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Nicht auf dem Rücken der Schwächeren

Christoph Scherrer über die Rolle der Gewerkschaften und der Politik in der Krise

Christoph Scherrer ist Professor für Globalisierung und Politik an der Universität Kassel und der Global Labour University. Beim Kapitalismus-Kongress des DGB wird er mit im Eröffnungsplenum am heutigen Donnerstag diskutieren. Mit ihm sprach Ina Beyer für das "Neue Deutschland". Wir dokumentieren im Folgenden das Interview.



ND: Was ist die Aufgabe der Gewerkschaften in der derzeitigen Krise?

Scherrer: In der Krise ist die Versuchung sehr groß, in die Taschen der Lohnabhängigen zu greifen. Die Gewerkschaften müssen dagegen Untergrenzen setzen, so dass sich dieser Griff in möglichst engen Grenzen hält. Zum anderen müssen sie sich im Interesse ihrer Mitglieder an der politischen Debatte darüber, wie ein künftiges Wirtschaften aussehen kann, mit eigenen Ideen beteiligen.

Dabei ist zu beachten, dass auch Teile der Sozialdemokratie, insbesondere der Schröder-Flügel, die derzeitige Misere mitzuverantworten haben. Wichtige Gesetze zur Liberalisierung der Finanzmärkte wurden ja unter der Regie von Schröder damals noch unter Rot-Grün verabschiedet - immer mit der Begründung, »die anderen machen das ja auch«.

Es ist kaum zu erwarten, dass gerade diese Leute konstruktive Ideen haben, wie man zukünftige Krisen vermeiden kann.

Der Staat übernimmt derzeit die Risiken der Banken, nach Ansicht der Politik soll er sich nach der Krise aber wieder aus dem Bankensektor zurückziehen. Kann es ein »Weiter so« geben?

Im Gegenteil: Schärfere Regulationen sind absolut notwendig. Es muss - auch mit Gesetzen - sichergestellt werden, dass das Bankenkapital dort eingesetzt wird, wo es in der Wirtschaft gebraucht wird - also zur Vergabe von Krediten und nicht für unproduktive Spekulationen. Die Aufsicht über das Bankenwesen muss verschärft und ausgebaut werden. Beispielsweise bedarf es im Bereich des Derivate-Handels eines erheblichen Maßes an zusätzlicher Regulierung. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stieglitz, hat vorgeschlagen, einen Ausschuss zu bilden, der prüft, welche neuen Produkte der Banken verkauft werden dürfen. Statt starrer Verbote sind so dynamische Regelungen möglich, denn Innovation wird es im Bankenwesen immer geben. Geprüft werden kann aber, ob es sich um tatsächliche Innovationen handelt oder ob sie nur darauf abzielen, Regulationen zu umgehen.

Zugleich muss die Politik aber auch selber wieder transparenter werden. Denn gerade auch einige der Staatsbanken hatten sich besonders in den Spekulationen engagiert. Dort hat die politische Aufsicht völlig versagt. Es muss möglich sein, die Verantwortlichen stärker zur Rechenschaft zu ziehen.

Ist tatsächlich zu erwarten, dass durch die von der Bundesregierung verabschiedeten Konjunkturpakete die wirtschaftliche Talfahrt abgemildert wird?

Im Allgemeinen werden die Pakete als recht zögerlich angesehen. Problematisch ist aber vor allem, dass dabei zu kleinteilig gedacht wird. Deutschland hat auch eine Verantwortung innerhalb Europas. Die deutschen Unternehmen haben ihre europäischen Konkurrenten in den vergangenen Jahren ziemlich an den Rand gedrückt. Die Lohnkosten stiegen hierzulande in geringerem Maße als die Produktivität. Dadurch erhöhte sich die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zwar stark. Dies ging aber zu Lasten der Binnennachfrage und der europäischen Konkurrenz.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die anderen Länder auf Dauer akzeptieren, dass sich die deutsche Wirtschaft innerhalb der Eurozone so stark ausbreitet. Zur Rettung Europas muss Deutschland daher einen höheren konjunkturellenBeitrag leisten, der auch für die anderen Staaten spürbar ist.

Was erwarten Sie vom Kapitalismus-Kongress des DGB?

Zunächst geht es um ein gegenseitiges Kennenlernen und ein Ausloten gemeinsamer Positionen, wie man der Plünderung der Staatskassen - und das sind im Grunde ja die Geldbeutel der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen - entgegengewiren kann. Daraus müssen gemeinsame Forderungen entwickelt werden, die langfristig verfolgt werden können.

Im Grunde geht es darum zu verhindern, dass die Krisenlasten auf die Schwächeren in dieser Gesellschaft abgewälzt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2009


Hier geht es zum Aufruf des DGB zur Demo am 16. Mai sowie zu einer Stellungnahme aus der Friedensbewegung: "Die Krise bekämpfen"



Kritik an DGB-Führung

Das Erwerbslosen Forum Deutschland kritisierte am Dienstag (12. Mai) in einer Presseerklärung die DGB-Führung wegen eines gemeinsam mit der SPD verabschiedeten Positionspapiers: **

»Am 16. Mai rufen die Gewerkschaften Arbeitnehmer und andere Gruppen zu einer Großdemo auf, die sich gegen die Sozial- und Wirtschaftspolitik richtet. Dabei scheint für den Schröder-Freund Michael Sommer in Vergessenheit geraten zu sein, daß ausgerechnet die SPD in Deutschland maßgeblich die jetzige Misere in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu verantworten hat. (...)«, sagte Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland.

Der DGB-Bundesvorstand hat am 5. Mai 2009 ein »Gemeinsames Positionspapier von SPD und DGB« für ein Europa des sozialen Fortschritts beschlossen. Darin heißt es auf Seite sieben: »Die Sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament unter Führung des SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Martin Schulz, wird die Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten und der übrigen Kommissionsmitglieder davon abhängig machen, daß diese sich in einer solchen Vereinbarung von Kommission, Rat und Parlament zur Sicherstellung des sozialen Fortschritts in Europa bekennen.« und weiter: »Als SPD-Kandidat für die Position des deutschen EU-Kommissars in der neuen Kommission wird Martin Schulz im Falle seiner Ernennung als Kommissar diese Forderungen auch mit Nachdruck in die praktische Politik der Europäischen Kommission einbringen.«

Der DGB-Bundesvorstand verletzt damit die parteipolitische Neutralität des DGB, da er sich mit diesen Formulierungen und dem gesamten Kontext dieses Positionspapiers einseitig zugunsten der SPD in den Europawahlkampf einmischt. Es entsteht der Eindruck, daß auf diese Weise auch die Großdemonstration am 16. Mai in Berlin für den Wahlkampf zugunsten nur einer Partei, der SPD, instrumentalisiert wird.

Die Sozialdemokraten in Europa und insbesondere die SPD waren die führende Kraft zur Verabschiedung und Umsetzung der Agenda-Politik, die unter anderem zu den jetzigen Folgen der Wirtschaftskrise geführt haben. Von dieser Politik hat die SPD keineswegs Abstand genommen, sondern diese im Gegenteil im Rahmen der großen Koalition weiterverfolgt. (...)

Dennoch sollten jetzt erst recht viele Menschen an der Großdemonstration am 16. Mai teilnehmen und der DGB-Führung deutlich machen, daß sie nicht für den "Fortschritt des sozialen Fortschritts« im Sinne des SPD-Mitglieds Michael Sommer demonstrieren, sondern für ein wirkliches »Soziales Europa« eintreten, was konträr zur SPD-Politik steht. »Wir fordern die Menschen auf, nach Berlin zu kommen und sich den oppositionellen Blöcken anzuschließen, die sich deutlich von der DGB-Spitze abgrenzen. So bieten zahlreiche Erwerbsloseninitiativen und andere Gruppen der sozialen Bewegung einen Triaden-Demonstrationsblock an, der 500 Euro Eckregelsatz bei Hartz IV, 30 Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich und einen Mindestlohn bei zehn Euro (steuerfrei) fordert. Nur wenn Gewerkschaftsmitglieder und andere Menschen ihre eigenen Positionen deutlich machen, müssen sich das Kapital und dessen Helfer in der großen Koalition Sorgen um 'soziale Unruhen' machen«, so Behrsing in Bonn.

** Aus: junge Welt, 14. Mai 2009


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