehen zu schützen und zu befestigen.

3. Menschen haben das natürliche Bedürfnis, die Wahrheit über den Sinn des Lebens und seine letzten Ziele zu suchen.

4. Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit sind unverletzbare Rechte des Menschen.

5. Das Töten im Namen Gottes steht im Gegensatz zum Glauben an Gott und bedeutet den schwerstwiegenden Betrug an der Universalität religiösen Glaubens.

Wir kämpfen, um uns selbst und diese allgemeingültigen Prinzipien zu verteidigen.

Was sind amerikanische Werte?

Seit dem 11. September haben Millionen Amerikaner sich selbst und ihresgleichen gefragt: warum? Warum sind wir das Ziel dieser hasserfüllten Angriffe? (...) Wir erkennen, dass unsere Nation bisweilen mit Arroganz und Ignoranz gegenüber anderen Nationen gehandelt hat. Zu gewissen Zeiten hat unsere Nation eine fehlgeleitete und ungerechte Politik verfolgt. Zu oft ist es unserer Nation nicht gelungen, nach unseren eigenen Idealen zu leben. (...) Uns eint die Überzeugung - und wir sind überzeugt, dass alle Rechtschaffenen dieser Welt dem zustimmen -, dass kein Verweis auf die Verdienste oder das Versagen einer bestimmten Außenpolitik jemals den Massenmord an unschuldigen Menschen rechtfertigen kann.

(...) Wir können nicht beanspruchen, die Motive unserer Angreifer und ihrer Sympathisanten gänzlich zu verstehen. (...) Der Anführer der Al Qaida beschreibt die "gesegneten Anschläge" des 11. September als Schlag gegen Amerika, "den Schuldigen am Unglück der Welt". (...) In der Konsequenz richtet sich ihr Hass nicht allein gegen das, was unsere Regierung tut, sondern gegen das, was wir sind - gegen unsere Existenz.

Wer also sind wir? Was sind unsere Werte? Für viele Menschen, viele Amerikaner, einen Gutteil der Unterzeichner eingeschlossen, sind einige Werte, die in Amerika sichtbar werden, nicht erstrebenswert und schmerzlich. Konsum als Lebenszweck. Der Begriff von Freiheit als Fehlen von Regeln. Das Verständnis des selbstbestimmten und uneingeschränkt souveränen Individuums, als ob es anderen und der Gemeinschaft nichts schuldig sei. Die Schwächung von Ehe und Familienleben. Zudem den enormen Unterhaltungs- und Kommunikationsapparat, der solche Ideen rücksichtslos glorifiziert und sie, ob willkommen oder nicht, in fast jede Ecke des Globus sendet.

(...) Gleichzeitig gibt es andere amerikanische Werte - die wir als grundlegende Werte begreifen, die unsere Lebensweise definieren -, die sich von den zuvor genannten unterscheiden und weit attraktiver sind nicht nur für Amerikaner, sondern für die Menschen überall auf der Welt. (...)

1. die Überzeugung, dass alle Menschen eine angeborene Würde besitzen und dass folglich jeder Mensch immer als Zweck an sich und nicht als Mittel zu betrachten ist (...) Männer wie Frauen und unabhängig von Rasse und Hautfarbe. Der klarste politische Ausdruck des Glaubens an eine transzendentale menschliche Würde ist die Demokratie.

2. (...) die Überzeugung, dass es universale moralische Wahrheiten gibt, zu denen alle Menschen Zugang haben. Zu den eloquentesten Ausdrücken unseres Vertrauens in diese Wahrheiten gehört unsere Unabhängigkeitserklärung, George Washingtons Abschiedsrede, Abraham Lincolns Gettysburg-Rede und seine zweite Amtseinführungsrede sowie Dr. Martin Luther Kings Brief aus dem Gefängnis Birmingham.

3. die Überzeugung, dass unser individueller und kollektiver Zugang zu diesen Wahrheiten unvollkommen ist und deshalb die meisten Meinungsverschiedenheiten über Werte einen zivilen Umgang, die Offenheit für andere Sichtweisen und eine rationale Auseinandersetzung erfordern.

4. Gewissens- und Religionsfreiheit (...) als Ausdruck grundlegender Menschenwürde und als Voraussetzung anderer individueller Freiheiten.

(...) Keine andere Nation in der Geschichte hat ihre Identität (...) so direkt und ausdrücklich mit den universalen Menschenrechten verbunden. Für uns hat kein anderes Faktum über dieses Land höhere Bedeutung.

Manche geben zu bedenken, dass diese Werte nicht universal seien, sondern sich von der westlichen, im Wesentlichen christlich geprägten Zivilisation herleiten. Sie argumentieren: Wer diese Werte als universal begreife, leugne die Unterschiede zu anderen Kulturen. Dem können wir nicht zustimmen. (...) Wir glauben daran, dass die Freiheit aller Menschen möglich und gewünscht ist. Wir glauben, dass bestimmte grundlegende moralische Werte überall in der Welt anzuerkennen sind. Wir stimmen (...) der UN-Menschenrechts-Charta zu. (...)

Was ist mit Gott?

Seit dem 11. September haben Millionen Amerikaner sich selbst und ihresgleichen gefragt: Und was ist mit Gott? (...) Wenn wir den Horror des Geschehenen bedenken und die Gefahren, die wahrscheinlich vor uns liegen, werden viele fragen: Ist Religion ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems?

Die Unterzeichner haben unterschiedliche religiöse und moralische Traditionen, teils auch säkulare. (...) Viele von uns glauben, dass wir in Gottes Hand sind. Keiner von uns glaubt, dass Gott jemals einen Menschen beauftragt, andere Menschen zu töten oder zu besiegen. Jeder solche Ansatz, ob wir ihn "Heiliger Krieg" oder "Kreuzzug" nennen, (...) negiert den Glauben an Gott, weil er Gott in ein Idol verwandelt, das menschlichen Zielen dienen soll. (...)

Jene, die uns am 11. September angegriffen haben, sagen offen, dass sie sich in einem "Heiligen Krieg" sehen. (...) Um das Unheil dieses Denkens zu erkennen, brauchen wir Amerikaner uns nur an unsere eigene Geschichte und die des christlichen Westens zu erinnern: die christlichen Religionskriege und die sektiererische christliche Gewalt (...).

Einige Unterzeichner glauben, dass Menschen von Natur aus religiös sind. (...) Alle Unterzeichner erkennen an, dass religiöser Glaube und religiöse Institutionen (...) oft eine wohltätige und heilende Funktion auf die Gesellschaft ausüben. Manchmal allerdings bewirken sie Trennung und Gewalt.

Ein gerechter Krieg?

Wir anerkennen, dass jeder Krieg schrecklich ist und das Ergebnis des politischen Versagens von Menschen darstellt. Wir wissen, dass die Trennungslinie zwischen Gut und Böse nicht zwischen der einen und der anderen Gesellschaft verläuft, und noch weniger zwischen der einen und einer anderen Religion. Diese Grenze läuft durch die Mitte jedes menschlichen Herzens. (...) Doch die Vernunft und die moralische Abwägung lehren uns, dass es Zeiten gibt, in denen die erste und wichtigste Reaktion auf das Böse sein muss, es zu stoppen. Es gibt Zeiten, in denen es nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar geboten ist, den Krieg zu erwägen - als Antwort auf katastrophale Gewaltakte, Hass und Ungerechtigkeit. Derzeit erleben wir einen solchen Moment.

Der Gedanke des "gerechten Krieges" hat eine breite Grundlage; seine Wurzeln finden sich in vielen Religionen und säkularen Moraltraditionen (...) in der jüdischen, christlichen und moslemischen Lehre. (...)

Nach den Prinzipien des gerechten Krieges sind Angriffs- und Expansionskriege niemals akzeptabel. Es können auch keine legitimen Kriege für den nationalen Ruhm, aus Rache für Unrecht in der Vergangenheit, zur Gebietsvergrößerung oder für jeden anderen Zweck, der nicht der Verteidigung dient, geführt werden. (...) Die primäre moralische Rechtfertigung eines Krieges ist, Unschuldige vor sicherem Leid zu bewahren. (...) Wenn jemand unzweifelhafte Beweise hat, dass Unschuldigen, die sich nicht selbst schützen können, schweres Leid droht, sofern der Aggressor nicht mit zwingenden Gewaltmaßnahmen gestoppt wird, dann verlangt der moralische Grundsatz der Nächstenliebe, die Gewalt einzusetzen.

Legitime Kriege können nicht geführt werden gegen Gefahren, die gering sind oder fraglich oder deren Auswirkungen unklar sind, sowie gegen Bedrohungen, die sich durch Verhandlungen ausräumen lassen, durch den Appell an die Vernunft, durch Vermittlung Dritter oder andere nicht-gewaltsame Mittel. (Anmerkung im Anhang: Einige argumentieren, die Anforderungen an den gerechten Krieg als letzten Ausweg seien nicht erfüllt, solange nicht ein international anerkanntes Gremium wie die Vereinten Nationen dem Waffeneinsatz zugestimmt hat. Diese Auffassung ist problematisch. ... Es ist fraglich, ob ein internationales Gremium wie die UN der beste Richter sein kann, wann und unter welchen Bedingungen ein Waffeneinsatz als letzter Ausweg gerechtfertigt ist. ... Nach Aussage eines Beobachters, der früher Vize-Generalsekretär der UN war, könnte es selbstmörderisch sein, die UN zu einer Schatten-Imitation eines Staates zu machen mit dem Ziel, den internationalen Gebrauch von Gewalt zu regeln. ... Ende der Anmerkung)

Wenn jedoch die Gefahr für unschuldiges Leben real und gewiss ist, und besonders wenn der Aggressor von unversöhnlichem Hass getrieben ist - wenn also sein Ziel nicht ist, Verhandlungen oder Nachgeben zu erzwingen, sondern die Zerstörung des Gegners -, dann ist Gewalt gegen ihn als letzter Ausweg moralisch gerechtfertigt.

Ein gerechter Krieg kann nur von einer legitimen Autorität geführt werden, die Verantwortung trägt für die öffentliche Ordnung. Eine nicht-staatliche, opportunistische oder individuell begründete Gewaltanwendung kann niemals moralisch akzeptiert werden.

Ein gerechter Krieg darf nur gegen Personen, die Kombattanten sind, erwogen werden. (...) Nicht-Kombattanten müssen vor vorsätzlichen Angriffen geschützt sein. (...) Auch im Krieg muss die Heiligkeit menschlichen Lebens und das Prinzip der gleichen Würde der Menschen gelten. Selbst bei den tragischsten Kriegshandlungen muss die grundlegende moralische Wahrheit bedacht werden, dass alle "anderen" (...) das gleiche Recht auf Leben, Würde und Grundrechte haben wie wir.

Am 11. September hat eine Gruppe von Individuen vorsätzlich die USA angegriffen. (...) Sie waren Teil eines internationalen islamistischen Netzwerkes, das in 40 Ländern aktiv und als Al Qaida bekannt ist. Sie wiederum bildet nur einen Arm einer größeren radikalen islamistischen Bewegung. (...)

Wir benutzen die Begriffe "Islam" und "islamisch", um über eine der großen Religionen der Welt zu sprechen, die etwa 1,2 Milliarden Anhänger hat, darunter mehrere Millionen US-Bürger, von denen einige am 11. September ermordet wurden. Eigentlich ist es unnötig zu sagen - aber wir sprechen es hier einmal klar aus - , dass die Moslems in ihrer überwältigenden Mehrheit (...) anständig, gläubig und friedliebend sind.

Wir benutzen die Begriffe "Islamismus" und "radikale Islamisten", wenn wir über die gewalttätige, extremistische und radikal intolerante religiös-politische Bewegung sprechen, die jetzt die Welt bedroht, auch die moslemische Welt. Diese Bewegung bekämpft (...) das Gründungsprinzip der modernen Welt, die religiöse Toleranz, sowie die grundlegenden Menschenrechte (...) in der UN-Menschenrechts-Charta. (...)

(...) Der Massenmord am 11. September hat belegt, dass diese Bewegung nicht nur die Absicht, sondern auch die Kapazitäten und die Erfahrung hat, massive und schreckliche Verwüstungen anzurichten - einschließlich des möglichen Zugangs zu chemischen, biologischen und Atomwaffen sowie der Bereitschaft, sie zu benutzen. (...) Organisierte Killer mit globaler Reichweite bedrohen uns alle. Im Namen der universalen menschlichen Moral und im vollen Bewusstsein der Begrenzungen und Anforderungen eines gerechten Krieges unterstützen wir die Entscheidung unserer Regierung und unserer Gesellschaft, Waffengewalt gegen sie einzusetzen.

Wir versprechen, alles gegen die schmerzlichen Versuchungen zu tun, zu denen Nationen im Krieg neigen - vor allem Arroganz und Chauvinismus. Gleichzeitig erklären wir feierlich mit einer Stimme, dass es für unsere Nation und ihre Verbündeten darauf ankommt, diesen Krieg zu gewinnen. Wir kämpfen, um uns selbst zu verteidigen, aber wir sind überzeugt, dass wir dabei auch kämpfen, um die universalen Prinzipien der Menschenrechte und menschlichen Würde zu verteidigen, die die größte Hoffnung für die Menschheit darstellen. (...)"

Nach: Der Tagesspiegel, 12. März 2002


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