Israel: Friedensbewegung auf müden Beinen?
Trotz Vielfalt ist ihr politischer Einfluss gering
Im Folgenden dokumentieren wir einen informativen Bericht über die israelische Friedensbewegung, den wir dem ebenso informativen österreichischen "Südwind Magazin" entnommen haben. Originaltitel: "Friedensbewegung auf müden Beinen" (ohne Fragezeichen).
Seit fast 30 Jahren gibt es eine Friedensbewegung in Israel. Doch trotz ihrer Vielfalt ist ihr politischer Stellenwert gering. Und nunmehr hat sich sogar der Extremist Sharon einige ihrer Forderungen zu eigen gemacht.
Von John Bunzl*
Die Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der israelischen Friedensbewegung ist deshalb so schwierig zu beantworten, weil je nach dem Zeitpunkt und den Umständen etwas Anderes unter „Friedensbewegung“ verstanden werden kann. Und man muss dabei auch berücksichtigen, dass das politische Bewusstsein der israelisch-jüdischen Gesellschaft im Allgemeinen durch verschiedene Faktoren geprägt ist:
Das zionistische Narrativ, wonach Israel die Antwort auf die „jüdische Frage“ darstelle, ein jüdisches Leben in der Diaspora „ungesund“ sei und Israel eine Anti-These zur bzw. eine „Aufhebung“ der Diaspora verkörpere. Oder dass der Holocaust den letzten Beweis für die Notwendigkeit eines starken jüdischen Staates lieferte. Es besteht darüber hinaus in Israel eine Tendenz, Gefahren und Gegner in Holocaust-ähnlichen Proportionen und Dimensionen zu sehen.
Die jüdische Besiedlung Palästinas, die Staatsgründung 1948, der Aufbau Israels als ethnischer jüdischer Staat, der Krieg 1967 und die Fortsetzung des Kolonisationsprozesses in den damals besetzen Gebieten konnten nur durch Gewalt und gegen den Willen der „Natives“, also der palästinensischen Araber, durchgesetzt werden.
Die Rechtfertigung dieses Prozesses verlagerte sich nach 1967 mehr und mehr auf einen religiösen Diskurs, der Gott und messianische Visionen als Bündnispartner rekrutierte.
Natürlich konnten diese Faktoren nicht unbeeinflusst von regionalen und internationalen Entwicklungen bleiben, und die Gewichtung untereinander veränderte sich dementsprechend. Es lässt sich jedoch zusammenfassend feststellen, dass bis 1967 eine Alternative zur Konfrontation mit der arabischen Welt von keinem relevanten Sektor der israelischen Gesellschaft gesehen wurde. Der Sechstage-Krieg von 1967 wurde noch als Krieg ums Überleben geführt, Ähnliches gilt für den Oktoberkrieg (Jom Kippur) von 1973. Erst der Israel-Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat 1977 bewirkte einen mentalen Durchbruch. Es ist daher kein Zufall, dass die (noch immer) wichtigste Friedensbewegung Peace Now (Shalom Achschaw) 1978 entstanden ist. Es sei jedoch daran erinnert, dass ihre Ziele zunächst wenig mit den Palästinensern zu tun hatten: vielmehr sollte die Regierung von Menachem Begin zu einer flexibleren Haltung gegenüber Ägypten bewegt werden.
Sharons Libanon-Invasion von 1982 brachte jedoch einen Umschwung in mehrfacher Hinsicht: Erstens handelte es sich um einen Krieg, dem – nach dem Empfinden vieler Israelis – keine existenzielle Bedrohung vorausging, und zweitens handelte es sich um einen Waffengang, der explizit dem Konflikt mit den Palästinensern „gewidmet“ war. Während Sharon die politischen Ansprüche dieses Volkes mit militärischer Gewalt ausschalten wollte, war ein anderer, beträchtlicher, Teil der israelischen Gesellschaft der Meinung, dass es keine militärische Lösung des Palästina-Problems gebe.
Nach 1982 vervielfältigte sich die Friedensbewegung. Neben der „Dachorganisation“ Peace Now entstanden mehrere Gruppen, die aus einem Ad-hoc-Anlass entstanden waren, sich aber als relativ beständig erwiesen. Dazu gehören vor allem die Wehrdienstverweigerer von Jesh Gvul („Es gibt eine Grenze“), die selektiv den Einsatz im Libanon ablehnten, aber auch, wie andere ähnliche Gruppierungen (z.B. „Komitee gegen den Krieg im Libanon“), „radikalere“ Vorstellungen zu den Palästinensern entwickelten als sie Peace Now genehm waren. Letztere hatten sich mit dem Slogan: „Frieden ist besser als ein Großisrael“ begnügt, waren jedoch nicht zu Gesprächen mit der PLO (was auch verboten gewesen wäre) bereit, solange diese Organisation nicht einige Bedingungen erfüllt hatte. Dies trat erst nach Beginn der Ersten Intifada (1987-1991) ein, als die höchsten Gremien der Palästinenser in Algier eine explizite und eindeutige Anerkennung Israels aussprachen.
Dieser Faktor und eine relative Schwächung der Arafat-PLO durch deren anscheinende Allianz mit Saddam Hussein im Ersten Golfkrieg, sowie Druckausübung der damaligen Regierung Bush auf Israel (unter Jitzchak Shamir) führten zur Einberufung der Friedenskonferenz in Madrid (1991), bei der, wenn auch nicht die PLO, so doch die Palästinenser aus den besetzten Gebieten durch eine gewichtige Delegation vertreten waren. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse (und anderer Umstände, die mit der ex-sowjetisch-jüdischen Masseneinwanderung zu tun haben) kam es bei den Wahlen in Israel 1992 zu einem Umschwung, der Jitzchak Rabin und seine Arbeitspartei ans Ruder brachte.
Diese Voraussetzungen führten zu den Geheimverhandlungen mit der PLO in Oslo, die 1993 mit der berühmten Zeremonie Clinton-Rabin-Arafat vor dem Weißen Haus abgeschlossen wurden. Die israelische Friedensbewegung schien ihre Ziele erreicht zu haben.
Das gilt vor allem für Peace Now, die ja nun auch massiv in der Regierung vertreten war. Die Rückkehr Arafats 1994 und die Einrichtung der Palestinian Authority (PA) schien der Okkupation ein Ende zu bereiten. Die Realität sprach jedoch eine andere Sprache, denn unter Ausnützung des für Israel günstigen Kräfteverhältnisses wurde der Siedlungsprozess fortgesetzt, ja intensiviert – und die Palästinenser wurden durch alle möglichen Einschränkungen daran gehindert, einem Prozess entgegenzutreten, der ihnen vor ihren Augen den Boden für unabhängige Staatlichkeit unter ihren Füßen wegzog.
Auch nach der Ermordung Rabins 1995 erholte sich die Friedensbewegung nicht. Selbst das katastrophale Zwischenspiel der Regierung Netanyahu von 1996 bis 1999 trug nichts dazu bei. Der Protest drückte sich lediglich 1999 in der Wahl von Ehud Barak von der Arbeiterpartei aus. Dieser erwies sich jedoch als große Enttäuschung. Es gelang ihm, der israelischen Öffentlichkeit folgende Version der Verhandlungen mit Arafat und Clinton in Camp David vom Sommer 2000 zu verkaufen: Barak habe ein großzügiges Angebot gemacht, Arafat habe brüsk abgelehnt und als Antwort die Zweite Intifada inszeniert.
Der Premier konnte auf diese Weise auch das Gros der (bisherigen) Friedensbewegung überzeugen, dass es auf der anderen Seite keinen Partner gebe bzw. dass die Palästinenser letztlich nur die Sprache der Gewalt verstünden. Später stellte sich heraus, dass diese Einschätzung nicht einmal von den Spitzen des militärischen Geheimdienstes geteilt wurde. Der Schaden war jedoch angerichtet – und auf dieser Welle konnte auch Ariel Sharon reiten, als er 2001 mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde.
Im Windschatten von 9/11 und des „War on Terror“ konnte Sharon seinen Krieg gegen die Palästinenser eskalieren. Die Operation „Defensive Shield“ (2002, „Jenin“) bildete den Höhepunkt. Autonome Gebiete wurden wieder besetzt, die Infrastruktur der PA weitgehend zerstört. Einen wichtigen Beitrag zur quasi totalen Unterstützung dieses brutalen Feldzugs durch die israelische Öffentlichkeit lieferten (meist) islamistische Selbstmordattentate, die sich nun offensichtlich nicht nur gegen Soldaten und Siedler richteten, sondern die israelisch-jüdische Bevölkerung insgesamt im Visier hatten. Die fatale Kombination von mörderischem Kolonialkrieg und aus Ohnmacht/Verzweiflung/Erniedrigung geborenen Wahnsinnstaten machte eine breitere Friedensbewegung nahezu unmöglich. Sie beschränkte sich daher auf kleinere Formationen, von denen Gush Shalom (angeführt von Uri Avnery) die bekannteste wurde. Daneben blieben einige wichtige Gruppierungen, von denen hier einige aufgezählt werden sollen, aktiv: B’tselem – „Menschenrechte für Palästinenser“, „Komitee gegen Häuserzerstörungen“, „Ärzte für Menschenrechte“, „Komitee gegen die Folter“, Machsom-Watch (eine Frauenorganisation, die Militärposten in den Gebieten beobachtet), „Rabbiner für Menschenrechte“, Ta’ayush (Kooperation von arabischen und jüdischen Jugendlichen), „Courage to Refuse“ (Soldaten, die sich weigern, bei der Repression in den besetzten Gebieten mitzumachen); „Frauen in Schwarz“ u.v.a.
Durch eine Ironie der Geschichte sah sich Ariel Sharon im Jahr 2004 veranlasst, mit seinem „Disengagement“-Plan selbst Forderungen aufzugreifen, die von Teilen der eingeschlafenen Friedensbewegung gestellt worden waren: Rückzug aus besetzten Gebieten und Auflösung von Siedlungen.
Obwohl die im August 2005 dramatisch inszenierte Räumung des Gazastreifens nur einen kleinen Teil der besetzten Gebiete betrifft, ist sie in ihrer Symbolik nicht zu unterschätzen. Ein Präzedenzfall wurde geschaffen, der aber auch die viel zahlreicheren und größeren Siedlungen in der Westbank/Ost-Jerusalem erfassen müsste. Doch nichts deutet zur Zeit darauf hin. Im Gegenteil: Die Kolonisierung des Westjordan-Landes schreitet zügig voran, ebenso der Sperrwall, den die Palästinenser Apartheid-Mauer nennen.
Außerdem folgten alle Schritte Sharons bisher einer unilateralen Logik. Obwohl sich Arafat-Nachfolger Abu Mazen (Mahmoud Abas) besonders „gemäßigt“ gibt, wurden bisher keine Verhandlungen mit ihm aufgenommen. Der Präzendenzfall Gaza und die Art und Weise, wie er von der israelischen Öffentlichkeit angenommen wurde, aber auch (durch die Schwierigkeiten im Irak angespornte) Bemühungen der US-Regierung könnten jedoch einen Prozess in Gang bringen, der ein wenig Anlass zur Hoffnung gibt. Sollte ausgerechnet Sharon das Tor aufstoßen, welches die Friedensbewegung öffnen wollte?
Web-Infos zur Friedensbewegung im Nahen Osten
* John Bunzl ist Soziologe und Politikwissenschaftler, Nahost-Experte, Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) in Wien und Autor zahlreicher Bücher zum Thema.
Aus: Südwind Magazin 10/2005, Seite 12; im Internet: www.suedwind-magazin.at
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