Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Leichentuch aus Tod und Terror

Augenzeugenbericht aus Gaza: Die Israelis wissen, was sie tun

Von Vittorio Arrigoni *

Mein Appartement in Gaza-City liegt direkt am Meer. Es bietet einen Panoramablick, der meine Moral bisher trotz des elenden Lebens unter der Blockade immer wieder aufbauen konnte. Das war so, bis sämtliche Dämonen vor meinem Fenster zu toben begannen. Heute, am 30. Dezember, wurde ich wieder vom Dröhnen der Detonationen geweckt. Viele Raketen schlugen nur wenige hundert Meter von meinem Haus entfernt ein. Einige meiner Freunde haben diese Angriffe nicht überlebt. Im Augenblick liegt die Zahl der Toten bei 210, aber sie wächst dramatisch. Wir erleben ein beispielloses Gemetzel.

Sie haben den Hafen, der nicht weit von meinem Haus entfernt liegt, bis auf die Fundamente zerstört und Polizeistationen in Schutt und Asche gelegt. Ich höre, dass die westlichen Medien inzwischen begriffen haben, was wirklich passiert, und die Bulletins der israelischen Streitkräfte zurückweisen, nach denen das Ziel nur Hamas-Terroristen seien, die mit chirurgischer Präzision getroffen würden.

Als ich al-Shifa, das größte Krankenhaus von Gaza-City, aufsuche, sehe ich im Innenhof einen chaotischen Haufen von Körpern und stelle fest, die Mehrheit derer, die auf medizinische Hilfe warten, sind Zivilisten. Sie liegen nebeneinander, und sie liegen neben den Toten, die beerdigt werden müssen.

Kann sich jemand Gaza-City vorstellen, der diese Stadt nicht selbst gesehen und erfahren hat? Die Häuser stehen dicht gedrängt, ein Gebäude schmiegt sich an das andere, der Ort mit der vermutlich höchsten Bevölkerungsdichte der Welt. Wer hier eine Bombe aus 10.000 Metern Höhe ausklinkt, beschwört unausweichlich ein Massaker herauf. Die Israelis wissen das, es sind keine Fehler, die ihnen unterlaufen, es sind keine Kollateralschäden.

Bei der Bombardierung der zentralen Polizeistation in al-Abbas - das Gebäude lag direkt im Stadtzentrum - wurde auch die nahe gelegene Grundschule durch die Explosion schwer beschädigt. Es war gerade Unterrichtsschluss, und die Kinder standen schon auf der Straße. Der Himmel, der bis dahin blau war, färbte sich blutrot.

Auch als die Israelis am gleichen Tag die Polizeiakademie von Dair al-Balah bombardierten, gab es Tote und Verletzte auf dem benachbarten Markt, dem zentralen Markt von Gaza. Ich habe dort die Körper von Menschen und Tieren gesehen, deren Blut sich mischte und die Rinnsteine der Asphaltstraße entlang lief. Es ist so, als ob - bildlich gesprochen - Guernica in Spanien erneut Wirklichkeit würde.

Ich habe in den Krankenhäusern, die ich in den Tagen nach dem 27. Dezember besuchte, als die Angriffe begannen, viele Leichen in Uniform gesehen, die Mehrheit von ihnen junge Leute. Ich kannte einige von ihnen sogar vom Namen her, ich grüßte sie jeden Tag, wenn ich sie auf der Straße traf, auf dem Weg zum Hafen oder am Abend auf dem Weg in ein Café oder sonst wohin.

Was bleibt, das sind ein Name, eine Geschichte, eine verstümmelte Familie. Die Polizisten waren in der Mehrzahl junge Leute, im Alter von 18 bis 20, ohne politische Bindung, weder zu Hamas, noch zur Fatah. Sie hatten sich irgendwann bei der Polizei beworben, weil sie eine sichere Arbeit in Gaza wollten. Sie hatten keine andere Wahl und konnten sich kaum irgendetwas anderes suchen, weil die kriminelle Blockade der Israelis die Arbeitslosenquote auf 60 Prozent hoch geschraubt hat. Wenn ich das aufschreibe, interessiert mich keine Propaganda. Ich erzähle lediglich, was meine Augen sehen und meine Ohren hören: den Lärm der Sirenen und das Krachen der Explosionen.

Unter den Opfern des heutigen Tages habe ich keine Terroristen gesehen, nur Zivilisten und Polizisten. Das sind die gleichen Polizisten, wie es sie in unseren Städten auch gibt. Ich habe diese Palästinenser, die jetzt unter den Toten liegen, in den Wochen zuvor hin und wieder bei ihrem Rundgang über die selben Plätze der Stadt getroffen. Ich sah ihnen zu, wenn sie an der Kreuzung den Verkehr regelten. Ich möchte, dass wenigstens über einige dieser Toten die Wahrheit erzählt wird. Sie feuerten keinen Schuss gegen Israel ab, sie wurden von niemandem dazu gedrängt, das gehörte nicht zu ihren Aufgaben - sie kümmerten sich allein um die Sicherheit der Bewohner ihres Viertels.

Nach der Zerstörung des Hafens bin ich mit der Videokamera unterwegs, doch wollen die Aufnahmen nicht gelingen. Ich bin nicht in der Lage, verstümmelte Körper oder tränenverschmierte Gesichter zu filmen. Auch ich beginne zu weinen. Ich war mit anderen Freiwilligen des International Solidarity Movement zum Blutspenden im Hospital al-Shifa und habe dort erfahren, dass Sara, eine gute Bekannte, tot ist. Sie wurde in der Nähe ihrer Wohnung im Flüchtlingslager von Jabaliyah von einem Metallsplitter getroffen. Sie war eine liebenswürdige Person von großer Ausstrahlung. Sie war kurz unterwegs, um Brot für ihre Familie zu besorgen. Sie hinterlässt 13 Kinder.

Heute, am 31. Dezember, habe ich einen Anruf von Tofiq aus Zypern erhalten. Tofiq, ein palästinensischer Student, der einem Schicksal im ewigen Gefangenencamp Gaza entkommen ist, fragte mich, ob ich, wie versprochen, seinen Onkel besucht hätte. Bedauerlicherweise fehlte mir die Zeit. Jetzt ist es zu spät. Tofiqs Onkel wurde wie viele andere unter den Trümmern der bombardierten Hafenanlagen begraben.

Die israelische Regierung hat die schreckliche Drohung ausgestoßen, Gaza hätte bisher nur die ersten Tage einer zweiwöchigen Bombenkampagne hinter sich. Sie wollen eine Wüste schaffen und nennen es Frieden. Dabei sind die Stille und das Schweigen der "zivilisierten Welt" noch ohrenbetäubender als die Explosionen, mit denen die Stadt unter einem Leichentuch aus Tod und Terror versinkt.

Übersetzung: Uschi Grandel

* Aus: Wochenzeitung "Freitag", 02, 9. Januar 2009


Zurück zur Gaza-Seite

Zurück zur Homepage