"Prothesen und Brot statt Cruise Missiles und Streubomben"
Reden auf der Stuttgarter Friedensdemonstration
Im Folgenden dokumentieren wir Ausschnitte aus einigen Reden, die auf der Großkundgebung der Friedensbewegung am 13. Oktober in Stuttgart gehalten wurden. Die Abschlusserklärung des Trägerkreises sowie die Presseerklärungen der Veranstalter der Berliner Großkundgebung finden Sie hier: Über 75.000 demonstrierten in Berlin und Stuttgart gegen den Krieg.
Hier erhalten Sie außerdem die Reden der Berliner Demonstration.
Sybille Stamm
Landesbezirksleiterin, ver.di Baden-Württemberg
Liebe Friedensfreundinnen,
liebe Friedensfreunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
in den ersten Stunden und Tagen nach den grauenvollen Terroranschlägen von Washington und New York hatten wir alle eine große Angst: Dass die im Mark getroffene US-Regierung unmittelbar zurückschlagen und alttestamentarisch Rache nehmen würde, wie wir es oft genug erlebt hatten.
Es ist zunächst anders gekommen. Ein Vergeltungsschlag blieb zunächst aus. Die Sprache schien sich zu mäßigen. Man schmiedete eine weltweite Anti-Terror-Allianz. Rot-Grün und andere europäische Regierungen hielten sich zugute, mit ihrem bedingungslosen Schulterschluss zu mehr Besonnenheit beigetragen und einem Primat der Politik den Boden bereitet zu haben.
Die Hoffnung, ein Krieg könnte so doch abgewandt werden, ist seit der Aufnahme der Bombardierung von Afghanistan erloschen.
Mir wäre lieber, wir hätten mit unseren Befürchtungen nicht recht behalten. Jetzt tritt ein, wovor wir in den vergangenen Wochen immer wieder gewarnt haben. Dieser Krieg droht einen Flächenbrand des Hasses zu entfesseln und dieser Krieg kostet Menschenleben - Tote, die keinen der im Ground Zero Begrabenen wieder lebendig macht.
Schon jetzt sind Hunderte unmittelbar Opfer der Bombardierung geworden. Anonym bleiben die Opfer der gewaltigen Flüchtlingswelle in Afghanistan. Millionen Menschen sind aus Angst vor Bomben aus den Städten geflohen. Die Hilfswerke haben sich zurückgezogen. Tausendfacher Hungertod ist angesichts des nahenden Winters zu befürchten. UNICEF hat mitgeteilt, dass allein die Zahl der unter fünfjährigen Kinder, die vom Hungertod bedroht sind, auf etwa 1,5 Mio. angestiegen sei. Die jetzt schon katastrophale Lage der afghanischen Bevölkerung wird durch die Bombardierung noch bedrohlicher, als sie ohnehin schon war.
Und auch jene Menschen, ob Soldaten, Freiwillige oder Zivilisten, die ihr Leben in dem nun mit westlichem Druck und Waffen neu angestachelten Krieg zwischen Taliban und Nordallianz verlieren werden, dürfen nicht in eine Nebenrechnung abgeschoben werden. Sie sind genauso Opfer eines Krieges, der entgegen aller Warnungen und aller Versprechungen nun doch die Oberhand in der Bekämpfung des Terrorismus gewinnt.
Ich befürchte, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten die selben Erfahrungen machen werden, die auch Scharon machen musste: Die Radikalen bekommen Aufwind, Terroristen, die bisher isoliert waren, werden zu Helden.
Ich befürchte, dass während amerikanische, britische, neuerdings auch deutsche Fahnen verbrannt werden, Osama bin Laden, der mutmaßliche Anstifter des Massenmordes von New York, zur Heiligenfigur aufsteigt.
Ich befürchte, dass das weltweite Anti-Terror-Bündnis, das eine tragfähige und ermutigende Alternative zum Krieg werden sollte bei Fortsetzung der Bombenangriffe zerbrechen wird.
In dieser Situation müssen wir unsere Sprache wieder finden, gerade die Gewerkschaften. Ver.di sieht sich in der Tradition der Gewerkschaften als Friedensbewegung. Deshalb sagen wir:
Krieg ist kein geeignetes Mittel der Politik!" (Beschluss des Gewerkschaftsrates vom 28.9.2001)
Für die Gewerkschaften gibt es viele Gründe, sich an vorderster Stelle mit den neuen globalen Herausforderungen des Terrorismus auseinander zu setzen. Der naheliegenste: Es waren Kolleginnen und Kollegen bei den Luftfahrgesellschaften, in den Büros der Banken, Investmenthäuser, Versicherungen, in Restaurants, Kaffees und Kaufhäusern, bei Feuerwehr und Polizei, die bewusst und zielgerichtet Opfer der Terroranschläge geworden sind.
Auch die Folgen werden Gewerkschaften zu schultern haben. Die Weltwirtschaft ist nicht durch terroristische Attacken aus den Geleisen eines längeren Wachstumspfades gestoßen worden, aber die ökonomischen Abschwungtendenzen werden sich verstärken und Krisen zur Folge haben - aktuell in der Luftfahrtindustrie. Von einer weiteren Senkung der Massenarbeitslosigkeit - ein Ziel, an dem sich gerade die deutsche Bundesregierung messen lassen wollte - ist bereits keine Rede mehr.
Umgekehrt: in kürzester Zeit werden erhebliche Mittel für Militär und sogenannte innere Sicherheit freigegeben, was den Druck in allen sozialstaatlichen Ausgabenfeldern massiv erhöht. Auch das ist eine alte Erfahrung: Was der Sicherheitsstaat ausgibt, wird dem Sozialstaat genommen.
Es ist jedoch nicht nur die unmittelbare Interessenvertretung, die die Gewerkschaften neu herausfordert. Ihr politisches Mandat ist gefordert - gleich in mehrfacher Hinsicht: Als zivilgesellschaftliche Kraft gegen die Militarisierung der Außenpolitik, als rechtsstaatliche Kraft gegen die Ignorierung internationalen Rechts, als demokratische Kraft zur Verteidigung der innerstaatlichen Freiheitsrechte, als solidarische Kraft, die die "Schattenseiten" der Globalisierung nicht ausspart, nicht als unabänderlichen Sachzwang postuliert, sondern als politische, soziale und ökonomische Umgestaltungsaufgabe begreift.
Unsere Antwort muss also auch heißen: Die Ursachen von Terrorismus bekämpfen! Die Wurzeln der Gewalt und des Terrors liegen oft in Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit. Sie liegen in der Armut und Verelendung, den Brandmalen einer immer ungerechter werdenden Weltwirtschaftsordnung.
Das Einkommensgefälle zwischen armen und reichen Ländern hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt.
Die Arroganz, mit der der IWF und die Weltbank als Speerspitze der Interessen der entwickelten Industrieländer in vielen südamerikanischen, arabischen oder afrikanischen Ländern privatisiert und dereguliert haben, hat ein Ausmaß an Demütigung und Perspektivlosigkeit hinterlassen, das zunehmend Nährboden für den mörderischen und selbstmörderischen Terrorismus bereitet. Die Alternative Frieden heißt also auch langfristig: Kampf für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung.
Eine Schlussfolgerung für die Gewerkschaften heißt daher: Wir dürfen uns nicht mit Lohndumping und Sozialabbau auf eine weltweite Standortkonkurrenz einlassen, bei der die ärmsten Länder keinen Platz mehr haben.
Umgekehrt: Wir müssen in den reichen Ländern einen Sog nach oben erzeugen, der zulasten der Gewinne geht mit dem Ziel, wieder mehr Spielraum für andere Nationen, insbesondere aber eine Überlebenschance für die Menschen in den armen Ländern zu eröffnen!
In diesem Kampf für eine gerechtere Verteilung sehe ich eine große Herausforderung für die Gewerkschaften, ihren langfristigen Beitrag für Frieden und gegen Terrorismus. Dieser Herausforderung werden wir nur gerecht, wenn wir uns gerade jetzt nicht in politische, ethnische oder religiöse Gegensätze treiben lassen, sondern zusammenrücken.
Und wenn wir uns nicht in wirtschaftliche Gegensätze treiben lassen, sondern in einem grenzüberschreitenden Schulterschluss für die Sicherung und Verbesserung der Lebensverhältnisse in allen Ländern, insbesondere in den armen Ländern eintreten!
Überall, in den Medien, in den Parteien, in den Parlamenten, bei vielen unserer Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen in verantwortlichen Funktionen, ist derzeit ein großer Konformitätsdruck spürbar. Sobald Kritik geübt wird, ja oft allein dann, wenn kritische Fragen gestellt werden, handelt man sich schnell den Vorwurf mangelnder Solidarität mit den Opfern von New York oder den Vorwurf des Antiamerikanimus ein - wie es unlängst dem Publizisten Ulrich Wickert passiert ist.
Wir lassen uns unsere Trauer um die Opfer des 11. September und unsere Anteilnahme mit ihren Angehörigen nicht absprechen. Wir ziehen nur andere Schlussfolgerungen. Wir meinen: Es gibt andere Wege, den Terrorismus zu bekämpfen, als den sinnlosen Toden weitere sinnlose Tode folgen zu lassen!
Mutig ist die Erklärung von Eltern und Verwandten der in den Trümmern des World Trade Center Begrabenen, die sich nicht für Rache, sondern für Vernunft aussprechen, indem sie den amerikanischen Präsidenten beschwören, nicht im Namen ihrer Kinder, Männer oder Frauen Vergeltung zu üben.
Wir lesen, hören und sehen zu wenig über die großen Friedenskundgebungen in den USA. Die Stimmung ist sehr unterschiedlich aber nicht so eindeutig, wie viele uns glauben machen wollen.
Auch bei uns in den gewerkschaftlichen Gliederungen wächst der Protest gegen den Krieg in Afghanistan, weil die Überzeugung wächst, dass damit der Terror nicht sinnvoll bekämpft werden kann. Es ist insbesondere die Jugend - und das stimmt mich hoffnungsvoll - die in diesen Tagen weltweit auf die Straße geht und gegen Terrorismus und Krieg demonstriert.
Ich war überrascht über die Erklärung vom 11. September aus New York ("Statement an September 11") von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen mit vielen prominenten Namen, die sich gegen Krieg aussprechen und "Gerechtigkeit statt Vergeltung" fordern. Und vor wenigen Tagen hat sich die große südafrikanische Gewerkschaft COSATU zu Wort gemeldet, den Krieg in Afghanistan verurteilt und eine Stärkung des Gewaltmonopols der UNO gefordert! Die Demokraten in Südafrika wissen, wovon sie reden. 1994 hat jeder in der Welt den Bürgerkrieg in Südafrika erwartet. Rache der jahrhundertelang unterdrückten, entrechteten und ausgebeuteten schwarzen Bevölkerung an den Weißen. Es ist dem Mut und der Größe, der Besonnenheit und dem unbezwingbaren Friedenswillen Nelson Mandelas zu verdanken, dass Südafrika Perspektiven für Demokratie und Frieden gewinnen konnte.
Der Präsident der parlamentarischen Versammlung des Europarates, Lord Russel-Johnston fordert, dass schnell und mit aller Entschiedenheit auf die Terroristen reagiert wird. Der Europarat plädiert auch für das Recht, so erforderlich, Gewalt anzuwenden. Er lehnt jedoch unverhältnismäßige und willkürliche Gewaltmaßnahmen ab. Wir pflichten ihm bei, wenn er sagt "Wenn wir angesichts der terroristischen Bedrohung unsere Humanität aufgeben, haben die Terroristen ihren Kampf schon gewonnen."
Es geht aber darum, den Frieden zu gewinnen! "Den Krieg gegen Afghanistan zu gewinnen mag sich als einfach erweisen. Wenn aber diese Welt wirklich sicher werden soll, müssen wir den Frieden gewinnen. Auf dem Weg dahin müssen wir vorsichtig sein mit dem, was wir tun, aber auch mit dem was wir sagen." (FAZ 10.10.2001)
Darum geht es der Friedensbewegung und der Gewerkschaftsbewegung heute: Tun wir alles, um den Frieden zu gewinnen!
Jürgen Grässlin, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK):
Vor vier Wochen haben wir den Angehörigen der Verletzten und Toten in
den
USA unser herzliches Beileid bekundet. Die US-Regierung allerdings muss
sich
fragen lassen, ob es Zufall ist, dass gerade das World Trade Center und
das
Pentagon als die Symbole wirtschaftlicher und militärischen
Machtmissbrauchs
Ziel dieser Terroranschläge geworden sind. Seit Jahrzehnten haben die
USA mit
militärischen und monetären Mitteln Demokratien gestürzt, Diktaturen
installiert, Städte und Staaten bombardiert - Hiroshima und Nagasaki in
Japan, Vietnam,
Chile, Nicaragua, Irak, Libyen, um nur einige Beispiele von vielen zu
nennen.
Wieder und wieder haben sie Menschen- und Völkerrecht mit Füßen
getreten und
Verurteilungen durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag
schlichtweg
ignoriert. Friedensforscher belegen, dass nach dem zweiten Weltkrieg
Hunderttausende von Menschen Opfer von US-Militärschlägen geworden
sind. Heute
müssen sich die Regierungen westlicher Demokratien fragen lassen: Wo
blieb ihr
Aufschrei gegen diese Formen von Menschenrechtsverletzungen? Und wie
kann man
angesichts dieser Politik von einem völlig unerklärlichen Schlag gegen
die
gesamte "zivilisierte Welt" sprechen?
Wir - die Friedens- und Menschenrechtsbewegung - betonen, dass wir jede
Form
von Gewaltanwendung - den brutalen Terroranschlag auf Washington und
New
York wie auch die Interventionspolitik der USA – zutiefst
ablehnen.
Terror, gleichwohl gegen wen er sich richtet, zählt zu den schlimmsten
Verbrechen.
Seit dem 7. Oktober müssen wir auch den Angehörigen der Verletzten und
Toten
in Afghanistan unser herzliches Beileid bekunden. Und wir müssen uns
eingestehen, dass es uns nicht gelungen ist, die Regierungen der
"Allianz
gegen Terror" davon abzubringen, Rache und Vergeltung üben zu
wollen.
Denn genau das geschieht, wenn in diesen Tagen Cruise Missiles auf
Menschen
in Afghanistan abgeschossen werden. Sie tragen die Aufschrift
"NYDP" und damit den Hinweis der Vergeltung für die Opfer
des Terroranschlags in
New York. Damit nicht genug: Mittlerweile ist auch bewiesen, dass die
US-Army eine der grausamsten Waffen in Afghanistan einsetzt: In
Kanistern werden
Streubomben abgeworfen, die sich über dem Boden öffnen und Dutzende von
Sprengkörpern freisetzen.
Vier UNO-Mitarbeiter haben die Nachricht nicht erlebt, dass die
Vereinten
Nationen mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden.
Sie
zählen zu den ersten Opfern des Bombardements auf Kabul. Ebenso 160
Zivilistinnen
und Zivilisten, die in einem kleinen Ort nahe Dschalabad durch
US-Angriffe
getötet worden sind und 28 Zivilisten, die in der vierten Kriegsnacht
in
Kandahar den Bombentod gestorben sind. Werden die Bombardements nicht
gestoppt, so
werden viele weitere Unschuldige ihr Leben lassen. Wer glaubt noch die
Mär
von klinisch genauen Schlägen, wenn bereits in den ersten Kriegstagen
ein
UNO-Gebäude, eine Moschee, vielzählige Wohnhäuser in den Städten, sogar
ein
ganzes Dorf in Schutt und Asche gelegt werden?
Die wenigsten dieser Meldungen über diese so genannten
"Kollateralschäden" erreichen die breite Öffentlichkeit in
der westlichen Welt. In
Afghanistan kontrolliert und manipuliert das Taliban-Regime die Medien.
Zu Recht
urteilte Angelika Beer: "Das erste, was stirbt, ist die
Wahrheit..." Allerdings ergänzte die verteidigungspolitische
Sprecherin der
Bundestagsfraktion der GRÜNEN im gleichen Satz: "... was an
diesem Punkt
vertretbar ist."
Was ist an diesem Punkt vertretbar? Dass wir - wie schon im 2.
Golfkrieg und
im Krieg gegen Serbien - von US-Sendern, wie CNN, klinisch genau
zelebrierte
Bombenangriffe vorgegaukelt bekommen haben, deren Begrenztheit sich
anschließend als reine Kriegspropaganda herausgestellt hat? Dass unsere
Bundesregierung - SPD und GRÜNE - Militäreinsätze der US-Army und der
britischen
Streitkräfte nicht nur hinnimmt, sondern diese ausdrücklich gut heißt?
Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seitdem führende Repräsentantinnen
und
Repräsentanten von Bündnis 90/DIE GRÜNEN mit uns gegen Militäreinsätze
demonstriert haben. Heute stellt die Partei den Außenminister. Joschka
Fischer wird
nicht müde, George Bush und Donald Rumsfeld seine
"uneingeschränkte
Solidarität" zuzusagen - trotz des Beschusses von Städten und
Dörfern in
Afghanistan mit Cruise Missiles und Streubomben. Auch der
GRÜNEN-Bundesvorstand
und die -Bundestagsfraktion stehen - abgesehen von vereinzelten
kritischen
Stimmen - in unterwürfiger Vasallentreue zum Kriegseinsatz der US-Army.
Am heutigen Tag diskutieren die baden-württembergischen Kreisvorstände
im
Stuttgarter "Haus der Wirtschaft" - wie symptomatisch - ein
neues
Grundsatzprogramm. Man muss kein Wahrsager sein, um zu prophezeien,
dass darin
erstmals im GRÜNEN-Programm Kampfeinsätze der Bundeswehr legitimiert
werden.
Damit wird der letzte Schritt der GRÜNEN in die große
SPD-FDP-CDU-CSU-Kriegskoalition vollzogen sein. Längst sind die GRÜNEN
zum Mehrheitsbeschaffer der
Schröderschen Militärpolitik verkommen - und in der Parteienlandschaft
damit
austauschbar und ersetzbar geworden. Seitdem sie Regierungspartei sind,
hat
die Führungsspitze der Partei das Prinzip der Gewaltfreiheit
pervertiert - und
die GRÜNEN überflüssig gemacht.
Nichts desto trotz: Heute sind auch friedensbewegte GRÜNEN- und
SPD-Basismitglieder unter uns. Euch, liebe Friedensfreundinnen und
-freunde, möchte ich
ausdrücklich bei uns begrüßen. Ihr bringt das Rückgrat auf, offen den
Kriegstrommlern in den Reihen der GRÜNEN, FDP, Christ- und
Sozialdemokraten zu
widersprechen - und dazu möchte ich Euch in den nächsten Wochen dieses
Krieges
ausdrücklich ermuntern.
Gregor Gysi hat auf dem letzten Bundesparteitag die Unterstützung der
PDS
für kommende Militärseinsätze nicht länger ausgeschlossen. In Berlin
ist
Wahlkampfzeit, Gysi bewirbt sich auf den Posten des Regierenden
Bürgermeisters.
Wir, die Friedens- und Menschenrechtsbewegung - werden auch die
friedenspolitische Entwicklung sehr genau beobachten. Ich wünsche mir,
dass nicht auch noch
die PDS ihre pazifistische Position auf der Schlachtbank der
Regierungsfähigkeit opfert.
Während wir hier über bundesdeutsche Parteipolitik reden, werden über
Afghanistan Bomben auf Militäranlagen, Ausbildungslager von
Terroristen, aber auch
auf zivile Einrichtungen in Dörfern und Städten abgeworfen.
Ich empfinde Angst, wenn ich mir die Folgen dieser Politik ausmale.
Hunderttausende aufgebrachter Moslems haben gestern in Pakistan,
Indien, Sri Lanka,
Bangladesh, Kenia und dem Libanon demonstriert. In Karatschi haben
Sicherheitskräfte das Feuer auf die Demonstranten eröffnet. Die Gefahr
eines
Flächenbrandes ist immens. Was ist, wenn aufgebrachte Taliban-Anhänger
die pakistanische
Regierung in Islamabad stürzen und den Zugriff zur Atombombe erhalten?
Heute empfinden wir Wut und Trauer.
Wut und Trauer darüber, dass unseren Politikern wieder einmal nichts
Besseres einfällt, als an der Eskalationsschraube zu drehen und Gewalt
mit
Gegengewalt zu beantworten.
Wut und Trauer darüber, dass Zivilistinnen und Zivilisten dafür büßen
müssen, dass islamistische Terroristen und westliche Großmächte ihr
grausames
Machtgehabe auf dem Rücken Unschuldiger austragen.
Wut und Trauer darüber, dass sich Staaten wie die Russland und China im
Schatten dieses Krieges von ihrem Unterdrückungsterror gegen die
Menschen in
Tschetschenien und der Autonomen Region Tibet reinwaschen können.
Wut und Trauer über die Doppelmoral, dass aber der israelische Terror
gegen
die weit überwiegende Zahl friedliebender Palästinenser stillschweigend
geduldet und gegen den Westen gerichteter Terror mit militärischer
Vergeltung
beantwortet wird.
Wut und Trauer darüber, dass Osama bin Laden in geistiger Verblendung
und
religiösem Wahn zum "Heiligen Krieg" aufruft.
Wut und Trauer, wenn George W. Bush die afghanische Regierung mit
folgenden
Worten verhöhnt: "Wenn ihr ihn", gemeint ist bin Laden,
"ausspuckt, werden wir uns noch einmal überlegen, was wir mit
eurem Land
machen."
Wut und Trauer darüber, dass Streubomben, Cruise Missiles und
B52-Bomber -
bereits im Vietnamkrieg zu Flächenbombardements eingesetzt - in diesem
Augenblick ihr mörderisches Werk in Afghanistan verrichten.
Wut und Trauer darüber, dass die "Allianz gegen den Terror"
ohne
ein rechtlich verbindliches UN-Mandat Krieg führt.
Wut und Trauer darüber, dass die Aktienkurse von US-Rüstungskonzernen
mit
dem Krieg drastisch steigen und deren Aktienbesitzer zu den Profiteuren
dieses
Krieges zählen.
Wut und Trauer darüber, dass 40 Milliarden Dollar in diesem Krieg
verpulvert
werden, anstatt mit ihnen sinnvolle Programme zur Beseitigung des
Hungers,
von Krankheiten und für mehr Bildung in die Wege zu leiten.
Wut und Trauer darüber, dass Millionen von Menschen vor dem Einsatz von
Bomben und Raketen fliehen müssen, die in Rüstungsbetrieben der so
genannten
"zivilisierten Welt" produziert worden sind.
Aber auch Wut und Trauer über die innenpolitische Entwicklung:
Darüber,
dass
die Bundesregierung - allen voran Bundesinnenminister Otto Schily - in
dieser Situation demokratisch errungene Freiheits- und Bürgerrechte in
Deutschland
rücksichtslos aushebelt und einen Überwachungsstaat nie gekannten
Ausmaßes
installiert.
Wut und Trauer darüber, dass auch die Stuttgarter Behörden
innerstaatliche
Freiheitsrechte aushebeln, indem sie die Sicherheitsbereiche, die nicht
betreten werden dürfen, um die Kelly-Barracks, die
Daimler-Chrysler-Zentrale und
die US-Kommandozentrale EUCOM ausdehnen. Mit diesen Maßnahmen soll in
erster
Linie nicht Schutzaspekten Rechnung getragen werden, sondern die
"Arbeitsfähigkeit" der EUCOM-Zentrale erhalten bleiben, so
Alfons Nastold,
Abteilungsleiter beim Stuttgarter Ordnungsamt.
"Arbeitsfähigkeit"
heißt in diesem Fall "Kriegsführung" von deutschem Boden
aus.
"Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt, wo man so sehr fühlen
kann,
was jetzt sein muss", hat Gerhard Schröder in Manhattan, dem Ort
des
Grauens, verkündet. Angesichts des schrecklichen Todes von mehr als
6000
Menschen sind derartige Gefühlsausbrüche nachvollziehbar. Keinem von
uns würde es
anders ergehen. Warum aber besucht Gerhard Schröder jetzt nicht auch
Flüchtlingslager in Pakistan und Afghanistan? Dort vegetieren
Hunderttausende Menschen
in Verhältnissen, die wir nicht einmal unseren Haustieren zumuten
würden.
Und dennoch leben diese Flüchtlinge in größerer Sicherheit als ihre
Leidensgenossen in Afghanistan. Denn Millionen von ihnen schleppen sich
bis zur
pakistanischen und iranischen Grenze. Dort werden die notleidenden
Menschen von
Soldaten mit Kalashnikov- und G3-Gewehren abgefangen. Letztere werden
seit
Jahren im Iran und in Pakistan in deutscher Lizenz der Oberndorfer
Waffenschmiede
Heckler & Koch gefertigt und sind das Standardgewehr der iranischen und
pakistanischen Armee. Einmal mehr holt uns die Vergangenheit einer
skrupellosen
Rüstungsexportpolitik unter der Regierung Kohl, Genscher und ihrer
Vorgänger
ein. Unter Rot-Grün aber hat sich der Umfang der Rüstungsexporte
verdoppelt.
Mit Humanität und Wahrung von Menschenrechten hat diese Politik nichts
zu tun.
Die Regierungen der USA und Deutschlands - insbesondere auch Gerhard
Schröder, Joschka Fischer und Rudolf Scharping - haben den
Kosovo-Kampfeinsatz und
die Bombardierung serbischer Städte mit dem Schutz kosovarischer
Flüchtlinge
gerechtfertigt. Diesmal sind es die - von der Rot-Grünen
Regierungsvertretern
- legitimierten US-Bomben, die Millionen von Menschen zur Flucht
zwingen und
zeigen, wie sehr die Menschenrechtsfrage auch von der Bundesregierung
instrumentalisiert wird.
Die Vereinten Nationen warnen vor einem Flüchtlingsdrama schier
unvorstellbaren Ausmaßes: Millionen Menschen fliehen auf Grund der
Folgen des jahrelangen
Bürgerkriegs, auf Grund der Folgen einer drei Jahre währenden Dürre,
vor
allem aber aus Angst vor den US-Angriffen aus ihrer Heimat. Sie fliehen
aus den
Städten ins dürre Land, wo sie nicht nur eine karge Vegetation und der
extrem
kalte Winter erwarten, sondern riesige Minenfelder. Kein Land der Welt
ist
derart minenverseucht wie Afghanistan. In den kommenden Monaten werden
Tausende von Menschen - allen voran Kinder und Frauen - ihre Gliedmaßen
verlieren.
Was diese Menschen brauchen, sind Prothesen statt Cruise Missiles und
Streubomben!
Mehr als eine Million Menschen wird in den kommenden Wochen versuchen,
Afghanistan zu verlassen. Laut UNO-Welternährungsorganisation WFP sind
sieben
Millionen Menschen von Nahrungsmittellieferungen abhängig. Im Wissen um
diese
Tatsachen ist die Aussage von Donald Rumsfeld unredlich, wonach
diejenigen
Menschen froh sein sollen, die eines der 37.500 CARE-Pakete finden -
wohlgemerkt
mit US-Symbolen und Radiosendern. Bomben und Brot zugleich abzuwerfen,
ist
makaber. Brot als Waffe im Medienkrieg zu benutzen, das ist zynisch -
Herr Bush,
Herr Schröder, Herr Fischer: Viel effektiver und vor allem humaner
wären ein
sofortiger Stopp des Bombardements und die massenhafte Lieferung von
Lebensmitteln auf dem Landweg und von Prothesen für die unzähligen
Minenopfer.
Vorgestern hat DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp verkündet, dass
sein
Unternehmen 500 Kinder und Jugendliche nach Deutschland einladen wird,
die bei
den Terroranschlägen gegen die USA einen Elternteil verloren haben.
Denn
"diese Kinder sollen erkennen, dass wir ihnen auch Liebe
entgegenbringen." Ich würde mich freuen, wenn Sie, Herr Schrempp,
ihren Liebesbeweis auf
alle Kinder in der Welt ausdehnen würden, die einen Elternteil oder
beide
Eltern durch den tödlichen Einsatz von Daimler-Waffen verloren haben.
Oder kann
es sein, dass Sie, Herr Schrempp, als Vorstandsvorsitzender des größten
deutschen Rüstungsproduzenten und -exporteurs einzig das Wohl
amerikanischer
Waisenkinder im Blickfeld haben, nicht aber das der Opfer von
Daimler-Waffen?
Unmissverständlich hat Jack Welch - bekanntermaßen das leuchtende
Vorbild
des DaimlerChrysler-Chefs an der Spitze des US-Konzerns General
Electric -
verkündet: "Es geht um den Kampf der Zivilisation". Ich
glaube, es
geht eher um den Kampf von Arm gegen Reich, den Kampf von Mächtigen und
Ohnmächtigen und um die Wahrung unseres Lebensstandards. Denn dieser
basiert - das
müssen wir uns heute mehr denn je eingestehen - auf Kosten von mehr als
einer
Milliarde Menschen in Staaten der so genannten "Dritten
Welt".
Afghanistan ist einer der ärmsten Länder der Welt. Bereits vor den
US-Angriffen gab es nur wenige intakte Häuser in diesem vom Bürgerkrieg
geschundenen
Land. In einigen Wochen wird in Afghanistan kaum mehr ein Haus stehen.
Und für
eine weitere Generation von Menschen neuer Hass gegen die
"zivilisierte Welt" gesät sein.
Wenn die USA - wie am 11. September geschehen - von Terroristen
angegriffen
wird, dann muss die gesamte "zivilisierte Welt" reagieren.
Bei
all ihren Reaktionen aber muss sie Verhältnismäßigkeit abwägen und
rechtsstaatliche Mittel einsetzen.
Osama bin Laden und seine Schergen gehören vor ein internationales
Gericht
gestellt, gehören angeklagt und, im Falle ihrer Schuld, zu lebenslanger
Haft
verurteilt. Rache und Vergeltung sind einer "zivilisierten
Welt"
unwürdig. Warum aber hat die USA nicht einmal ein Strafverfahren gegen
bin
Laden vor einem US-Gericht in New York oder Washington eingeleitet?
Warum werden
die Beweise, die es gegen bin Laden geben soll, nicht der
Weltöffentlichkeit
vorgelegt?
Gewalt ist nicht mit Gegengewalt wegzubomben - weder die Gewalt von
Terroristen, noch die Gewalt "unserer" Militärmaschinerie.
Terroristen
sind mit Bomben nicht zu besiegen. Im Gegenteil: Neue Märtyrer werden
in
Selbstmordkommandos ihren Hass um die Welt tragen.
Wer will, dass islamistische Terroristen ausgeliefert werden, muss um
Verbündete in der arabischen Welt werben, die ihrerseits politischen
und
wirtschaftlichen Druck ausüben. Wer will, dass der Terror nicht mit
Gegenterror
beantwortet wird, muss die Charta der Vereinten Nationen achten. Wer
tatsächlich
Frieden schaffen und nicht Rache üben will, muss sofort die
Militärschläge
beenden, muss sämtliche zivilen Mittel einsetzen und das internationale
Völkerrecht wahren, muss vor allem zum Dialog bereit sein. Wer den
Terror aus der Welt
schaffen will, muss eine gerechte Weltwirtschaftsordnung verwirklichen.
Wir fordern, dass Konflikte ohne Krieg gelöst werden, dass
Vergeltungsschläge und Krieg gestoppt werden, dass die Bundeswehr weder
direkt noch indirekt -
auch nicht in AWACS-Überwachungsflugzeugen - zum Einsatz kommt, dass
die
Täter mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt und verurteilt werden,
dass
Freiheits- und Grundrechte auch in Deutschland erhalten bleiben und
dass
Ausländer/innen bei uns in Frieden leben können.
Lasst uns dem Kampf der Kulturen und Religionen eine Kultur des Dialogs
und
des Friedens entgegensetzen - und nicht Terror und Krieg.
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