"Als braver Beamter und verantwortungsvoller Wissenschaftler...
... musste ich die Anzeige ("Wir wollen Ihre Kriege nicht, Herr Präsident") unterzeichnen"
Nachfolgende Zeilen von Prof. Dr. Aris Christidis vom 19. August 2002, die u.a. als Leserbrief an die Frankfurter Rundschau gedacht sind, veröffentlichen wir mit unverhohlenem Vergnügen. Der Groll über die Frankfurter Rundschau, die im Mai eine bezahlte Zeitungsanzeige der Friedensbewegung mit fadenscheinigen "Argumenten" ablehnte, sitzt bei vielen Unterzeichnern heute noch tief. Alles, was damals in dem Anzeigentext formuliert war, erweist sich auch heute noch als stichhaltig und mit großem Interesse konnte in der Zwischenzeit so mancher Leitartikel und Kommentar in der FR gelesen werden, der ähnlich, teilweise mit noch viel drastischeren Vokabeln die Kritik an der Politik des US-Präsidenten transportiert. Wir sind gespannt, ob der Leserbrief von Christidis abgedruckt wird.
Sehr geehrte Damen und Herren,
daß die FR für das Fach Informatik nicht zur Fachliteratur gehört, ist
bereits vielen bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, daß es
Hochschulveranstaltungen für Informatik gibt, in denen die FR ihre
regelmäßige (wenngleich nicht notorisch- häufige) Erwähnung findet.
Schließlich gibt es Kapitel wie 'informationelle Selbstbestimmung',
'Datenschutz', 'Rasterfahndung' - kurz: aktuelle, historische,
soziopolitische Aspekte, die in der seriösen Tagespresse und ihren
Dokumentationen (zumal im Internet) aktueller -und für die Studierenden
angenehmer- behandelt werden.
Ich kenne deshalb mindestens einen "Hochschulveranstalter", der "die FR"
(für Erstsemester in liebevoll ausgesprochener Version, "zum
Mitschreiben") schon mal gerne zitiert und als Lektüre dort empfiehlt,
wo es die Situation - erfordert: Als braver Beamter und
verantwortungsvoller Wissenschaftler erlaube ich mir nur wenn
erforderlich, persönliche, über Jahrzehnte gewachsene Sympathien in die
Vermittlung akademischer Erkenntnis zu integrieren.
Als braver Beamter und verantwortungsvoller Wissenschaftler hatte ich es
auch für zwingend erforderlich gehalten, meine Unterschrift unter den
Anzeige-Entwurf für den 22. Mai ("Wir wollen Ihre Kriege nicht, Herr
Präsident ...") zu setzen - zumal es m.E. darum ging, die eigene,
ansonsten nur im Hörsaal hörbare Stimme zu erheben - gewissermaßen als
Akt uneingeschränkter Solidarität mit allen Völkern und Vaterländern
dieser Erde. Diese Entscheidung war nicht unabhängig von der Tatsache,
daß die Anzeige in "meiner FR" erscheinen sollte - auf, daß auch die
(von mir hoffentlich zur Lektüre animierten) Studierenden ein
unangekündigtes Beispiel für uneingeschränkte Geradlinigkeit und
Seriosität in der Hochschule und in der Presse finden mögen.
Zu jenem Zeitpunkt war vermutlich der Ausgang dieser Angelegenheit Ihren
Verlegern klar; für mich sollte es noch über einen Monat dauern: Reisen
und der "fachtypische Workload" verhinderten, daß ich am 22.05.02 eine
FR zu sehen bekam (frühere Enttäuschungen haben mich vom Automatismus
eines Abonnements abgebracht). Wochen später bat ich gleichgesinnte
Kollegen und Nachbarn um eine Kopie der vermeintlich verpaßten Anzeige.
Das versuchte ich gleich mehrmals hintereinander - evtl. konditioniert
durch die Auseinandersetzung mit Microsoft-Produkten: Vielleicht nützt
ein neuer Start, vielleicht habe ich ja das letzte Mal falsch angesetzt
(hier: nach falscher Rubrik, falschem Datum gefragt etc.). Die traurige
Gewißheit fand ich erst bei den Initiatoren.
Meine Reaktion war zunächst - gar keine: stumme Sprachlosigkeit. Der
Spruch der 70er kam mir ins Gedächtnis: "Gleich-schalten oder später?" -
verbunden mit den Fragen: Hat es jetzt also auch die (mit Distanz
inzwischen ausgesprochene:) FRANKFURTER RUNDSCHAU ereilt? Und was
bekommt sie für die Kollaboration? Und wer muß für ihren Sold aufkommen?
Nach Abschluß der beruflich initiierten Reisen und Antritt einer kurzen
Urlaubsreise konnte ich meine Gedanken etwas freier herumschweifen
lassen. Da fiel mir zunächst ein, daß ich seit meiner primären
politischen Sozialisation vor 30 Jahren nicht nur (in den frühen 80ern
bzw. den späten 90ern) zwei kleine Parteien erlebt habe, die im Kampf um
Nähe zu den Mächtigen sich um nahezu jede Glaubwürdigkeit gebracht
haben. Ich habe vielmehr und aus nächster Nähe auch den Untergang
beruflicher Arbeitsgruppen, ganzer Abteilungen, einzelner Unternehmen,
ja in einem Fall eines ganzen Konzerns erlebt, die auf der Jagd nach dem
angeblichen Profit (nach "neuer Klientel", "Trends" etc.) den
geradlinigen Weg der Produktentwicklung als Anwendung wissenschaftlicher
Erkenntnisse verlassen hatten. Ob der Schaden durch Handeln wider
besseres Wissen und Gewissen als Parallele anzusehen wäre, die neben der
Politik und der industriellen Entwicklung auch auf die Presse anwendbar
wäre?
Da ich sozialwissenschaftliche und wirtschaftspolitische Fragestellungen
zwar als Zusatzstudien, nicht aber als Forschungsgebiete betrieben habe,
habe ich die weitere Auseinadersetzung mit dieser Frage zurückgestellt,
zumal inzwischen die zeitliche Distanz zum 22.05.02 gewachsen war - bis
vor einer Woche: Eine weitere Reise gab mir die Gelegenheit, eine
aktuelle Wirtschaftssendung im Rundfunk zu verfolgen. Da wurde die
"Frankfurter Rundschau" als weniger lukrativer Wirtschaftsfaktor
angesehen (sinngemäß, die exakte Formulierung war weniger vorteilhaft).
Obwohl eine wissenschaftliche Untersuchung (und hoffentlich
Falsifikation!) meiner damit verbundenen Assoziationen nicht so bald zu
erwarten ist, könnten diese Gedankengänge auch für Sie von Interesse
sein - positiv oder negativ: Schließlich haben nicht nur
Microsoft-Produkte bewiesen, daß Unternehmen auch ohne ein Übermaß an
Kompetenz und Ehrlichkeit florieren können (nicht zuletzt im
Blätterwald). Sie können sich gewiß auch der Auseinandersetzung mit
meiner Arbeitshypothese verweigern, ohne mit irgendwelchen Reaktionen
rechnen zu müssen - anders als am 22.05.02!
Schade!
Mit Wünschen für nutzbringende Entscheidungen
A. Christidis
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