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"Der Blick verengt sich zu oft allein auf die pauschale Ablehnung des Militärischen"

Führungsspitze der GRÜNEN kritisiert die Friedensbewegung - und erhält Gegenwind aus den eigenen Reihen. Dokumentation

Pünktlich zu Beginn der Ostermärsche hat die Führung der Bündnisgrünen eine Breitseite gegen die Friedensbewegung abgefeuert. Sie sei "einseitig" und lehne "pauschal" das Militär ab, heißt es in einer Presseerklärung der Parteivorsitzenden Claudia Roth und des Sicherheits- und Abrüstungspolitischen Sprechers von Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Nachtwei. Diese Erklärung, die von den Medien eifriger kolportiert wurde als die vielen Erklärungen der Ostermarschierer/innen, hat zu einem lange nicht mehr dagewesenen Disput zwischen Friedensbewegung und der Partei der GRÜNEN geführt. Fast sah man sich zurückversetzt in die 90er Jahre, als die Grünen - damals unter Joschka Fischer - ihren einstmaligen friedenspolitischen Kurs verließen und auf Regierungspositionen einschwenkten.
Im Folgenden dokumentieren wir im Wortlaut

  1. die Presseerklärung von Claudia Roth und Winfried Nachtwei vom 5. April,
  2. einen Artikel hierzu aus der Frankfurter Rundschau, vom 7. April,
  3. eine Erklärung von friedensbewegten grünen Funktionsträgerinnen und -trägern.
In allen Abschlusserklärungen der Friedensbewegung zu den Ostermärschen 2007 wird ebenfalls der Standpunkt der GRÜNEN-Führung zurückgewiesen: siehe "Ostermärsche erfolgreich beendet"



Ostermärsche: Friedenspolitik braucht Bewegung und mehr neues Denken

PM Nr.115/07 vom 05.04.2007

Zu den diesjährigen Protestveranstaltungen und Ostermärschen der Friedensbewegung erklären Claudia Roth, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Winfried Nachtwei, MdB und Sicherheits- und Abrüstungspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen:

„Die jährlichen Demonstrationen der Friedensbewegung für Frieden und Abrüstung an den Ostertagen sind noch immer eine gute und wichtige Tradition.

Friedenspolitik heute muss eine Politik sein, die auf Gerechtigkeit, Solidarität, Armutsbekämpfung und dem nachthaltigen Umgang mit der Natur basiert. Wir sind uns einig, dass Militär keine Konflikte lösen kann und ein Krieg gegen Iran verhindert werden muss. Geradezu notorisch wenig sagen die Aufrufe allerdings auch in diesem Jahr dazu, wie internationalen Krisen, Gewalt und Krieg begegnet werden kann. Der Blick verengt sich zu oft allein auf die pauschale Ablehnung des Militärischen. Dazu passt, dass die Vereinten Nationen in den Aufrufen auch in diesem Jahr so gut wie gar nicht auftauchen und auch die zivilen Mittel der Krisenbewältigung kaum erwähnt werden. Das ist friedenspolitisch ein Armutszeugnis. Gerade die Stärkung der Vereinten Nationen und der zivilen Friedensförderung braucht öffentliche Aufmerksamkeit, kritische Unterstützung und friedenspolitische Begleitung. Etliche Aufrufe erwecken den Eindruck als seien Bush-Administration, die EU und bundesdeutsche Politik eine einzige „Achse des Bösen“. Eine solche Schwarz-Weiß-Sicht ist so falsch wie friedenspolitisch kontraproduktiv. Friedenspolitik heute braucht auch mehr neues Denken und Differenzierung.

Wir brauchen dringend neuen Schwung für eine glaubwürdige Abrüstungspolitik. Die von ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat angekündigte Modernisierung ihrer Atomwaffenarsenale lehnen wir strikt ab. Das ist brandgefährlich. Es untergräbt die ohnehin fragilen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsregime, erschwert die Verhandlungen mit Staaten, die sich heute atomar bewaffnen wollen und macht die dringend notwendige internationale Abrüstung noch unwahrscheinlicher. Abrüstung muss wieder zum Ordnungsrahmen internationaler Politik werden. Statt abrüstungspolitische Sonntagsreden zu halten oder sich taub in Fragen nuklearer Abrüstung zu stellen, muss die Bundesregierung hierzu glaubwürdig beitragen.

Abrüstung fängt vor der eigenen Haustür an. Die noch in Deutschland und Europa stationierten taktischen US-Atomwaffen müssen vollständig abgezogen und unschädlich gemacht werden.

Einig sind wir auch darin, dass die vom Verteidigungsministerium beabsichtigte Wiederinbetriebnahme des ehemaligen Truppenübungsplatzes in der Kyritz-Ruppiner Heide ein militärischer Anachronismus ist. Die Bundesregierung darf nicht länger über das Votum fast der gesamten Region hinweggehen. Die Pläne müssen endlich vom Tisch.

In diesem Sinne wünschen wir den Ostermärschen eine gute Resonanz.“

Quelle: www.gruene.de




Streit um "Schwarz-Weiß-Sicht"

Ostermarschierer erzürnt über Grüne

Begleitet von einer Debatte über die politische Ausrichtung hat die Friedensbewegung ihre Ostermärsche begonnen. Die Organisatoren wiesen Forderungen der Grünen nach einem Kurswechsel zurück.

Berlin - Rechtzeitig vor den Feiertagen meldete sich die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth mit heftigen Angriffen auf die Friedensbewegung und deren Ostermärsche zu Wort. Den jährlichen Demonstrationen bescheinigte sie zwar eine "gute und wichtige Tradition", aber eine umso trübere Gegenwart. Die sieht Roth geprägt von einer "Schwarz-Weiß-Sicht" und einer einseitigen, "pauschalen Ablehnung des Militärischen". Friedenspolitik benötige heute aber mehr "neues Denken und Differenzierung", betonte die Politikerin.

Als "überflüssig und an der Sache vorbei" wies der Sprecher der Infostelle Ostermarsch, Willi van Ooyen, die Ermahnungen zurück. Von einem engen Blick nur auf das Militärische könne keine Rede sein, sagte van Ooyen am Freitag der Frankfurter Rundschau. "Wir sind sehr deutlich, was den Zusammenhang zwischen sozialer Entwicklung und Frieden betrifft." So finde sich das Thema Armutsbekämpfung in allen Aufrufen wieder. Charakteristisch für die Ostermärsche sei zudem die "internationalistische Position", die auf die gemeinsame Verantwortung bei der Überwindung von Krisen und Konflikten abstelle.

Als "unverständlich" bezeichnete van Ooyen den Vorwurf der Grünen, in den Erklärungen der Demonstranten tauchten die Vereinten Nationen (UN) kaum auf. Die Friedensbewegung setze auf die UN als die einzige Chance, international voranzukommen. Gleichzeitig kritisiere sie aber die Demokratiedefizite in einer Organisation, die von wenigen Mächten dominiert werde.

Den Grünen warf van Ooyen vor, "halbseidene und widersprüchliche Positionen" zu beziehen. Grundsätzlich trete die Partei für Frieden und atomare Abrüstung ein. Wenn es konkret werde, vergesse sie regelmäßig ihre Überzeugungen. Das Verhältnis zwischen Friedensbewegung und Grünen ist zerrüttet, spätestens seitdem sich diese als Regierungspartei in der Koalition mit der SPD endgültig von ihrer pazifistischen Tradition verabschiedet haben.

Die Ostermärsche richten sich diesmal vor allem gegen Auslandseinsätze deutscher Soldaten. Zudem rufen die Veranstalter zu Protesten gegen den Gipfel der sieben führenden Wirtschaftsnationen plus Russland (G8) in Heiligendamm auf, warnen vor einem Krieg im Iran und mahnen ein Ende des Sozialabbaus an. Da die Verantwortung bei örtlichen Gruppen liegt, unterscheiden sich die Aktionen und ihre Inhalte von Region zu Region stark. Nach Angaben des zentralen Büros in Frankfurt beteiligten sich im vergangenen Jahr zehntausende Menschen.

Die Resonanz bleibt aber seit langem weit hinter den Höchstständen zurück. Ihren Ursprung hat die Bewegung in Großbritannien. In Deutschland gibt es sie seit 1960 und fand in Zeiten des Kalten Krieges regen Zulauf. Einen Höhepunkt erlebte sie 1982 durch die Debatte über die Raketenstationierung der Nato, die so genannte Nachrüstung. Seit dem Zerfall des Ostblocks spielen Friedensbewegung und Ostermärsche politisch kaum noch eine Rolle.

M. Sievers

Aus: Frankfurter Rundschau, 7. April 2007




Offener Brief an

Claudia Roth MdB, Bundesvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Winfried Nachtwei MdB

Ostermärsche 2007

Berlin, Ostermontag 2007

Liebe Claudia,
lieber Winni,

Ihr habt in einer Erklärung zu den Ostermärschen die Friedensbewegung scharf kritisiert. Ihr habt den Aufrufen zu den Ostermärschen ein „Armutszeugnis“ ausgestellt und erklärt: „Friedenspolitik in unserer globalisierten Welt ist komplizierter und schwieriger geworden. Eine Schwarz-Weiß-Sicht hilft hier nicht weiter. Heute braucht Friedenspolitik mehr neues Denken und Differenzierung.“

Ihr kritisiert eine „pauschale Ablehnung des Militärischen“ der Friedensbewegung, dieser fehle auch der positive Bezug auf die Vereinten Nationen. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin Franziska Eichstädt-Bohlig ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen; für sie sind Ostermärsche „zum Ritual geworden” und „nicht mehr zeitgemäß“.

Lieber Reinhard,

du hast gesagt, dass wer z. B. alle Auslandseinsätze der Bundeswehr kategorisch ablehne, in deinen Augen keine Friedenspolitik betreibe. Die Grünen und die Friedensbewegung gehen danach – nicht nur zu Ostern – getrennte Wege.

Eure massive Kritik, gerade als führende VertreterInnen der Grünen, weisen wir zurück. „Kompliziert“ ist Friedenspolitik wohl vor allem für manche Grüne geworden. Das zeigte sehr deutlich die Auseinandersetzung um die Entsendung von Tornado-Flugzeugen der Bundeswehr nach Afghanistan, Flugzeuge, die die Kriegsführung der NATO im Süden Afghanistans unterstützen sollen. Die Grünen zeigten sich in einer Weise „differenziert“, die ihres Gleichen sucht. Eine knappe Mehrheit in der Bundestagsfraktion und eine etwas größere Mehrheit im Parteirat stimmte der Entsendung der Tornado-Flugzeuge zu, die Mehrheit des Bundesvorstandes lehnte sie ab. In einer Erklärung des Parteirates vom 5. März werden dann die Argumente aufgelistet, die jeweils für bzw. gegen den Tornadoeinsatz vorgebracht wurden.

Wir wollen nicht die gesamte Debatte um die Tornados nachzeichnen, wir wollen angesichts Eurer Forderung nach „mehr Differenzierung“ in den Stellungnahmen der Friedensbewegung aber unserem Wunsch nach etwas „mehr Eindeutigkeit“ in den Stellungnahmen unserer Führungsgremien Ausdruck geben. Gleichzeitig wären wir nicht überrascht, dass andere politische Gruppierungen nicht jenes Maß an Differenziertheit anstreben, wie es die Grünen derzeit bieten. Es ist weder Anspruch noch Aufgabe der Friedensbewegung, Optimierungsvorschläge für NATO-Operationen zu machen.

Auch der Ratschlag, friedenspolitische Aufrufe sollten einen positiven Bezug auf die Vereinten Nationen enthalten, kollidiert mit dem taktischen Verhältnis, das unsere Partei in den letzten Jahren zum Völkerrecht gepflegt hat: Wer mit dem Kosovo-Krieg 1999 und dem Afghanistan-Krieg 2001 (Beteiligung an der Operation Enduring Freedom) zwei völkerrechtswidrige Kriege unterstützt hat, sollte gegenüber der Friedensbewegung nicht den moralischen Zeigefinger heben. Wir erlauben uns außerdem den Hinweis, dass der von den UN legitimierte Irak-Krieg 1991 von den Grünen völlig zu Recht abgelehnt und zum Anlass für eine breite friedenspolitische Kampagne genommen wurde. Und wenn ihr von der Friedensbewegung einen positiven Bezug auf die UN erwartet, dann fordert dies doch bitte auch von Franziska Eichstädt-Bohlig ein, die im „Tagesspiegel“ vom 8. April aus dem nicht UN-mandatierten Kosovokrieg die einfache Lehre zieht: „Es reicht nicht immer aus, gegen jegliche militärische Einsätze zu sein.“

In diesem Falle erwarten wir nun auch „mehr Differenzierung“: Am Ende der außenpolitischen Debatte, die innerhalb der Partei in den Friedens- und Sicherheitspolitischen Kongress Ende des Jahres mündet, müssen differenzierte Antworten stehen.

Dass es nicht genügend „friedenspolitische Begleitung“ der zivilen Friedensförderung gebe, ist im Übrigen ein Vorwurf, der auf Bündnis 90/Die Grünen selbst zurückfällt: Zwar wurden unter Rot-Grün friedenspolitische Fortschritte, z. B. im „Aktionsplan zivile Krisenprävention“, erzielt. Deren finanzielle und personelle Ausstattung ist jedoch im Vergleich zu den Milliardenausgaben für Militär verschwindend gering. Insofern müssen sich die Grünen der zentralen friedenspolitischen Frage stellen: Wie können die zivilen Mittel der Krisenbewältigung aus dem Würgegriff des Militärischen befreit werden?

Wir möchten euch erinnern: In unserem Grünen Grundsatzprogramm erklären wir, dass bündnisgrüne Außenpolitik den Werten der „ökologischen Verantwortung, der Selbstbestimmung, der internationalen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Friedens“ verpflichtet ist. Wenn wir unsere Politik nach diesen Werten gestalten wollen, ist die Friedensbewegung keine Gegnerin, sondern Verbündete.

Ostern 2007

Arvid Bell, Vertreter der Grünen Jugend im Bundeskoordinierungskreis von Attac
Stefan Ziller, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin
Paula Riester, Sprecherin Grüne Jugend Bundesverband
Wilhelm Achelpöhler, Kreisvorstandssprecher Bündnis 90/Die Grünen Münster
Sven Lehmann, Landesvorstand Bündnis 90/Die Grünen NRW
Julia Seeliger, Mitglied des Grünen Bundesparteirats
Birgit Ebel, NRW-Delegierte im Grünen Bundesfrauenrat
Uli Cremer, Bündnis 90/Die Grünen Kreisverband Hamburg-Eimsbüttel
Nadine McNeil, Schatzmeisterin Grüne Jugend Bundesverband



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