Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Friedensaktivist entführt und ermordet

Italiener Vittorio Arrigoni im Gaza-Streifen tot aufgefunden / Salafisten unter Verdacht

Von Karin Leukefeld *

Vittorio Arrigoni, ein italienischer Aktivist der Internationalen Solidaritätsbewegung (ISM), ist am frühen Freitagmorgen tot aufgefunden worden. Das bestätigte ein Sprecher der Hamas im Gaza-Streifen.

Vittorio Arrigoni (r.) und der Chef der Hamas-Regierung im Gaza-Streifen, Ismail Haniyya, auf einem Archivbild vom August 2008. Auf seinem Blog hatte der Aktivist vor zwei Jahren schon von Todesdrohungen gegen ihn berichtet. Seine Mutter erzählte der Zeitung »La Stampa«, ihr Sohn habe kurz vor seiner Entführung und Ermordung eine Pause machen und nach Italien zurückkehren wollen.

Der 36-jährige Vittorio Arrigoni war am Donnerstag entführt und Stunden später in einem Video auf YouTube gezeigt worden. Seine Augen waren mit einem schwarzen Band verklebt, um das rechte Auge war Blut, eine Hand zog den Kopf Arrigonis an seinen Haaren in die Höhe, um das Gesicht der Kamera zu zeigen. Man habe »den italienischen Gefangenen Vittorio« entführt, erklärte die Gruppe, die sich »Brigade des ritterlichen Kameraden des Propheten Mohammed Bin Muslima« nannte. Bisher war eine solche Gruppe unbekannt. Die Entführer forderten die Hamas-Regierung auf, alle gefangenen Salafisten frei zu lassen. »Wenn ihr unsere Forderungen nicht schnell erfüllt, werden wir diesen Gefangenen hinrichten«, hieß es in dem Video. Die eingeräumte Frist von 30 Stunden wäre am Freitag um 15 Uhr abgelaufen.

Unmittelbar nach Bekanntwerden des Videos durchsuchte die Polizei Wohnungen und Häuser von Mitgliedern salafistischer Gruppen im Gaza-Streifen. Ein Mann, der offenbar von der Entführung wusste oder daran beteiligt war, führte die Polizei zu einem Haus im Norden des Küstenstreifens, wo man den Entführten erhängt auffand. Hamas-Sprecher Ehab al-Ghussein sagte vor Journalisten in Gaza-Stadt, Arrigoni sei offenbar bald nach seiner Entführung »auf schreckliche Weise« getötet worden. Sein Tod sei vermutlich von Anfang an geplant gewesen, die Forderung nach Freilassung der Gefangenen sollte nur ablenken. Das Verbrechen habe nichts »mit den Werten, der Moral, der Religion und den Bräuchen« der Einwohner von Gaza zu tun, hieß es in einer Stellungnahme. Zwei Personen wurden festgenommen.

At-Tawheed wa Al-Jihad, eine von fünf salafistischen Gruppen im Gaza-Streifen, erklärte mittlerweile, mit der Entführung nichts zu tun zu haben. Allerdings gehe man davon aus, dass »das Geschehen eine natürliche Reaktion auf die Politik der Regierung gegen die Salafisten« sei, hieß es. Seit 2007 geht die Hamas massiv gegen Salafisten im Gaza-Streifen vor, die eine besonders fundamentalistische Form des Sunnitentums vertreten. Als die Gruppe Jund Ansar Allah 2009 ein islamistisches Emirat im Gaza-Streifen ausrief, stürmte Polizei die Moschee der Gruppe und tötete 24 von ihnen.

Vittorio Arrigoni war seit 10 Jahren in und für Palästina aktiv, hieß es in einer Erklärung der Internationalen Solidaritätsbewegung. Seine Erfahrungen während des vierwöchigen Krieges gegen den Gaza-Streifen (»Gegossenes Blei«, 2008/09) fasste er in dem Buch »Mensch bleiben« zusammen. Arrigoni berichtete für die italienische Tageszeitung »Il Manifesto« und für »PeaceReporter«, eine italienische Online-Zeitung. Mehrfach war er wegen seiner Teilnahme an gewaltfreien Aktionen von israelischen Sicherheitskräften verhaftet worden.

Zuletzt war 2007 der BBC-Reporter Alan Johnston im Gaza-Streifen von einer salafistischen Gruppe entführt worden. Er kam mit Hilfe der Hamas nach vier Monaten frei.

* Aus: Neues Deutschland, 16. April 2011

Lesen Sie auch:

Ein Leichentuch aus Tod und Terror
Augenzeugenbericht aus Gaza: Die Israelis wissen, was sie tun. Aus der Wochenzeitung "Freitag" (11. Januar 2009)




»Restiamo umani – Mensch bleiben«

Von Vittorio Arrigoni **

»Restiamo umani – Mensch bleiben« ist das Tagebuch von Vittorio Arrigoni über die israelische Offensive »Gegossenes Blei« gegen die Palästinenser im Gazastreifen überschrieben. Schonungslos berichtet der italienische Friedensaktivist darin, was die vom 27.Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009 andauernden Bombardements angerichtet haben. Seine Artikel erschienen seinerzeit in der italienischen Zeitung il manifesto. Der Zambon-Verlag hat sie ins Deutsche übertragen.

27. Dezember 2008: Meine Wohnung in Gaza geht aufs Meer. Der Panoramablick hat mich oft aufgerichtet, wenn ich völlig erschöpft war von der auferlegten Misere des Lebens im Belagerungszustand. Bis heute morgen. Als bei mir vor dem Fenster die Hölle losbrach. Wir wurden heute früh von Bomben geweckt, und viele sind nur wenige hundert Meter von meinem Haus eingeschlagen. Etliche meiner Freunde sind unter den Trümmern begraben. Im Moment zählen wir 210 Tote, aber diese Zahl wird wohl steigen. Ein beispielloses Blutbad. Sie haben den Hafen planiert und die Polizeistation dem Erdboden gleich gemacht.

Mir wird berichtet, daß die westlichen Medien die Pille geschluckt haben und einmütig die von den israelischen Militärs verbreiteten Kommuniqués wiederkäuen, nach denen die Angriffe chirurgisch genau ausschließlich auf die Stützpunkte der Hamas niedergegangen seien. In Wirklichkeit haben wir im Krankenhaus von Al-Shifa, dem größten der Stadt Gaza, die Körper im Hof liegen sehen – einige in Erwartung einer Behandlung, der größere Teil jedoch ohne Zweifel tot, Dutzende davon Zivilisten.

Habt ihr Gaza vor Augen? Jedes Haus sitzt auf dem anderen auf, jedes Gebäude stützt sich auf ein anderes. Gaza ist der Ort mit der höchsten Bevölkerungsdichte auf der ganzen Welt, weshalb es auch unvermeidbar ist, daß du bei einem Bombenabwurf aus 10000 Metern Höhe ein Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichtest. Du weißt das und nimmst die Schuld auf dich, es handelt sich nicht um einen Fehler, um keinen Kollateralschaden. Und während die Polizeikaserne mitten im Zentrum von Al-Abbas in die Luft fliegt, nimmt auch die Grundschule nebenan Schaden durch die Explosionen. Der Unterricht war gerade zu Ende und die Kinder schon auf der Straße, als Dutzende blauer Schulranzen blutbefleckt durch die Luft flogen.

Bei dem Angriff auf die Polizeischule Dair Al-Balah wurden auch Menschen auf dem nahegelegenen Suq, dem zentralen Markt von Gaza, getötet und verletzt. Wir sahen das Blut von Tieren und Menschen in Rinnsalen über den Asphalt laufen und sich vermischen. Ein Guernica aus dem Bilderrahmen getreten und in Realität verwandelt. Ich habe viele uniformierte Leichen in den verschiedenen Krankenhäusern gesehen, die ich besucht habe. Ich kannte viele der jungen Männer. Wir grüßten uns jeden Tag auf dem Weg zum Hafen, oder am Abend, wenn ich im Zentrum in die Cafés ging. Einige kannte ich beim Namen. Ein Name, eine Geschichte, ein verstümmelte Familie. Der überwiegende Teil waren junge Männer, 18 bis 20 Jahre alt, die meisten weder der Fatah noch der Hamas angegliedert: sie hatten sich einfach nach dem Studium bei der Polizei beworben, auf der Suche nach einem sicheren Arbeitsplatz in einem Gaza, das unter der kriminellen Blockade durch die Israelis eine Arbeitslosigkeit von 60 Prozent aufweist. Ich kümmere mich nicht um Propaganda, ich lasse meine Augen sprechen, meine Ohren, die dröhnen von dem Geheule der Sirenen und dem Donnern der Explosionen.

Ich habe keine Terroristen gesehen unter den Opfern, nur Zivilisten und Polizisten. Noch tags zuvor hatte ich mit ihnen gescherzt, weil sie sich so eingemummelt hatten gegen die Kälte.

Ich wünsche mir, daß diesen Toten wenigstens durch die Wahrheit Gerechtigkeit widerfahren kann. Nie haben sie einen Schuß auf Israel abgegeben, es auch nie versucht, weil das nicht ihre Aufgabe war. Sie hatten damit zu tun, den Verkehr zu regeln und die innere Sicherheit gewährleisten, um so mehr, als der Hafen weit weg von jeder israelischen Grenze liegt.

Ich habe eine Videokamera bei mir und mußte heute einsehen, daß ich ein schlechter Kameramann bin; ich kann keine zermalmten Körper und in Tränen aufgelöste Gesichter filmen. Ich schaffe es einfach nicht. Ich kann es nicht, weil ich dann auch anfangen muß zu weinen. Ich bin zum Blutspenden gegangen in das Krankenhaus Al-Shifa, gemeinsam mit anderen vom International Solidarity Movement (ISM). Dort erhielten wir einen Telefonanruf: Sara, unsere liebe Freundin, war in ihrer Behausung im Flüchtlingslager Jabalia vom Splitter einer Bombe tödlich verletzt worden. Eine warmherzige Person mit sonnigem Gemüt, sie war nur kurz für ihre Familie zum Brot holen gegangen. Sie hinterläßt dreizehn Kinder. Restiamo umani.

Vittorio Arrigoni: Gaza - Mensch bleiben, Restiamo umani. Zambon-Verlag, Frankfurt am Main 2009, 143 Seiten, 8 Euro

** Aus: junge Welt, 16. April 2011


Zurück zur Gaza-Seite

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage