Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

23. bis 30. April 2003

Friedensbewegung in den Medien

Anja Worm vom Berliner "Tagesspiegel" macht sich Gedanken um die Zukunft der Friedensbewegung ("Von Bagdad zur Sozialpolitik") und schreibt u.a.:

Der große Zustrom zu den Anti-Kriegsdemonstrationen wird der Friedensbewegung keine neuen Mitglieder bescheren. Das schätzt der Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin. „Die Massenbewegungen bleiben zuhause, da der Krieg zu Ende ist“, sagte Rucht dem Tagesspiegel. Zudem werden sich die Friedensinitiativen auf „Randthemen konzentrieren“.
Die Organisatoren von Friedenskampagnen zeichnen ein ähnliches Bild. Jetzt stehe die europäische und bundesdeutsche Verteidigungspolitik auf der Tagesordnung, meinte Peter Strutynski vom bundesweiten friedenspolitischen Ratschlag. Der Irak würde zwar weiterhin Thema bleiben, es würden aber andere Schwerpunkte gesetzt. „Uns wird nun beschäftigen, was weiter in Nahost passiert und welches Land als Nächstes angegriffen wird“, erklärte Strutynski. Das Netzwerk Friedenskooperative will nach Angaben seines Sprechers Christian Golla Reformvorschläge für die UN erarbeiten. „Nun sind Fachleute gefragt, die sich inhaltlich auseinander setzen“, sagte Golla.
(...) Ein Resümee aus den Protesten wollen die Friedensinitiativen beim Kongress „Kultur des Friedens“ in Berlin ziehen. Der viertägige Kongress, der am 1. Mai beginnt, wird vom Verein Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg (IPNNW) veranstaltet.
Der Tagesspiegel, 30.04.2003



Zur im Folgenden dokumentierten Auseinandersetzung fällt uns ein vielleicht nicht ganz passender, aber doch sehr nachdenklich stimmender Ausspruch von Carl von Ossietzky ein:

"Unselig sind die Friedfertigen.
Sie werden von ihren Feinden niedergeschlagen,
von den Staatsanwälten eingebuchtet,
von der unwissenden Menge als Schwächlinge verspottet.
Aber wenn sie unter sich sind, dann fressen sie sich gegenseitig auf."



Kein Streit zwischen Attac und Friedensbewegung

Am Ostermontag (21. April) machte eine Meldung die Runde (in der Tagesschau noch vor der Ostermarschberichterstattung!), wonach ein führender Attac-Funktionär Kritik an der Friedensbewegung geübt habe. Am nächsten Tag wurde eine entsprechende AP-Meldung in verschiedenen Zeitungen, u.a. in der Frankfurter Rundschau verbreitet.

Die AP-Meldung lautete in ihrem auf die Friedensbewegung bezogenen Teil:

Frankfurt/Main (AP) Aus der globalisierungskritischen Organisation Attac gibt es heftige Kritik an der Friedensbewegung. Die Bewegung sei zu zersplittert und zu schlecht koordiniert, sagte Sven Giegold von der deutschen Attac-Sektion am Montag der Nachrichtenagentur AP. Ihre Schlagfertigkeit auf Bundesebene leide darunter.
Seine Organisation sei bereit, an einer stärkeren Koordination mitzuarbeiten, doch leider gebe es grundsätzlichen Widerstand gegen mehr Koordinierung, sagte der Attac-Aktivist. Giegold ist Mitglied im Attac-Koordinierungskreis, dem Führungsgremium der Globalisierungskritiker. Er beklagte auch, dass bestimmte Themen, etwa die unter der rot-grünen Bundesregierung gestiegenen deutschen Rüstungsexporte, gar nicht mehr thematisiert würden.
Giegold räumte ein, dass sich viele Menschen in der heutigen Friedensbewegung anders als in den 80er Jahren nur kurzfristig engagieren. Im Gegensatz dazu sei das Engagement der meisten der mittlerweile knapp 12.000 deutschen Attac-Mitglieder langfristig. Erwartungen, dass die Friedensbewegung nach der überraschend schnellen Entscheidung im Irak-Krieg zerfalle, wies er aber zurück. (...)
Quelle: www.yahoo.de

Am 22. April erschien in der Frankfurter Rundschau ein Artikel, in dem die AP-Meldung verarbeitet wurde. Daraus den für die Friedensbewegung relevanten Auszug:

ATTAC
"Friedensbewegung ist zu zersplittert"
FRANKFURT A. M., 21. April (ap). Die globalisierungskritische Organisation Attac hat die Friedensbewegung kritisiert. Die Bewegung sei zu zersplittert und zu schlecht koordiniert, sagte Sven Giegold von der deutschen Attac-Sektion am Montag. Ihre Schlagfertigkeit auf Bundesebene leide darunter.
Seine Organisation sei bereit, an einer stärkeren Koordination mitzuarbeiten, doch gebe es grundsätzlichen Widerstand gegen mehr Koordinierung, sagte der Attac-Aktivist. Giegold ist Mitglied im Attac-Koordinierungskreis, dem Führungsgremium der Globalisierungskritiker. Er beklagte auch, dass bestimmte Themen, etwa die unter der rot-grünen Bundesregierung gestiegenen deutschen Rüstungsexporte, gar nicht mehr thematisiert würden.
Giegold räumte ein, dass sich viele Menschen in der heutigen Friedensbewegung anders als in den 80er Jahren nur kurzfristig engagieren. Im Gegensatz dazu sei das Engagement der meisten der mittlerweile knapp 12 000 deutschen Attac-Mitglieder langfristig. Erwartungen, dass die Friedensbewegung nach der überraschend schnellen Entscheidung im Irak-Krieg zerfalle, wies er aber zurück. (...)
FR, 22.04.2003

Die "junge Welt" brachte am selben Tag ein Interview mit Sven Giegold, worin er zu seinen Vorwürfen Stellung nehmen konnte. Auch hieraus die entsprechenden Passagen (Das Interview führte Jürgen Elsässer):

Frage: »ATTAC kritisiert Koordinierungsmangel der Friedensbewegung«, vermeldete die Nachrichtenagentur AP am gestrigen Montag nach einem Gespräch mit Ihnen. Das erscheint mir etwas seltsam.
Mir erscheint das auch seltsam. Tatsächlich habe ich gegenüber AP nicht die Meinung von ATTAC vertreten, sondern nur meine persönliche.
F: Aber Sie persönlich kritisieren die Friedensbewegung? Damit erwecken Sie den Eindruck, als stünden Sie außerhalb.
Überhaupt nicht. ATTAC ist Teil der Friedensbewegung, und ich bin es auch. Trotzdem ist es mir wichtig, auf die offensichtlichen Mängel in der Koordination hinzuweisen.
F: Wäre es nicht vordringlicher, zunächst einmal die Erfolge herauszustreichen? Trotz der Beendigung des Irak-Krieges war die Mobilisierung beim Ostermarsch stärker als im letzten Jahr, es ist also ein Teil der neu Mobilisierten bei der Stange geblieben.
Die Mobilisierung gegen den Irak-Krieg war ein großer Erfolg. Viele Leute hätten das nicht für möglich gehalten. Die Friedensbewegung leistet gute Arbeit in allen ihren Teilen, aber diese Teile arbeiten zu sehr nebeneinander her.
F: Muß also ein ZK geschaffen werden?
Kein ZK oder bindende Beschlüsse. Das kann in einer Bewegung nicht funktionieren. Aber es müssen Orte institutionalisiert werden, an denen sich alle Teile der Bewegung absprechen.
F: Es gibt doch den bundesweiten Friedensratschlag.
Stimmt. Das Treffen ist aber leider nicht dafür geeignet, daß sich die verschiedenen Organisationen und Netzwerke koordinieren können.
F: Der bundesweite Friedensratschlag ist ein für alle offenes Gremium, niemand wird ausgeschlossen.
Das schon. Aber es gibt Traditionen und Spaltungslinien zum Teil noch aus den 80er Jahren, die bis heute nicht überwunden sind.
F: Unterstützen Sie damit die Kritik der Grünen, die sich in einem offenen Brief über die angebliche Ausgrenzung der Regierungsparteien beklagt haben?
Das ist nicht mein Thema. Es geht um einen Ort, wo alle relevanten Gruppen vertreten sind. Bisher gibt es zwei parallele Koordinationsstellen. Es gibt ja noch nicht einmal eine große gemeinsame Friedenskonferenz pro Jahr oder einen Rundbrief, der wirklich alle erreicht.
F: Was hätte bessere Koordination beim jetzigen Ostermarsch bewirkt?
Vermutlich gar nichts, die Ostermärsche sind ja schon immer dezentral gewesen. Mir geht es um die weitere Strategie: Welche neue Konflikte sind zu erwarten, welche Schwerpunkte müssen wir setzen? Nach dem Krieg läßt jetzt die Koordination nach, und deswegen brauchen wir einen gemeinsamen Suchprozeß.
(...)
junge Welt, 22.04.2003

Der Bundesausschuss Friedensratschlag reagierte am 22. April mit einer Presseerklärung, der man vor allem die Verärgerung über den unpassenden Zeitpunkt und die Substanzlosigkeit der Kritik herauslesen konnte. Einen Pressewiderhall fand die Erklärung (sie ist in voller Länge nachzulesen unter: "Friedensratschlag 'befremdet' über Kritik von Sven Giegold") am Tag darauf in der taz:

Krach unter Friedfertigen
Der Friedensratschlag weist die Kritik von Attac an der Bewegung zurück: "Besserwisserischer Querschläger"
BERLIN taz Unter den Friedensfreunden wird heftig ausgeteilt: Als "ausgemachten Blödsinn" eines "besserwisserischen Querschlägers" bezeichnete Peter Strutynski vom Bundesausschuss Friedensratschlag die Angriffe des Attac-Aktivisten Sven Giegold gestern in einer Pressemitteilung. Giegold hatte der Friedensbewegung mangelnden Willen zur Koordination vorgeworfen. Deshalb leide ihre "bundesweite Schlagfertigkeit", so Giegold. Strutynski wies darauf hin, dass gerade die großen Friedensdemonstrationen im Februar nur durch koordiniertes Wirken vieler Friedensgruppen zustande gekommen seien. Diese aber lebten von ihrer Vielfalt. "Jede Form bürokratischer "Koordinierung" würde diese Vielfalt strangulieren", so der Sprecher des Friedensratschlags. Er gehe davon aus, dass Giegold nicht für Attac gesprochen habe, sondern nur für sich selbst. "OES
taz, 23.04.2003

Ebenfalls am 23. April brachte die junge Welt ein weiteres Interview zu dem Vorgang, diesmal mit Laura von Wimmersperg von der Friedenskoordination (FRIKO) Berlin (Interview: Wolfgang Pomrehn):

Frage: Der Ostermarsch 2003 ist gelaufen. Offiziell ist man zufrieden, weil die Teilnehmerzahl gegenüber dem letzten Jahr sich verdoppelt hat. Aber inoffiziell hat mancher mehr erwartet, oder?
Der hiesige Ostermarsch war immerhin die 70. Demo in Berlin innerhalb von sechs Wochen. Wir haben also aus mancherlei Gründen nicht viel erwartet. Der Berliner Ostermarsch ist nie sehr groß, und daher sind wir mit den 5000, die wir gezählt haben, ehrlich zufrieden.
Natürlich könnte man sagen, die halbe Stadt müßte auf den Beinen sein, denn wir müssen damit rechnen, daß andere Länder überfallen werden. Aber man läuft sich auch mal müde und muß verschnaufen. Aktionismus macht jede Bewegung kaputt.
F: Sven Giegold vom ATTAC-Koordinierungskreis meint, die Friedensbewegung müsse besser koordiniert werden. Sehen Sie das ähnlich?
Ich will nicht behaupten, daß wir optimal organisiert sind. Aber es gibt bestimmte Strukturen, die sich bewährt haben. Die einzelnen Gruppen arbeiten autonom, so daß sich ein hohes Maß an Kreativität entfalten kann, und vernetzen sich gegebenenfalls für größere Aufgaben.
F: Giegold meinte im jW-Interview, daß der bundesweite Kasseler Friedensratschlag nicht der richtige Ort sei, an dem man verschiedene Gruppen und Organisationen vernetzen könne.
Das soll er erst einmal begründen.
F: Er spricht davon, daß es um Traditionen und vor allem um Spaltungslinien geht, die zum Teil noch aus den 80er Jahren herrühren und bis heute nicht überwunden seien. Und in der Tat haben in diesem Jahr mancherorts die traditionellen Gruppen sehr zögerlich auf die neuen reagiert.
Das ist schwer in dieser Kürze zu behandeln. Es gibt Probleme, die man nicht unter den Teppich kehren sollte, aber ich möchte auch keine Gräben aufreißen.
Ich gehöre zu den Alten, die aus den 80er Jahren kommen. Wir haben hier über diese ganz bitteren Zeiten eine flexible Struktur erhalten. Die ermöglicht es, daß die Bewegung an- und abschwellen kann und trotzdem das Netzwerk erhalten bleibt. Viele Gruppen kommen nicht regelmäßig zu den Treffen, aber der Kontakt bleibt erhalten, und bei bestimmten Sachen arbeitet man zusammen. Das Netzwerk ist offen für neue Gruppen, und man muß sich in der Arbeit zusammenraufen. Natürlich gibt es Reibungspunkte, wenn so ein junger Mensch oder eine neue Gruppe kommt, die ihre eigenen Formen entwickelt haben, und alles schnell gehen muß. Der globale Aktionstag am 15. Februar zum Beispiel, als in Berlin 500000 Menschen demonstrierten, wurde mit einem breiten Bündnis innerhalb von drei Monaten organisiert. Da kann man sich nicht auf endlose Debatten einlassen und muß nach Formen suchen, die effektiv sind und allen gerecht werden.
Eines der Probleme ist offenbar die Verständigung. Uns hat man gesagt, wir hätten eine andere Diktion als die Jungen. Man wisse nicht immer, wovon wir reden, und das wäre dann geheimbündlerisch. Aber das ist nicht nur unser Problem. Ich denke, daß in der Vielfalt unsere Kraft liegt.
junge Welt, 23.04.2003




Zur Seite "Meldungen und Informationen über die Friedensbewegung"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage