"Die Fremdherrschaft ist der Nährboden, auf dem der afghanische Widerstand wächst"
Friedensbewegung schreibt Offenen Brief an den SPD-Parteitag - Im Wortlaut
Die öffentliche Auseinandersetzung um die Bundeswehreinsätze in Afghanistan geht weiter - auch nach der Entscheidung des Bundestags vom 12. Oktober 2007, das ISAF-Mandat (einschließlich Tornado-Einsatz) um ein weiteres Jahr zu verlängern (siehe hierzu: "Der Bundestag debattierte über die Verlängerung ..."). Immerhin beschäftigte das Afghanistan-Engagement zwei Parteitage: den Sonderparteitag der GRÜNEN am 15. September in Göttingen und den Parteitag der SPD vom 26. bis 28. Oktober in Hamburg. An die Delegierten beider Parteitage wandte sich ein breites Bündnis der Friedensbewegung mit der Aufforderung, ihre interventionsfreundliche Haltung zu überdenken. Den Brief an die Grünen haben wir hier dokumentiert: "Jede/r kann heute wissen, worum es geht ...". Hier folgt nun der Brief an den SPD-Parteitag im Wortlaut. (Eine pdf-Version des Briefes kann hier heruntergeladen werden.)
Kampagne "Bundeswehr raus aus Afghanistan"
Kontakt: info@bundeswehr-raus-aus-afghanistan.de
An die Delegierten
des SPD-Bundesparteitags
in Hamburg vom 26.-28. 10. 2007
Aachen, Berlin, Bonn, Frankfurt, Hamburg, Kassel, Waren
22. Oktober 2007
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
im Wissen darum, dass Sie sich auf diesem Hamburger Parteitag auch mit der Frage einer
Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan im Rahmen der „Operation Enduring
Freedom“ (OEF) befassen werden, möchten wir nichts unversucht lassen, Ihnen unsere Position zur
Kenntnis zu bringen.
Wir, das sind der Arbeitsausschuss der bundesweiten Demonstration „Frieden für Afghanistan –
Bundeswehr raus“, zu der für den 15. September 170 Friedensorganisationen nach Berlin
aufgerufen hatten und zu der etwa 10.000 Demonstranten gekommen waren.
Das OEF-Mandat des Bundestags vom 16. November 2001, für das die Bundesregierung im
kommenden Monat zum sechsten Mal eine Verlängerung beantragt, „hat zum Ziel, Führungs- und
Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu
nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer
Aktivitäten abzuhalten.“ Das derzeitige Mandat, das am 15.11.07 ausläuft, hat eine personelle
Obergrenze von 1800 Soldaten, die bei weitem nicht ausgenutzt wird. Zur Zeit beteiligen sich etwa
250 Marinesoldaten an OEF vor dem Horn von Afrika. Die Möglichkeit, bis zu 100 geheim
operierende Elitesoldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Afghanistan einzusetzen, wird
zur Zeit nach Aussage der Regierung nicht genutzt. Die KSK-Kräfte waren zumindest 2002 und
2005 im Einsatz. Die Regierung will auch dieses Mandat verlängern.
Wir sprechen uns strikt gegen eine Verlängerung des OEF-Mandats aus. Als Gründe dafür sind für
uns die folgenden ausschlaggebend:
Erstens: Der UN-Sicherheitsrat hat OEF zu keinem Zeitpunkt ein Mandat erteilt, allerdings hat er
den Vereinigten Staaten ein Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta zuerkannt.
Seit dem 5. Oktober 2001 ist diese Selbstverteidigung für die NATO „der Bündnisfall“ nach Artikel
5 ihres Vertrages. Allerdings – und das ist von entscheidender Bedeutung – gilt der Zustand der
Selbstverteidigung völkerrechtlich nur so lange „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ (Artikel
51 UN-Charta) Der UN-Sicherheitsrat hat am 28.9.2001 umfangreiche Empfehlungen zum
Antiterrorkampf gegeben, darin jedoch keine Kampfhandlungen legitimiert, und hat am 20.12.2001
der ISAF ein Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta erteilt. Damit ist das Recht auf individuelle
und kollektive Verteidigung der USA und seiner Verbündeten erloschen. Die OEF verfügt
spätestens seitdem über keine völkerrechtliche Grundlage. Die Mitgliederversammlung der Neuen
Richtervereinigung hat am 3. Februar 2002 eindeutig erklärt:
„Weder hatte der Sicherheitsrat die Kriegsallianz ermächtigt oder beauftragt militärisch
vorzugehen, noch lagen die Voraussetzungen für die Ausübung des Notwehrrechts vor. Belege für
einen bevorstehenden Angriff Afghanistans oder mit Unterstützung der Afghanischen Regierung
durch im Lande weilende Terroristen auf die USA sind nicht behauptet worden. Für die Tötung von
einigen tausend Zivilisten gibt es keinerlei Rechtfertigung.“
Beteiligt sich die Bundeswehr also weiterhin an OEF, handeln ihre Soldaten völkerrechtswidrig.
Wir erinnern daran, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil über die
Gewissensentscheidung des Bundeswehrmajors Florian Pfaff 2005 bestätigte, dass dieser
rechtmäßig gehandelt habe, als er sich weigerte, für den vom Gericht als „völkerrechtwidrig“
beurteilten US-geführten Irakkrieg Arbeiten durchzuführen.
Zweitens: Der von den USA geführte völkerrechtswidrige OEF-Einsatz als Bestandteil des Bush-
„Kriegs gegen den Terror“ hat seit dem 7. Oktober 2001 ungezählte zivile Opfer gefordert.
Schätzungen gehen allein bis Mai 2002 von bis zu 50.000 aus. Die Formulierung des OEF-Auftrags
birgt bereits die Gefahr in sich, dass es zu hohen zivilen Opfern kommt, denn Taliban und Al-Qaida
sind nicht von der Zivilbevölkerung unterscheidbar. Deshalb verstößt OEF gegen die Genfer
Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte. Dessen Zusatzprotokoll
von 1976 räumt dem Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität ein. Der US-geführte Krieg
kann dem nicht gerecht werden.
Drittens: Durch den „Krieg gegen den Terror“ durch OEF hat sich die Sicherheitslage für die
Menschen in Afghanistan drastisch verschlechtert. Die offensiven Einsätze haben insbesondere seit
2006 zu einem starken Anstieg der zivilen Opfer geführt, was den Zulauf zu Al-Qaida und Taliban
noch erhöht hat. Das ist als kontraproduktiv zu bewerten. Wir sagen: Krieg ist selbst Terror und
erhöht die Gegengewalt. Mit Krieg den Terrorismus besiegen zu wollen, ist die komplett falsche
Strategie. Nachdem Al-Qaida Mitte 2002 zerschlagen schien, hat sie sich seitdem offenbar wieder
erholt und weiter ausgebreitet. Die vergebliche militärisch geführte OEF-Jagd nach Bin Laden und
Al-Zawahiri hat einen Mythos geschaffen, der Al-Qaida gestärkt hat.
Viertens: Wir können keine Belege oder Indizien dafür finden, dass der „Krieg gegen den Terror“
Anschläge verhindert hätte. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Der Krieg dreht die
Gewaltspirale immer weiter. Das militärische Vorgehen schürt Wut auf die westliche Politik. Wir
müssen feststellen, dass sich die Anschläge auch außerhalb Afghanistans erhöht haben. Das trifft
vor allem auf Pakistan zu, jedoch auch auf Europa. Daher sagen wir: Deutschlands Sicherheit wird
am Hindukusch nicht verteidigt, sondern aufs Spiel gesetzt.
Fünftens: Der OEF-Einsatz hat laut Antrag der Bundesregierung „zum Ziel, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu
nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer
Aktivitäten abzuhalten.“ Abgesehen davon, dass wir grundsätzlich der Meinung sind, dass Militär
und Krieg ungeeignete Mittel der Verbrechensbekämpfung sind (und was anderes als ein schweres
Verbrechen ist Terrorismus?), weil die Rechtsstaatlichkeit hierfür andere Instrumente hat (Justiz,
Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden), möchten wir folgende Fragen stellen:
-
Wie viele „Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen“ sind durch den OEFEinsatz
nachprüfbar „ausgeschaltet“ worden. Und wenn tatsächlich welche ausgeschaltet
wurden, wie viele andere sind neu entstanden?
- Wie viele Terroristen sind im bisherigen Verlauf des OEF-Einsatzes gefangen genommen
und vor Gericht gestellt worden?
- Inwieweit ist es auch nur annähernd gelungen, durch den sog. Antiterrorkrieg „Dritte
dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten“? Die spürbare
Zunahme terroristischer Gewalt und die wie Pilze aus dem Boden wachsenden neuen
terroristischen Gruppierungen (in Afghanistan, Pakistan, Usbekistan und vor allem im Irak)
sprechen eine völlig andere Sprache.
Sechstens: Afghanistan ist kein souveränes Land, sondern ein Protektorat der US-geführten NATO,
das das Land in vier Sektoren aufgeteilt hat. Vor allem US-Berater sitzen an den Schaltstellen der
Macht. Der von den USA massiv unterstützte Präsident Karsai hat den US-Militäreinheiten ein
dauerhaftes Bleiberecht in Afghanistan zugebilligt. Karsai verfügt aber über keinerlei Rückhalt in
der eigenen Bevölkerung. SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold sagte nach Rückkehr von einer
Reise durch Afghanistan gegenüber der Tagesschau, die Karsai-Regierung habe "jegliche
Akzeptanz in der Bevölkerung verloren" (tagesschau.de, 12. August 2007).
Die Fremdherrschaft ist der Nährboden, auf dem der afghanische Widerstand wächst - das mussten
schon das britische Empire und die Sowjetunion erfahren. Solange die militärische Besatzung
anhält, wird es dort keinen Frieden geben. Erst im Frieden ist der Wiederaufbau möglich.
Zu guter Letzt wollen wir zu bedenken geben, dass eine Volkspartei wie die SPD, will sie sich nicht
weiter von großen Teilen der Bevölkerung isolieren, politischen Stimmungslagen der Gesellschaft
in gewisser Weise Rechnung tragen sollte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung – gewiss kein
Sympathieblatt der Friedensbewegung – wusste vor wenigen Tagen über eine aktuelle Umfrage zu
berichten:
"Der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, den vor fünf Jahren 51 Prozent der gesamten
Bevölkerung unterstützten und nur 34 Prozent kritisch bewerteten, wird heute nur noch von 29
Prozent der Bevölkerung gutgeheißen. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt mittlerweile
Auslandseinsätze der Bundeswehr generell ab. Selbst unter den Anhängern der CDU spricht sich
eine relative Mehrheit dafür aus, Deutschland möge sich doch künftig aus solchen militärischen
Aktionen heraushalten. [...] Dazu kommt die Sorge, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr wie in
Afghanistan die Gefahr von Terroranschlägen in Deutschland erhöhen. 56 Prozent der
Bevölkerung sind davon überzeugt, nur 29 Prozent halten dies für unwahrscheinlich." (Professor
Renate Köcher in FAZ 17.10.2007)
Die Ablehnungsrate des OEF-Einsatzes dürfte noch viel höher ausfallen.
Nun hoffen wir, sehr geehrte Damen und Herren Delegierte des SPD-Parteitags, auf fundierte und
fruchtbare Diskussionen. Möge Ihre Partei eine Entscheidung treffen, die diesem leidgeprüften
Land den Frieden (näher)bringt.
Mit besten Grüßen
Reiner Braun, Berlin, IALANA
Christine Buchholz, Berlin, DIE LINKE
Kristian Golla, Bonn, Netzwerk Friedenskooperative
Lühr Henken, Hamburg, Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung
Klaus Meinel, AG Soziales Berlin im Berliner Sozialforum
Willi van Ooyen, Frankfurt a.M., Friedens- und Zukunftswerkstatt
Nabil Rachid, Berlin, Dachverband Arabischer Vereine
Monty Schädel, Waren/Müritz, DFG-VK
Jens-Peter Steffen, Berlin, IPPNW
Otmar Steinbicker, Aachen, Aachener Friedenspreis und Kooperation für den Frieden
Peter Strutynski, Kassel, Bundesausschuss Friedensratschlag
Laura von Wimmersperg, Berlin, Moderatorin der Friedenskoordination
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