Von der Anti- zur Pro-Bewegung
Die totgesagte Friedensbewegung lebt. Von Horst-Eberhard Richter
Beim folgenden Beitrag handelt es sich um das Schlusswort von Horst-Eberhard Richter beim IPPNW-Kongress "Kultur des Friedens" am 8.-10- Dezember 2000 in Berlin. Wir dokumentieren Richters Rede in der Druckfassung der Frankfurter Rundschau vom 13. Dezember 2000. Überschriften haben wir eingefügt.
Ethnozentrismus ist der Name für eine Haltung, die das eigene Volk in den
Mittelpunkt stellt, aber nicht schlicht aus gesundem Heimatgefühl und aus
normalem gemeinschaftlichen Identitätsbewusstsein, sondern eng verbunden mit
einem Argwohn gegen andere, vor allem gegen hereinkommende oder bereits im
Landesinnern eingenistete Fremde. Deutlicher als zuvor hat sich diese Stimmung
im Millennium-Jahr als Nährboden für ausländer- und judenfeindliche Anschläge, da
und dort gar für die Ausrufung "national befreiter Zonen" bemerkbar gemacht. Es ist
eine Mentalität, deren Gefährlichkeit insbesondere den Älteren unter uns noch
überdeutlich in Erinnerung ist.
Ethnozentrismus bildet sich, wie hier zu Lande gut bekannt, als Überkompensation
von Selbstunsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen durch Selbstidealisierung
einerseits und Dämonisierung der Fremden andererseits. Diese, obwohl weit in der
Minderheit, erscheinen in grotesker Verkehrung der Proportionen als eine massive
Gefahr. In der Fantasie sieht man sich schon im Würgegriff der vermeintlichen
Parasiten ersticken und die eigene geheiligte Kultur vom Heimatboden getilgt. Der
Argwohn dehnt sich auf das internationale Umfeld aus. Man erlebt sich von den
Nachbarvölkern benachteiligt, zum Beispiel zu Unrecht mit Flüchtlingen überlastet,
als Zahlmeister Europas ausgebeutet, schließlich böswillig auf alle Zeit mit den
Nazi-Verbrechen zu Demut und Willfährigkeit erpresst. Wie eng interne und
internationale Unfriedlichkeit zusammenhängen, sollte man also in diesem Land
einer noch sehr lernbedürftigen, aber hoffentlich noch hinreichend lernfähigen Kultur
besonders gut verstehen können.
Friedlosigkeit eine Krankheit
Neben allen unterschiedlichen soziologischen und ökonomischen Bedingungen, die
jeweils hereinspielen, gibt es zum Thema Frieden einen gemeinsamen Aspekt,
nämlich Friedlichkeit oder Unfriedlichkeit als eine menschliche Haltung. Gleich
kommt in den Sinn: Friedlichkeit ist anständig, Unfriedlichkeit ist unanständig.
Basta! Folglich lädt das Thema unmittelbar zu Appellen und Gelöbnissen ein, zum
Aufstand der Anständigen gegen das Böse. Das kann, wie zur Zeit, eine
notwendige Reaktion sein. Aber insgeheim denken dabei viele, dass Gewalt und
Kriege unausrottbare Erscheinungsformen eines angeborenen Aggressionstriebes,
also vielleicht momentan unterdrückbar, aber nicht heilbar seien. Das ist falsch.
Konrad Lorenz hat uns jedoch belehrt, dass die Männchen der höheren Tiere in
aller Regel ihre rivalisierenden Artgenossen nicht töten, weil sie eine instinktive
Hemmung daran hindert. Und Erich Fromm hat in seinem Werk "Anatomie der
menschlichen Destruktivität" darauf hingewiesen, dass die Häufigkeit und
Grausamkeit von Kriegen mit wachsender Zivilisation nicht ab-, sondern
zugenommen hat, während im Falle angeborener Destruktivität als Kriegsursache
doch das Gegenteil zu erwarten wäre. Wenn also beim Menschen die Aggression
außer Kontrolle geraten ist und dieser seine Arterhaltung mit horrenden
Tötungsmitteln bedroht, so kann man das durchaus eine Krankheit nennen, wie es
der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker in einem berühmt
gewordenen Vortrag getan hat, dem er den Titel gab: "Friedlosigkeit als seelische
Krankheit".
Eine Krankheit ist nicht von vornherein etwas Schmachvolles. Man sollte über ihre
Verhinderbarkeit und ihre Heilbarkeit nachdenken, ohne sich gleich in moralischen
Kategorien zu verfangen. Man kann ihre Ursachen untersuchen, ohne gleich
verdächtigt zu werden, dass man Verstehen-Wollen mit verständnisvoller Billigung
oder zumindest Verharmlosung gleichsetze, so wie sich das Vorurteil festgesetzt
hat, dass Psychiater mit diagnostischen Analysen alles Schlimme zu
entschuldigen geneigt seien. Es gibt in der Tat eine selbst zu verantwortende,
dennoch neurotische Form von Friedlosigkeit, die deshalb unerkannt und
unbearbeitet bleibt, weil sie das eigene latente destruktive Potenzial gar nicht
erkennt, indem sie sich bewusst nur in einer defensiven Position gegen äußere
Bedrohung wahrnimmt.
Der "Anti-Frieden" des Kalten Kriegs
Es ist eine Haltung, die ich verkürzend und vereinfachend als Anti-Frieden im
Gegensatz zu einem Pro-Frieden bezeichne. Eigentlich ist es auch nur ein
Noch-Frieden, weil die Mine zur Zündung schon bereit liegt. Erlauben Sie mir einen
ganz kurzen sprachgeschichtlichen Seitenblick zur besseren Erläuterung der
Differenzierung. Das Wort Frieden hat eine doppelte Wurzel. Die eine Komponente
verweist auf ein Pro, nämlich durch die Verwandtschaft mit Freude und
Freundschaft. Die andere birgt in sich ein Anti, ein Dagegen, im Sinne von
Ein-Friedung, von Einzäunung und Schutz gegen draußen. Auf die Praxis
angewandt, kommt im einen Fall der Frieden des Vertrauens und der
gemeinsamen Sicherheit heraus, im anderen der labile Anti-Frieden, der eines
gepanzerten und möglicherweise waffenstarrenden Misstrauens.
Der klassische Anti-Friede war der atomare Wettlauf der 80er Jahre nach dem
Prinzip, dass nur eine zumindest gleichhohe, wenn nicht überlegene Bedrohung
des Gegners die eigene Seite vor Vernichtung schützen könne. Der krankhafte
Charakter dieses Konzepts veranlasste damals sogar den Generalsekretär der
Vereinten Nationen, Perez de Cuellar, von einem Wahn zu sprechen. Dies wurde
bald zu einem leeren Modewort. Denn ein allgemeiner Zustand, der sich nicht als
auffällig von einem kontrastierenden Hintergrund abhob - der war natürlich im
statistischen Sinne normal. Aber die Angst, dass er vielleicht doch verrückt und
gefährlich sein könnte, bekamen damals wir Friedensärzte und alle Gruppen der
Friedensbewegung zu spüren, nämlich in der Abreaktion an uns als angeblichen
Panikmachern und vermeintlichen Kommunistenfreunden.
Die psychologische Wurzel des Anti-Friedens ist also ein tiefsitzender Argwohn,
der aber eben nicht als eigene Disposition durchschaut, sondern ausschließlich
von der Gegenseite her begründet wird. Die Verbindung mit den Merkmalen des
Ethnozentrismus liegt auf der Hand. Die Krankheit der wechselseitigen tödlichen
Raketenbedrohung erwies sich seinerzeit glücklicherweise als therapierbar.
Nämlich verhältnismäßig einfach dadurch, dass ein Michail Gorbatschow bereits
1985, noch ohne wirtschaftlich zur Rüstungsschrumpfung gezwungen zu sein, auf
einen Frieden der humanisierten Beziehungen, also auf einen Pro-Frieden
zusteuerte. Er nahm Egon Bahrs Gedanken von der gemeinsamen Sicherheit auf,
der uns schließlich alle von dem Horror der eskalierten wechselseitigen
Vernichtungsbedrohung momentan befreite. Vorläufig.
Denn die Wahnbereitschaft war damit keineswegs durchschaut oder gar kuriert. Es
war nur so etwas wie eine Symptomheilung, weil dem gewaltbereiten Misstrauen
vorübergehend der Feind fehlte, an dem es sich festmachen konnte. Aber der
Argwohn benahm sich wie ein Drang, der seine vorläufige "Arbeitslosigkeit" schwer
ertrug und deshalb Ausschau nach geeigneten neuen Bedrohungsszenarien hielt.
Prompt fand sich dann auch ein Saddam Hussein, später waren es die Clan-Führer
in Somalia, schließlich Karadzic und Milosevic, fraglos allesamt rücksichtslose,
tyrannische Despoten wie manche andere Diktatoren dieser Welt, jedenfalls böse
genug, um gegen jeden die nötige Kriegsstimmung anzuheizen und einen neuen
Rüstungsschub zu rechtfertigen. Aber selbst heute, da nun einmal tatsächlich kein
echter, nicht einmal ein als solcher aufzublähender Weltfeind in Sicht ist und sogar
Korea aus der Schurkenstaat-Rolle entlassen werden muss, geht die Entwicklung
und Modernisierung von Massenvernichtungswaffen und die Arbeit an neuartigen
Vernichtungsstrategien unvermindert weiter.
Im boomenden Rüstungshandel hält nach wie vor das Land mit Abstand die Spitze,
das am wenigsten gefährdet ist und logischerweise mit eigener energischer
atomarer Abrüstung vorangehen müsste. Wer je an der Abartigkeit dieser
neurotischen Unfriedlichkeit gezweifelt hat, dem sollten jetzt die Augen aufgehen,
wenn er in einer Rede des Ex-Oberkommandierenden der
US-Kernwaffen-Streitkräfte General Lee Butler den Satz liest: "Die führenden
Politiker der Kernwaffenstaaten laufen heute Gefahr, von künftigen Historikern als
ihres Zeitalters unwürdig beurteilt zu werden, . . . weil sie das nukleare Wettrüsten
auf der Erde wieder in Gang gesetzt haben und die Menschheit dazu verdammen,
unter dem ständigen Damoklesschwert der Angst zu leben."
Deutungsversuche des "Anti-Friedens"
Es lässt sich darüber nachsinnen, ob die Neurose des Anti-Friedens, also die
Selbstdefinition als permanentes Opfer von Bedrohungen, zur Rechtfertigung
eigener Gewaltbereitschaft nur auf dem einfachen Mechanismus der Projektion
verleugneter Aggressivität beruht oder ob diese Haltung nicht aus tieferen Wurzeln
gespeist wird, nämlich aus dem Verhaftetsein der Männergesellschaften in jenem
mythischen Komplex, der eigentlich die pubertäre Krisenphase der ödipalen
Verwirrung charakterisiert, wozu die Fantasie gehört, sich nur durch Bewährung in
Szenarien von High-Noon- oder James-Bond-Art eigener männlicher Vollwertigkeit
versichern zu können.
Aber vielleicht greifen Deutungsversuche dieser Art noch zu kurz. Vielleicht haben
wir es nach dem Mittelalter immer noch in unseren Völkern mit der Angst zu tun,
die verlorene Glaubenssicherheit und Geborgenheitsgewissheit nur ewig im Kampf
um neue Siege gegeneinander und über die Naturgewalten kompensieren zu
müssen.
Genau diese Sorge, aber auch eine vorsichtige Hoffnung, hat Christa Wolf ihrer
Kassandra in ihrem so betitelten Roman in den Mund gelegt. Die warnt die
Eroberer von Troja:
"Ich sage ihnen: Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt
bestehn.
Der Wagenlenker: Gestatte eine Frage, Seherin. - Frag. - Du glaubst nicht dran. -
Woran. - Dass wir zu siegen aufhörn können. - Ich weiß von keinem Sieger, der es
konnte .- So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang
in unsere Natur gelegt.
Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann. Komm näher, Wagenlenker. Hör
zu. Ich glaube, dass wir unsere Natur nicht kennen. Dass ich nicht alles weiß. So
mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln
wissen."
Das genau ist die Wegweisung, die zu befolgen ist. Nämlich eine schrittweise
Überwindung des fatalen ewigen Siegen-Müssens über Bedrohungen, die eigener
Argwohn erst dämonisiert, um in einem ewigen Zirkel neue Aufrüstung zu
legitimieren. Diesen Zirkel gilt es zu stoppen, diese Neurose in einem
gemeinsamen Selbstheilungsprozess zu überwinden. Michail Gorbatschow
benutzte dazu auf jenem legendären Friedensforum 1987 eine ganz schlichte, aber
schlagende therapeutische Deutung: Man solle doch einmal überlegen, was wir
normalerweise einem Menschen auf der Straße sagen würden, der glaube, dass er
Beziehungen zu anderen Menschen nur aus einer Position überlegener Stärke
heraus gestalten könne. Mit diesem wahrhaft entwaffnenden Gedanken durchbrach
Gorbatschow die Mauer des Anti-Friedens.
Gorbatschows einfaches Heilmittel
Sein Heilmittel ist unvergessen. Wir haben nun von beachtlichen Projekten gehört,
die auf vielfältige Weise die Umwandlung von Destruktivität in Leben, von
Verfeindung in Kooperation, von Ausbeutung der Natur in ihre nachhaltige Pflege
betreiben. Das vielleicht kühnste Projekt haben uns unsere Gäste aus Südafrika
vorgeführt, nämlich den Versuch der Auflösung einer mörderischen Gegnerschaft,
verbunden mit einer gemeinsamen Arbeit an der Heilung der tiefen psychischen
Verletzungen, aus denen sich sonst unweigerlich neuer Rache- und Kriegsgeist
speist. Umso mehr verdient dieses Land jetzt eine Friedensleistung aus unseren
nördlichen Wohlstandsländern, nämlich endlich eine großzügige medikamentöse
Hilfe für die 8 Millionen von 25 Millionen Einwohnern, die mit dem Aids-Virus
infiziert sind und anders als in unseren Ländern einem baldigen Tod ausgeliefert
sind, Massen von Waisenkindern zurücklassend. Es wäre so etwas wie ein
unsichtbarer Krieg, diese Hilfe zu verweigern.
Dringend zu wünschen ist den Friedensgruppen in Israel und Palästina, in Irland
und Korea, in der Türkei und im Kurdengebiet, dass auch ihnen gelingen möge,
was sie in unermüdlicher Beharrlichkeit anstreben. Ähnliche Fortschritte erhoffen
wir für die zahlreichen, von außen zunehmend unterstützten Kräfte, die auf dem
Balkan an Verständigung und an der Überwindung der verheerenden psychischen
und materiellen Folgen der traumatischen Gewalt arbeiten.
Die deutsche Friedensbewegung hatte man schon totgesagt. Tatsächlich waren
viele aus ihr abgesprungen, vor allem solche, die in ihrem früheren Engagement von
der Polarisierung der Welt im Kalten Krieg gezehrt und nur Front gegen die
Raketen des eigenen Lagers gemacht hatten. In der Entspannungsphase standen
sie dann ohne Feindbild da. Andere resignierten, als ihre alten grünen
Galionsfiguren sich in solche verwandelten, die sie früher bekämpft hatten. Vielen
gingen dann aber während des Jugoslawien-Krieges die Augen auf, als die Bomben
nicht auf Milosevic, sondern auf Krankenhäuser, Schulen, Elektrizitäts-, Chemie-,
Wasserwerke, Brücken und Wohngebiete fielen. Andreas Zumach enthüllte die
zuvor verheimlichten Adnexe im Rambouillet-Vertrag, den auch Kostunica nicht zu
unterschreiben bereit gewesen wäre. Vollends räumte dann der bestinformierte
General Loquai mit der Mär auf, dass der Nato-Krieg unvermeidbar, ja sogar aus
humanitären Gründen gerechtfertigt gewesen sei.
Friedensbewegung heute: Arbeit mit Menschen
Die mehr als 1000 Besucher, die in dem Kongress "Kultur des Friedens" aus allen
Landesteilen und aus den Nachbarländern in Berlin zusammengeströmt sind,
bezeugen, dass man die Friedensbewegung voreilig begraben hatte. Diese ist nicht
mehr die enge Anti-Bewegung früherer Jahre, sondern viel deutlicher auf das Pro
ausgerichtet, auf Verständigungsarbeit, auf Verhütung von Ausgrenzungen, auf
gewaltfreie Krisenintervention und Hilfe für Traumatisierte.
Die Bewegung artikuliert sich nicht mehr vorrangig in Demonstrationen, Appellen
und Manifesten, sondern in der Arbeit mit Menschen. Sie macht weniger
Geräusch, aber tritt durchaus widerständig auf, wo Anpassung kontraproduktiv ist.
Sie kämpft z. B. gegen die zunehmende Militarisierung der Sprache, mit der
systematisch eine Militarisierung des Denkens eingeübt wird. Humanitär kann kein
Bombenkrieg sein, wie uns eingeredet wurde. Sicherheit passt zuallererst zu
Vertrauen und Gemeinsamkeit und wird als Wort missbraucht, wenn sich
demnächst wieder Militärs in München zu ihrer sogenannten Sicherheitskonferenz
treffen, wo sie erneut nur über neue Kriegsmittel und Kriegsstrategien reden
werden, organisiert von einem Ministerium für Verteidigung, das selber
Namensmissbrauch treibt, da Verteidigung kein Thema mehr ist und nur noch für
Interventionskriege geplant wird. Zu friedenserzwingenden Maßnahmen werden
Kriege umgelogen. Was sie hinterlassen, zeigt sich in Bosnien, im Kosovo und in
Tschetschenien, wo nur militärische Besatzung Mord und Totschlag in Grenzen
hält.
Es ist wohl die Ehrlichkeit des schlechten Gewissens, wenn das Wort Frieden in
deutschen Politikerreden seit dem Jugoslawienkrieg kaum mehr vorkommt.
Seltsam auch, dass unsere politischen Institutionen keine erkennbaren
Anstrengungen unternommen haben, uns zu vermitteln, dass wir zur Zeit in dem
von der UN ausgerufenen Jahr "Kultur des Friedens" leben, was vielen Besuchern
des Berliner Kongresses wohl auch erst durch die Anerkennung dieser
Veranstaltung als offizieller UNESCO-Beitrag zu diesem UN-Jahr klargeworden ist.
Umso mehr ist es jetzt eine Chance für die Bürgergesellschaft und für die vielen im
weiteren Sinne der Friedensbewegung zugehörigen Gruppen, darunter für die den
Kongress organisierende Ärzteorganisation, den Begriff Frieden mit dem Sinn zu
erfüllen, der fast abhanden gekommen ist. Also nicht mehr Frieden als Nicht-Krieg
oder Noch-nicht-Krieg, auch nicht als Anti-Frieden der Bedrohungs- und
Verfolgungsmentalität, sondern Frieden als stetiges gemeinschaftliches
zuversichtliches Weiterarbeiten an der Humanisierung des Zusammenlebens.
Kein Wunder, dass Frieden als bloßer Gegenbegriff gegen Gewalt, Bedrohung,
Mafia und Krieg zum Nichts wird, zum bloßen Nichtvorhandensein eines
Gegenteils; ein Nichts, weil es die Bürokratie nicht zu fassen kriegt, weswegen
man den Begriff auch in keinem Ressort antrifft, obwohl er überall hingehört, in
Erziehung und Bildung, in Kunst und Kirche, in Wirtschaft und Recht. Ohne
Frieden ist alles nichts, hat Willy Brandt einmal gesagt. Das war in der Zeit, als
wie selbstverständlich zu Frieden Gemeinschaftlichkeit, Solidarität, Beistand für
Schwächere, Versöhnung, soziale Verantwortung assoziiert wurden. Ohne
Hoffnung, dass einiges von diesem Geist wieder lebendig gemacht werden kann,
hätte die UN vermutlich kaum gewagt, dem Millenniumsjahr das anspruchsvolle
Motto voranzustellen. Und ohne solche Hoffnung hätte es den Berliner Kongress
nicht gegeben. Dass diesen die amtierende Gesundheitsministerin begrüßt hat, hat
auch einen Sinn. Denn ohne Frieden gibt es keine gesunde Gesellschaft, aber
ohne eine gesunde, d. h. gerechte und kulturell offene Gesellschaft gibt es auch
keinen Frieden.
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