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"Stillhalten ist tödlich"

Nach dem Irakkrieg: Die "Alternative Völkergemeinschaft" muss die Machteliten der Welt zum Frieden bewegen

Am 1. September 2003 sprach der Psychoanalytiker und Mitbegründer der IPPNW Horst-Eberhard Richter auf der Antikriegs-Veranstaltung des DGB in Frankfurt. Seine Rede wurde auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau einem breiteren Publikum bekannt gemacht ("Stillhalten ist tödlich"). Wir dokumentieren im Folgenden die Rede in etwas gekürzter Form. Die Zwischenüberschriften haben wir eingefügt.


Von Horst-Eberhard Richter

Die USA haben in Irak einen puren imperialen Eroberungskrieg mit der nunmehr zugestandenen Lüge geführt, das eigene Land und die Welt vorbeugend gegen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen verteidigen zu müssen. Manche Regierungen haben den Krieg mitgemacht, nicht weil sie gutgläubig waren, sondern weil sie sich den USA aus Opportunismus gefällig erweisen wollten. Nachträglich erweist sich, dass dieser Krieg eine irreführende Inszenierung war, die nicht nur dem überfallenen Land zusätzliches Elend eingebracht hat, sondern einen zivilisatorischen Rückschlag für unsere Kultur bedeutet. Der Ex-Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros Ghali hat dafür den passenden Namen gefunden. Er spricht von einem Kolonialkrieg auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts.

Nach dem Schrecken der beiden Weltkriege hatte die Völkergemeinschaft einen bedeutenden Schritt zum Aufstieg unserer Zivilisation vollbracht. Das war die Schaffung der Vereinten Nationen mit einer Charta, die künftig schwächere Nationen von der Gewalt einer stärkeren schützen sollte. (...)

Der Irakkrieg: ein skandalöser Kriminalfall

Ich habe mir diese kurze historische Rückschau nur erlaubt, um das Ausmaß der Entzivilisierung deutlich zu machen, die uns der Irak-Krieg nun vorgeführt hat. Was da abgelaufen ist, stellt sich als ein skandalöser Kriminalfall heraus, der nur deshalb nicht voll als ein solcher wahrgenommen wird, weil er ein übergroßes Format hat und die Täter die höchsten Positionen einnehmen, zu denen sie ordnungsgemäß aufgestiegen sind. (...) Ein Präsident und ein Premierminister logen der Weltöffentlichkeit vor, der eine im Rahmen seiner feierlichen Rede zur Lage der Nation, in 45 Minuten könne der Weltfeind seine Massenvernichtungswaffen abschussbereit machen. Das war der Gipfel des arglistigen Betruges, da man den Schock der internationalen Öffentlichkeit einberechnete, die lange Jahre mit dem Gespenst eines Atomkrieges vor Augen gezittert hatte.

Die Autorität der UN und des Völkerrechts wischte man wie Nichtigkeiten beiseite. Die Staaten, die im Sicherheitsrat nicht mitspielten, wurden wie uneinsichtige Dickköpfe gerügt oder erst mal vor die Tür gesetzt. Wenn es nun heißt, wir sollten nur noch nach vorn blicken und uns freuen, dass die Amerikaner den Widerspenstigen und darunter uns Deutschen nicht mehr so gram sind wie noch vor kurzem, so ist das eine schamlose Zumutung. Der angerichtete Schaden durch die Aushöhlung der internationalen rechtlichen und moralischen Ordnung reicht tief. Wenn der Riesenskandal nicht gebührend aufgearbeitet wird, müssen wir eine baldige Fortsetzung gewärtigen. Weitere so genannte präventive oder präemptive Verteidigungskriege infolge purer Machtwillkür werden zur Regel werden. (...)

Der Fall Kelly und die Front des Schweigens

Es musste erst ein Wissenschaftler Selbstmord begehen, um den Blick auf die offiziellen Verdummungsmechanismen freizulegen, die wirksam waren, um die Menschen für einen unbegründeten Krieg gefügig zu machen. Deshalb lohnt es sich, über dieses Lehrstück noch ein paar Worte zu sagen. Sieben Jahre hatte der Mikrobiologe David Kelly als Biowaffen-Experte in Irak Inspektionsarbeit geleistet. Er hatte, wie berichtet wird, ein offenes Ohr für die Leiden der dortigen Bevölkerung. Diese Sensibilität ist es vermutlich gewesen, die für ihn einen erlogenen Bericht unerträglich machte, mit dem sein Premier Tony Blair und Präsident Bush im Januar 2003 an die Öffentlichkeit traten. Kelly wusste, dass keinerlei Kenntnisse über die Entwicklung oder gar das Vorhandensein von irakischen Massenvernichtungswaffen zum damaligen Zeitpunkt vorlagen. Aber er hörte Blair und Bush laut verkünden, binnen 45 Minuten könne Saddam Hussein solche Waffen einsatzbereit machen. Vier Monate schwieg der korrekte und redliche Wissenschaftler Kelly zu der Propagandalüge mit ihren schwer wiegenden psychologischen Folgen. Dann vertraute er sich einem Journalisten an. Seine Loyalität als langjährigen Regierungsbeamter unterlag offenbar seinem höheren Verantwortungsgefühl für die Allgemeinheit. Sein unbestechlicher Wahrheitssinn hat der Welt erstmalig Einblick in die Manipulationsstrategie der britischen Regierung verschafft. Aber das machte ihn zum Angeklagten vor einem Parlamentsausschuss. Zugleich wurde er Opfer der BBC, die seinen Namen als Informant preisgegeben hatte. In die Enge getrieben, bezahlte David Kelly mit seinem Selbstmord den Preis dafür, dass er als Erster das Risiko auf sich genommen hatte, die Aufmerksamkeit der Welt auf die größte denkbare Kriegslüge unter Verantwortung der politischen Führer Großbritanniens und der USA hinzulenken.

Die Lügerei setzt sich fort, indem immer noch davon geredet wird, das maßgebliche Dossier, auf das sich Blair und Bush berufen haben, enthielte nur eine Aufbauschung der Fakten. Aufbauschung, das wäre ein treffender Ausdruck, hätte es sich darum gehandelt, die irakische Frist für den Einsatz der Massenvernichtungswaffen von einem oder zwei Tagen auf 45 Minuten herabzusetzen. Stattdessen waren die Waffen gar nicht da. Also ging es nicht um Aufbauschen, sondern um eine Tatsachenbehauptung aus dem reinen Nichts. Allenfalls wird von einem Fehler geredet, den man mit heroischer Bekennermiene gesteht. Auch das ist ein verharmlosender Begriff anstelle von raffinierter unlauterer Irreführung aus niedrigen Beweggründen. Denn die Absicht, den psychologischen Widerstand gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit lügenhaften Mitteln auszuräumen, ist ein niedriger Beweggrund.

Der Fall Kelly und seine Behandlung sollten uns klar machen, dass zwischen der Ebene der Machtapparate und der Bürgerschaft eine geheime Frontlinie verläuft. So wird einer, der aus dem Machtlager eine Insider-Information herausträgt, die der Bevölkerung erst ein mündiges Mitdiskutieren politischer Prozesse von grundlegender Bedeutung möglich macht, wie ein Landesverräter stigmatisiert. Demokratische Regierungen bilden zusammen mit ihren Geheimdiensten und eigenen Kommunikations- und Propaganda-Agenturen ein geschlossenes festungsartiges System über den Köpfen der Parlamentarier und erst recht der Bürgerschaft. Gewiss gab es innerhalb dieser Festung genug wachsame Köpfe, die mehr darüber wussten, warum die UN-Waffeninspektoren bei über 500 Untersuchungen nichts Verbotenes fanden oder finden konnten. Aber alle verteidigten die Front des Schweigens gegen eine unwillige, aber planmäßig verdummte Bevölkerung. Flankierend wurde an der Medienfront dafür gesorgt, kritische Fragen und Zweifel als Erzeugnisse von Ressentiment, Antiamerikanismus oder linker Querköpfigkeit abzutun. Die Veranstaltungen der Friedensbewegung nahm man hin als traditionelle Rituale zur emotionalen Abreaktion und als exhibitionistische Selbstbefriedigung der üblichen Verdächtigen. (...)

Die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung

Nun aber zurück zur Situation auf der anderen Seite der Front. Wo muss die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung in Zukunft ansetzen, und was kann sie tun, um von unten her die zitierte Front aufzubrechen und sich gegen die ihr und der Bevölkerung insgesamt zugemutete Entmündigung besser zu wehren? Was die Aufklärungsarbeit anbetrifft, so ist es durchaus richtig, nach wie vor mit dem Finger auf die Eigendynamik des Turbokapitalismus in der Form des neoliberalen Systems als Zwangsursache für permanente Kriegsbereitschaft zu zeigen. Es ist ja richtig, dass dieses System auf Machtegoismus fixiert ist und neuerdings der Globalisierung eine Richtung vorgibt, die zur zusätzlichen Erweiterung der Kluft zwischen Arm und Reich führt. Und es ist richtig, dass diese Dynamik aus sich heraus kriegsbegünstigende Spannungen vermehrt. Die transnationalen Konzerne üben direkt, aber auch indirekt über die von ihnen gesteuerten Medien einen übergroßen Einfluss auf die Politik und auf das Massenbewusstsein aus. Dieses System hat sich noch verhärtet, nachdem die totalitären Deformierungen des Sozialismus im Osten zusammengebrochen sind. Aber der Neoliberalismus läuft nicht wie eine automatische Maschine. Es steckt in ihm oder man hat in ihn auch eine Ideologie hineingesteckt, die sich nun doch einem kritischen Punkt nähert. Das ist der Glaube, dass der Sieg in der Machtkonkurrenz am Ende eine herrliche Unabhängigkeit von allen einengenden Bindungen verheiße, die man bei den Verlierern wie ein Entsorgungslager zurücklassen könne. Das würde also der stärksten Macht schließlich erlauben, als Alleinherrscherin Gemeinschaftsverpflichtungen nach Belieben zu missachten, so wie das die USA beispielsweise jetzt schon tun, indem sie sich der Klimaschutz-Konvention von Kyoto entziehen und dem Internationalen Strafgerichtshof von Den Haag zwar die Ahndung aller Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen erlauben, nur nicht derjenigen, die von Amerikanern verübt werden. Aber schon diese beiden Beispiele, Kyoto und Den Haag, beweisen den Denkfehler des Ansatzes. Denn längerfristig schlägt die Eigenmächtigkeit gegen den Urheber zurück.

Vernachlässigung des Umwelt- und Friedensschutzes bekommen alle, auch die USA, auf Dauer schmerzlich zu spüren. Und der 11. September hat bewiesen, dass auch die aufwendigsten Machtmittel nichts an der eigenen Verletzbarkeit ändern. Das reichste Land kann sich nicht die Unabhängigkeit verschaffen, die es sich erträumt. Es bleibt ewig verwundbar und bietet sich als Angriffsziel sogar besonders an, wenn es durch egoistische Machtwillkür die anderen verletzt, an die es durch ein unumgängliches wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis permanent gebunden bleibt. (...)

Die moralische Krise der Amerikaner

Der Ungeist tritt offen zu Tage, wenn er sich etwa in der Form eines Präsidenten äußert, der den Machtegoismus noch religiös überhöht. Man könnte es für Bushs Privatsache halten, dass er sich von Gott ausersehen glaubte, den Krieg gegen Irak als eine Art Weltrettungsaktion führen zu müssen. Aber man hatte ihn dafür gewählt, weil er so ist, wie er ist. Er hat die Segnung dieses Krieges mit der gleichen Selbstgerechtigkeit verkündet, wie man einst das Flugzeug mit der Hiroshima-Bombe vor dem Abflug christlich eingesegnet hatte. Die religiöse Verklärung des nationalistischen Stolzes ist ein endemisches Merkmal einer gewissen amerikanischen Wesensart: Gott ist mit uns auf dem Wege zur Amerikanisierung aller Kulturen des Globus. An unseren Werten muss die Welt gesunden.

Nun aber kommt ein kritischer Punkt, der mit solcher Selbstverklärung notwendig verbunden ist. Wer nur gut sein will, braucht das Böse, um sich dagegen zu stabilisieren. Es ist noch komplizierter: Immer ist da etwas, was einer sich nicht verzeihen kann, der immer das Böse draußen sucht und ausmerzen muss. Nach diesem Etwas muss man bei George W. Bush nicht lange herumsuchen, da er darüber selbst redet.

"Sie wissen", so hat er sich einmal vor Vertretern der wichtigsten Konfessionen geäußert, "dass ich ein starker Trinker war. Eigentlich sollte ich jetzt in einer texanischen Bar und nicht im Oval Office sein. Es gibt nur einen Grund, warum ich im Oval Office und nicht in einer Bar bin: Ich habe den Glauben gefunden. Ich habe Gott gefunden." Damit hat Bush persönlich eine Spur zu einer Vermutung gelegt, wo seine geheime Selbstverurteilung wohl liegt, gegen die er mit einem Sündenbockmechanismus ankämpft. Stimmt diese Annahme, dann muss man Sorge haben, dass es zu einer Frage seines inneren Gleichgewichtes wird oder etwa schon geworden ist, immer wieder neue Bin Ladens oder Saddam Husseins besiegen zu müssen. Solange der irakische Herrscher als waffenstarrender Superfeind im Visier war, war ein Großteil der Amerikaner mit der moralischen Etikettierung des Krieges voll einig. Stellt sich nun aber heraus, dass man es mit einem militärisch zahnlosen Gegner zu tun hatte und dass man von einer erlogenen PR-Kampagne genarrt worden ist, beginnt das große Zweifeln. (. . .)

Ich habe diesen Aspekt jetzt ausführlicher erörtert, weil er mir für die Frage wichtig erscheint, welche Wege die Friedensbewegung künftig einschlagen sollte. Es scheint mir notwendig, die moralische Krise der Amerikaner sehr genau zu beachten und sich mehr denn je vor einem unkritischen Anti-Amerikanismus zu bewahren. Denn damit würde man eher eine patriotische Abwehrhaltung stabilisieren. Erinnern wir uns, dass am 15. Februar die Menschen in fast allen US-Metropolen in ähnlichen Massen wie in Europa, in Asien, Australien und Neuseeland auf die Straßen gegangen sind. Die amerikanischen Zweige der Friedensbewegung haben eine lange Geschichte. Wir müssen diesen dortigen Bestrebungen mehr als bisher zuarbeiten und stets daran denken, dass ohne einen Bewusstseinswandel innerhalb der USA durchgreifende friedenspolitische Fortschritte in Weltmaßstab unerreichbar bleiben.

"Wir brauchen ein transatlantisches Friedensbündnis"

Wir brauchen ein transatlantisches Friedensbündnis von der Basis aus im Kontrast zu den bekannten Anstrengungen, das Zusammenwachsen Europas vor allem als Aufbau einer europäischen Militärmacht voranzutreiben. Es ist wichtig, dass wir den 15. Februar nicht als nostalgische Genugtuung in unseren Köpfen ablegen, sondern dass wir daran denken, dass diese einzigartige transkontinentale Massendemonstration für uns eine einzigartige Chance und Verpflichtung bedeutet. (...)

"Alternative Völkergemeinschaft", das soll hier die Gemeinschaft der Volksmehrheiten bezeichnen, die gegen den Irak-Krieg standen, ohne ihren Willen durchsetzen zu können. Hier liegt ein riesiges Potenzial bereit, das darauf wartet, in die offizielle Politik aus einem Bewusstsein heraus einwirken zu können, das der Mentalität der politischen Machtelite nach allem Anschein ein deutliches Stück voraus ist. Ich vermute, dass der friedliche Verlauf unserer großen Demonstrationen wesentlich mit dem Bewusstsein eigener moralischer Überlegenheit zusammenhängt. Man wusste, dass in der Kriegsablehnung ein höheres und reiferes Verantwortungsgefühl wirksam war als in der Feindbildhetze der Kriegstreiber.

Was kann getan werden? Vier Vorschläge

Aber wie kann diese "Alternative Völkergemeinschaft" politisch effizienter werden?
  1. Erstens durch bessere internationale Vernetzung. Da haben die Gewerkschaften, Attac, friedenspolitische Berufsgruppen wie Ärzte und Juristen, auch kirchliche Gruppen schon gute Kontakte, aber die müssen noch ausgebaut werden.
  2. In unserem Medienzeitalter üben die Medien eine gewaltige Macht aus. Wir müssen uns den Zeitungen und Sendern erheblich mehr aufdrängen mit Leserbriefen und Kontakten mit Redakteuren, auch mit eigenen Beiträgen. Es ist ein Unding, dass die Medien ganz überwiegend von oben nach unten vermitteln und den Eindruck erwecken, als seien die Hunderttausende der Friedensbewegung nur eine mit den Füßen protestierende Herde mit einer Hand voll moderierender Funktionäre. Die von den Parteien bevormundeten Fernsehsender erweckten das Bild, Kriegsbefürwortung und -ablehnung hielten sich in Deutschland die Waage, weil Merkel, Schäuble und Pflüger zumindest so viel Redezeit erhielten wie Rote und Grüne. In der Christiansen-Talkshow überwogen die Amerikanisten. Protagonisten der Friedensbewegung waren kaum zu sehen. Kein Besucher aus dem Ausland hätte aus den deutschen Medien eine über 80-prozentige Kriegsablehnung der Deutschen erschließen können. Es war nicht ganz so schlimm wie im Kosovo-Krieg, wo eine große schwedische Studie zu dem Ergebnis kam, dass die Medien sich eher wie eine vierte Waffengattung benommen hätten. Fazit ist jedenfalls, dass wir unsere Medienarbeit dringend verbessern müssen. Die traditionellen Pressekonferenzen reichen nicht aus. Man muss die Redaktionen besuchen, noch und noch Leser-, Hörer- und Zuschauerbriefe schreiben. Es lässt sich mit Engagement einiges tun, um die gegenseitige Abschottung zu durchlöchern.
  3. Wenn man die eigenen Abgeordneten damit in Ruhe lässt, dass sie nur Fraktionsgehorsam üben und sich lediglich in Wahlkampfzeiten der Wählerschaft zur Diskussion stellen, dann erfüllt man nicht den Sinn der Verfassung, wonach alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen habe. Es ist eine unheilvolle Entwicklung, dass die Parlamentsarbeit für die Bürger immer undurchsichtiger bzw. lediglich als eine Art Medientheater noch wahrgenommen wird. Es lässt sich vermuten, dass es die CDU-Parlamentarier wenig geängstigt hat, dass die Mehrheit ihrer Wähler den Krieg abgelehnt hat. Die Abgeordneten im Bundestag bilden, was sie auch von Partei zu Partei trennt, einen Teil der gemeinsamen Machtfront gegenüber der Bürgergesellschaft. Da muss die Friedensbewegung ähnlich wie andere NGOs entschieden mehr Lobby-Arbeit machen.
  4. Unsere großen Demonstrationen, auch außerhalb des 15. Februars, haben eine bessere Kooperation und Koordination als je zuvor bewiesen. Politische Gruppen, Gewerkschaften, Menschenrechts-, Öko-, Frauen-, kirchliche und berufliche Gruppen haben insgesamt ein Bild eines geschlossenen Willens dargeboten. Attac hat als integrierende Kraft einen wichtigen Beitrag geleistet. Aus der Jugend, insbesondere aus der Altersgruppe der 16- bis 20-Jährigen gab es einen beträchtlichen Zustrom. Es ist wichtig, diese Kontakte intensiv weiterzupflegen. Ansätze von Machtrivalitäten, die Friedensbewegung da oder dort dominierend vereinnahmen zu wollen, sind wenig hilfreich.
(...) Lassen Sie mich abschließend noch sagen, dass ich mich besonders freue, als Vertreter der ärztlichen Friedensbewegung an diesem Tag gerade von Ihnen, von der Gewerkschaft eingeladen worden zu sein. Die Gewerkschaftsbewegung hat von Anfang an ein zentrales Prinzip der Friedensbewegung verfolgt, nämlich eine ebenbürtige Partnerschaft in einer Gesellschaft zu erzwingen, die vom Machtmissbrauch einer Herrschaftsschicht bedroht wird. Genau dieses Prinzip muss die Friedensbewegung in einem Augenblick leiten, da es gilt, die Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der Menschen und Völker gegen die Gefahr einer Weltunordnung unter der Alleinherrschaft der Hegemonialmacht zu schützen. Die neue offizielle "Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten" besagt klar, dass allen Staaten Gewalt, d. h. Krieg angedroht wird, die das Übergewicht des eigenen nuklearen Potenzials konkurrierend gefährden. Dies würde den Absturz auf das Niveau nuklearer Erpressung bedeuten, diesmal einseitig statt doppelseitig. Es wäre der sicherste Weg, einen Terrorismus ungeahnten Ausmaßes und ein neues geheimes Wettrüsten anzuheizen. Zur Abwehr bedarf es einer großen internationalen Solidarität unter besonderer Mithilfe der Friedenskräfte gerade auch in jenem Land, wo die egomanische "nationale Sicherheitsstrategie" ausgedacht worden ist. Lassen Sie mich mit dem Motto schließen, mit dem ich diese Rede überschrieben habe. Stillhalten ist tödlich!

Gekürzt nach der Dokumentation in der Frankfurter Rundschau vom 3. September 2003.

Weitere Beiträge von Horst-Eberhard Richter auf unserer Homepage:
"Besessenheit stiftet nur Unfriedlichkeit"
Vortrag von Horst-Eberhard Richter zur Eröffnung des IPPNW-Kongresses "Kultur des Friedens" (2. Mai 2003)
Das Ende der Egomanie
Was wir aus dem 11. September lernen können. Von Horst-Eberhard Richter (12. September 2002)
Von der Anti- zur Pro-Bewegung
Die totgesagte Friedensbewegung lebt. Von Horst-Eberhard Richter (13. Dezember 2000)



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