"Heute erleben wir eine neue revolutionäre Phase in der iranischen Geschichte, nicht mehr aufzuhalten ist"
Mohssen Massarrat und Pedram Shahyar plädieren in einer gemeinsamen Stellungnahme für die "uneingeschränkte Unterstützung der Volksbewegung" im Iran. Im Wortlaut
Im Folgenden dokumentieren wir eine weitere Stellungnahme von Mohssen Massarrat und Pedram Shahyar zu den Unruhen im Iran. In einem Begleitschreiben betont Mohssen Massarrat noch einmal seine Forderung nach "uneingeschränkter Unterstützung der Volksbewegung und begonnenen Revolution im Iran", womit er sich auch von manchen linken Präsidenten in Lateinamerika unterscheidet. Zugleich weisen wir auf die - in gewisser Hinsicht "moderatere" - Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag hin, die stärker die außen- und friedenspolitischen Aspekte des Umbruchs im Iran betont (siehe: "Für Menschenrechte, Gewaltlosigkeit und Frieden"). Als "Kontrastprogramm" empfehlen wir ein Interview mit dem iranischen Botschafter in Deutschland, Ali Reza Sheikh Attar.
Die Bewegung für Demokratie und Emanzipation im Iran mit voller Kraft unterstützen
Mohssen Massarrat (Attac Wissenschaftlicher Beirat)
Pedram Shahyar (Bundes-Koordinierungskreis Attac)
9.7.09
Das iranische Volk stürzte 1979 die 2500 Jahre alte Monarchie, um den Weg für
Demokratie und soziale Gerechtigkeit freizumachen. Durch die Etablierung der
islamischen Theokratie wurden nicht nur die Ideale der Revolution verraten, sondern auch die unter der Monarchie vorherrschenden klientelistisch-rentierstaatlichen Herrschaftsstrukturen restauriert. Dreißig Jahre danach erleben wir heute eine neue revolutionäre Phase in der iranischen Geschichte, die - alle Indizien sprechen dafür – nicht mehr aufzuhalten ist. Und dies trotz brutaler Gewalt der sogenannten Revolutionswächter und paramilitärischen Bassidjis, trotz der Tötung unzähliger Menschen, trotz der Verhaftung von unzähligen Aktivisten und der gesamten Führungskader der islamischen Reformbewegung und trotz des Verbote und der Unterdrückung aller Medien und Kommunikationsmittel der Bewegung.
Ayatollah Khamenei hat durch die Legitimierung des größten Wahlbetruges in der
iranischen Geschichte sich selbst delegitimiert. Ihm und dem angeblichen Wahlsieger
Ahmadinedschad sind der Machterhalt und die gewaltsame Aneignung der
Öleinnahmen und gesellschaftlichen Reichtümer zur Zementierung einer
theokratischen Diktatur und rückwärtsgewandter Staatsideologie offensichtlich
wichtiger als der Wille des Volkes. Die Theokratie spaltete die iranische Gesellschaft
von Anfang an in Systemtreue und Systemgegner, sie öffnete so den Weg dafür,
einen immer größeren Teil der Bevölkerung von der Teilhabe an Ressourcen und
Macht auszuschließen. Sie schaffte die Grundlage dafür, dass machthungrige
Ideologen im Namen des Islams die Staatseinnahmen an allen Kontrollorganen
vorbei für den Ausbau der eigenen Machtbasis plünderten.
Ahmadinedschad hat während seiner Amtszeit diese Politik bis zum Exzess
betrieben, er hat sich geweigert, dem Parlament gegenüber für seine selbstherrliche
Politik Rechenschaft abzulegen, er hat durch seine archaische Politik des Verteilens
von Almosen ausschließlich selbstherrlich und nach eigenem Gutdünken die
iranische Wirtschaft in die Krise gestürzt, der Inflation und der Bodenspekulation
neuen Auftrieb gegeben und so die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht.
Auf seine populistische Masche fallen nur noch religiös Gutgläubige, ideologisch
Verblendete oder Uninformierte in den ländlichen Gebieten herein. Bereitwillig folgen
Ahmadinedschad jedoch alle diejenigen Staatsangestellten, Revolutionswächter,
Bassidjis, die in seiner Amtszeit zu Geld und Macht gekommen sind. Mit dem
gigantischen Wahlbetrug am 12. Juni 2009 – darüber besteht nicht der geringste
Zweifel – hat Ahmadinedschad die Geduld der Iraner überstrapaziert. Er und
Ayatollah Khamenei haben die Intelligenz der Iraner beleidigt, sie Menschen
erniedrigt und ihre Würde verletzt.
Mahmud Ahmadinedschad ist nicht der Mann, der unnachgiebig die Interessen der
Armen vertritt, unerschrocken die Korruption bekämpft und mutig dem Imperialismus
die Stirn bietet, für den ein Teil der gutgläubigen, uninformierten und ideologisch
geblendeten Linken in Deutschland und der Welt ihn hält. Leider wurden auch die
südamerikanischen Präsidenten, wie Hugo Chavez, Opfer der eigenen
Oberflächlichkeit und des verantwortungslosen Umgangs mit den wirklichen
Verhältnissen im Iran. Die Positionierung von Chavez und anderen in Südamerika
steht in krassem Widerspruch zu den emanzipatorischen Idealen des „Sozialismus
im 21. Jahrhundert“. Universelle Rechte dürfen nicht taktisch-geopolitischen
Denkspielen geopfert werden. Mit der Anerkennung Ahmadinedschads haben
Chavez und andere linke Staatspräsidenten der Reform- und
Emanzipationsbewegung im Iran großen Schaden zugefügt.
Diese Art von linken und antiimerialistischen Postitionen irren sich nicht nur im Hinblick auf Ahmadinedschad, sondern auch hinsichtlich des Charakters der
Volksbewegung und ihrer Führung. Die Trennlinie zwischen Befürwortern und
Gegnern der Volksbewegung verläuft nicht zwischen Arm und Reich, zwischen Nord
und Süd, zwischen Stadt und Land, nein, sie verläuft einzig und allein zwischen
Befürwortern und Gegnern der theokratischen Diktatur, zwischen illegitimer
Gewaltherrschaft und demokratisch emanzipatorischer Sehnsüchte der
überwältigenden Mehrheit der Iranerinnen und Iraner. Die Volksbewegung ist daher
klassen- und schichtübergreifend. Zu ihr gehören fromme Moslems wie Laizisten,
traditionalistische wie moderne westlich orientierte Frauen und Männer, ältere
Menschen wie vor allem junge Frauen und Männer, Intellektuelle wie Arbeiter,
Reiche wie Arme. Diese Volksbewegung ist nach übereinstimmenden
Beobachtungen breiter als diejenige Volksbewegung während der islamischen
Revolution. Sie als eine von außen gesteuerte „orangene Revolution“ zu bezeichnen,
grenzt fast an Dummheit und ist eine unverzeihliche Beleidigung für alle
emanzipatorischen Bewegungen.
Mir Hussein Mussawi, der Präsidentschaftskandidat der Reformbewegung, ist nicht,
wie manche aus Unwissenheit oder in bewusst irreführender Absicht unterstellen, ein Mann des Westens. Er ist ein frommer Moslem und ein Mann der islamischen
Revolution der ersten Stunde. Er ist im Lager der Konservativen immer noch
verankert und bezeichnet sich selbst als prinzipientreuen Reformer.. Sein
Fernsehduell mit Ahmadinedschad und sein konsequentes Eintreten für Neuwahlen
haben ihn zu einem glaubwürdigen und standhaften Politiker auf der Seite des
Volkes werden lassen. Er ist offensichtlich auch entschlossen, seinen Kampf gegen die Theokratie fortzusetzen. Mussawi hat als erster großer Politiker in der Geschichte der Islamischen Republik dem geistigen Führer Nein gesagt und damit dessen Autorität erschüttert. In allen seinen bisherigen Kommuniqués hat er die Volksbewegung zur Fortsetzung des gewaltfreien Widerstandes aufgerufen und geschworen, sein eigenes Leben für das gemeinsame Ziel der Abschaffung der
Tyrannei zu opfern. In der gegenwärtigen Phase der Revolution eint das Volk und die Führung der Reformbewegung das gemeinsame Ziel, die theokratische Diktatur zu überwinden. Die Gestaltung der künftigen iranischen Gesellschaft in der
nachrevolutionären Ära und welcher Weg dann beschritten werden soll, bleibt einzig und allein dem Volkswillen in Freiheit vorbehalten und kann nicht schon jetzt vorweggenommen werden.
Die Revolution im Iran hat schon jetzt große Ausstrahlung auf alle Menschen im
Mittleren und Nahen Osten, nicht zuletzt auch auf Teile der Friedensbewegung in
Israel. Ihr Sieg und die erfolgreiche Demokratisierung würde alle diktatorischen
Regime in der Region erschüttern, die Völker zur Emanzipation ermutigen und nach
Jahrzehnten dunkler Zeiten von Krieg, Zerstörung und Elend eine Perspektive für
Prosperität, Demokratie und Frieden eröffnen.
Wir weisen alle Versuche, die Revolution im Iran zu diskreditieren, mit aller
Entschiedenheit zurück und fordern alle sozialen, antikapitalistischen,
antihegemonialen Emanzipationsbewegungen in Deutschland, in Europa und in der
ganzen Welt auf, die iranische Volksrevolution nach Kräften zu unterstützen und sich für die Freilassung aller politischen Gefangenen, für Demonstrations- und
Pressefreiheit im Iran einzusetzen.
9.7.09
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