"Stimme der Mehrheit"
Israel: 150.000 Menschen demonstrierten für eine politische Lösung in Nahost. Friedensbewegung im Aufwind?
Am 15. Mai 2004 fand in Israel eine der größten Friedensdemonstrationen der letzten Jahre statt. Das Ereignis fand seinen Widerhall in fast allen Zeitungen hier zu Lande. Dass am selben Tag im Gazastreifen und Westjordanland ebenfalls Massenkundgebungen stattfanden - in Erinnerung an die "Katastrophe" vor 56 Jahren (Flucht und Vertreibung), fand dagegen kaum Erwähnung.
Wir berichten über die israelischen Friedensdemonstration in Form von verschiedenen Zeitungsmeldungen.
Zunächst aber die Meldung über die palästinensischen Kundgebungen:
Zehntausende Palästinenser haben am 15. Mai mit Protestdemonstrationen an die israelische Staatsgründung vor 56 Jahren erinnert, die zur Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden von Arabern führte und "Al Nakba" (Katastrophe) genannt wird. Zur Mittagsstunde heulten im gesamten Gaza-Streifen und dem Westjordanland die Sirenen. Das öffentliche Leben ruhte drei Minuten. Präsident Yasser Arafat bekundete in einer Fernsehansprache die Friedensbereitschaft seines Volkes. Viele der palästinensischen Demonstranten hielten die Schlüssel der Wohnungen in den Händen, die sie vor mehr als einem halben Jahrhundert verlassen mussten. Auch im libanesischen Flüchtlingslager Ain Hilweh demonstrierten tausende Palästinenser gegen Israel und die Nahost-Politik von US-Präsident George W. Bush.
Aus: Der Standard (Wien), 17. Mai 2004
Für die taz berichtet Susanne Knaul aus Tel Aviv u.a.:
(...) Unmittelbar nach der Abstimmung der Likud-Mitglieder gegen den Scharons Plan eines einseitigen Abzugs aus dem Gaza-Streifen machte sich das israelische Friedenslager, darunter die Arbeitspartei, die Kibbuzbewegung und die
"Genfer Friedensinitiative" an die Organisation der Veranstaltung. "Die Mehrheit entscheidet - Raus aus Gaza", lautete das Motto des Abends.
"Ich bin überzeugt, dass nur, wer am Tag der (Siedlungs-)Räumung großen Schmerz empfindet, diese auch umsetzen kann, ohne sich im Herzen eines Bürgerkrieges wiederzufinden", meinte Ex-Schin-Beth-Chef Ami Ayalon. Scharons Bürochef hätte es kaum überzeugender formulieren können. Ayalon, der mit Sari Nusseibah, Direktor der Ost-Jerusalemer Al-Quds-Universität, sechs Prinzipien für ein bilaterales Abkommen formulierte, drängte dennoch auf eine Einigung mit den Palästinensern.
Das Thema von Verhandlungen geschickt umgehend, konzentrierte sich Schimon Peres, Chef der Arbeitspartei, auf jüngste Umfragen. "Dies ist ein Protest der Mehrheit", meinte er. 80 Prozent der Bevölkerung stünden nur "einem Prozent" der Abzugsgegner im Likud gegenüber. Für Israel ist "Frieden und Sicherheit möglich", rief er enthusiastisch ins Mikrofon und erntete dafür nur schwachen Beifall.
Die Botschaft der Demonstration, den Gaza-Streifen aufzugeben, war, so simple sie schien, doch keine eindeutige. Während Peres uneingeschränkt für den Abzug eintrat, appellierte der letzte und wichtigste Redner des Abends, Jossi Beilin, Parteichef des neu gegründeten linken Bündnisses "Jachad", für neue Verhandlungen mit den Palästinensern. Die von ihm federführend ins Leben gerufene "Genfer Initiative" zeige, dass es "einen Partner dafür gibt". Er wetterte offen gegen Scharon, der "noch nicht einmal den Versuch unternommen hat, zu einem Friedensabkommen zu gelangen". Wenn die Regierung den Frieden nicht bringe, dann sollten es die Bürger tun. Nun, da "die schweigende Mehrheit ihr Schweigen überwindet", sei ein Anfang gemacht, um "Scharon aus dem Amt des Premierministers zu vertreiben".
Aus: taz, 17. Mai 2004
In der Tageszeitung "junge Welt" vom 17. Mai schreibt Harald Neuber u.a.:
Über 150 000 Menschen kamen am Samstag abend in Tel Aviv zusammen, um eine politische Lösung des Konfliktes in Nahost zu fordern. Die »Stimme der Mehrheit«, so lautete das Motto der größten Friedensdemonstration in Israel seit Jahren, interessierte die Hardliner in der Regierung und der Armeespitze allerdings nur wenig. Während die Menschen auf dem Rabin-Platz einen Rückzug aus den besetzten Gebieten forderten, griffen Kampfhubschrauber mehrere Ziele in Gaza-Stadt an. Dabei wurden vier Menschen verletzt.
Einen Rückschlag für Friedensgruppen und Menschenrechtsorganisationen gab es auch auf juristischer Ebene. Am gestrigen Sonntag lehnte der Oberste Gerichtshof Israels die Klagen von 13 palästinensischen Familien ab. Sie hatten zusammen mit dem Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte dagegen geklagt, daß ihre Häuser an der Grenze zu Ägypten von Bulldozern der israelischen Armee zerstört werden sollen. (...)
Derweil verteidigte auch Heereschef Mosche Jaloon den Abriß von Wohnhäusern als Teil des militärischen Vorgehens in den palästinensischen Gebieten. Wohnhäuser würden dann zerstört, wenn aus den entsprechenden Siedlungen heraus wiederholt Angriffe auf israelische Soldaten durchgeführt würden, sagte Jaloon. (...) Sowohl die Europäische Union als auch US-Außenminister Colin Powell legten gegen dieses Vorgehen Protest ein. »Wir lehnen die Zerstörung von Häusern ab, wir denken nicht, daß das produktiv ist«, sagte Powell am Rande eines Weltwirtschaftsforums im jordanischen Badeort Schuneh.
Ungeachtet dieser Kritik kündigte der israelische Verteidigungsminister Schaul Mofas zeitgleich eine Ausweitung der Luftangriffe gegen palästinensische Ziele an. Nach dem Raketenbeschuß am Samstag schlugen in der Nacht zum Sonntag erneut Raketen in Gaza-Stadt ein. Getroffen wurde neben einem Gebäude der Fatah-Bewegung von Palästinenserpräsident Yassir Arafat auch die Redaktion der Zeitung Al Ressala. Als unmittelbar nach den Explosionen in weiten Teilen der Stadt der Strom ausfiel, brach in der Bevölkerung Panik aus.
Trotz der weiteren Gewalteskalation zeigten sich die Organisatoren der Friedensdemonstration in Tel Aviv am Samstag optimistisch. Daß zum 56. Jahrestag der Staatsgründung Israels über 150.000 Israelis gegen die Politik der Hardliner in der Regierung demonstrierten, gebe dem Motto der Proteste recht, heißt es in einer Erklärung der Friedensorganisation Gush Shalom. Yossi Beilin, Vorsitzender der linken Partei Meretz/Yachat, hatte die zeitgleich stattfindenden Angriffe auf palästinensische Einrichtungen am Samstag scharf verurteilt: »Diejenigen, die den Frieden zurückweisen, haben alle militärischen Optionen ausgeschöpft«, rief Beilin unter Applaus der Menge zu. »Gezielte Tötungen, die Wiederbesetzung von Gaza und der Westbank, die Zerstörung von Häusern und Feldern – das einzige, was sie nicht versucht haben, ist der Frieden«, beklagte der Linkspolitiker.
Bis zuletzt hatten Hardliner aus Armee und der rechten Likud-Partei von Ariel Scharon versucht, die Friedensdemonstration zu verhindern. »Aus Respekt vor den getöteten Soldaten« sollte der Protest unter führender Beteiligung der oppositionellen Arbeiterpartei abgesagt werden – erfolglos.
Im Telefoninterview mit junge Welt zeigte sich daher auch Adam Keller, der Sprecher von Gush Shalom (Friedensblock), optimistisch. Keller wies aber auch auf die politischen Differenzen hin. »Viele Teilnehmer der Demonstration am Samstag verlangten den Teilrückzug aus Gaza, wie ihn Ariel Scharon in seiner Partei unlängst zur Abstimmung gebracht hatte«, sagte Keller, dessen Organisation den Scharon-Plan als »halbherzig« kritisiert und ablehnt. Dieser vielkritisierte »Friedensplan« Scharons war in dessen Partei auf massive Ablehnung gestoßen. Dieses Votum und die jüngsten Todesopfer in der israelischen Armee hätten die Menschen auf die Straße gebracht, erklärt der Sprecher des Friedensblocks. »Insofern deutet sich schon ein Wandel der öffentlichen Meinung an«, so Keller. Die Menschen seien es leid, für die radikalen Siedler, die gerade mal ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, in »Geiselhaft« genommen zu werden. In Anbetracht der vorsätzlichen Zuspitzung der militärischen Konfrontation durch Teile der israelischen Militärführung werde immer öfter an den verlustreichen Rückzug aus dem Libanon erinnert. »Libanon«, so Keller, »bedeutet für die Menschen hier das gleiche wie Vietnam für die USA«.
Aus: junge Welt, 17. Mai 2004
In der Frankfurter Rundschau berichtete Gemma Pörzgen aus Tel Aviv. Er thematisiert auch die paradoxe Situation, in der sich viele Demonstranten befunden haben mögen, als sie vermeintlich für Scharons Anzugsplan aus Gaza demonstrierten.
"Als ich so alt war wie meine Tochter, habe ich auch schon hier demonstriert und nichts hat sich seither verändert", erinnert sich Ruth Horine. "Damals gingen wir gegen den Libanon-Krieg auf die Straße und unsere Soldaten starben wie die Fliegen." Am Samstag war die 42-jährige Landschaftsarchitektin dem Aufruf der Linken auf den Rabin-Platz in Tel Aviv gefolgt, um für einen Abzug aus Gaza zu demonstrieren.
Ihre 13-jährige Tochter Dana ist zum ersten Mal mit dabei und reckt ihr Transparent noch unsicher in die Luft. "Wir wollen, dass das Leben sicherer wird für die Palästinenser und für uns", sagt sie schüchtern. "Sie sind doch wie wir." Auf mehr als 150.000 Menschen schätzten die israelischen Medien die Zahl der Teilnehmer, weit mehr als die Linke in den vergangenen Jahren auf die Straße brachte. Am 56. Tag der israelischen Staatsgründung rief erstmals "Mateh Harov", ein Bündnis von "Frieden Jetzt", Arbeitspartei und anderen Gruppen, zur Demonstration für einen sofortigen Gaza-Abzug und neue Verhandlungen mit den Palästinensern auf.
(...) Es sind viele junge Leute gekommen, aber auch Eltern mit Kindern und alte Menschen. "Die Mehrheit entscheidet: Gaza verlassen, Gespräche beginnen" steht auf ihren Transparenten. Es herrscht kein Happening-Charakter. Die Stimmung ist ernst und entschlossen. "Nieder mit der Herrschaft der Siedler! Wir werden unsere Söhne nicht mehr für die Siedler opfern", ruft Tzali Reschef von "Frieden Jetzt" und erntet damit den größten Applaus des Abends.
"Wir unterstützen keine Marionettenregierung, die irreführende Ideen der Rechten verfolgt", sagt Oppositionsführers Schimon Peres und widerspricht damit Spekulationen, seine Arbeitspartei wolle dem Likud in eine mögliche neugebildete Regierung folgen. Peres' Ansprache findet aber auffallend wenig Zuspruch. Bejubelt wird dagegen Yossi Beilin, einer der Architekten der Genfer Vereinbarung, der das Wiedererwachen der Linken preist.
(...) "Es ist ein Dilemma, plötzlich Scharon und seinen Gaza-Plan zu unterstützen, mit dem ich sonst politisch nichts zu tun habe", sagt ein Mann nachdenklich. "Ich wusste deshalb lange nicht, ob ich eigentlich kommen soll." Es ist für viele das Paradox dieses Abends, dass die Forderung nach dem Gaza-Abzug die Linke scheinbar mit Scharons Interessen eint. Erst vor zwei Wochen hatte Israels Premier bei einer internen Abstimmung seiner Likud-Partei keine Mehrheit für seinen Abzugs-Plan gefunden. Aber jüngste Umfragen zeigen, dass 71 Prozent der Israelis den Gaza-Abzug wünschen. Nun könnte der Ruf der Demonstranten Scharon im Kabinett helfen, seinen Gaza-Plan im Kabinett durchzubringen.
Aus: Frankfurter Rundschau, 17. Mai 2004
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