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Stilles Ende eines Milliarden-Projekts – Bundeswehr verabschiedet sich vom Luftverteidigungssystem MEADS

Ein Beitrag von Jerry Sommer in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator der Sendung):
Vor fast genau sechs Jahren hat der Haushaltsauschuss des Bundestages mit den Stimmen von SPD, Grünen und den Unionsparteien beschlossen, dass sich Deutschland an der Entwicklung des neuen Luftverteidigungssystems MEADS beteiligt. Die Abkürzung MEADS steht für – Medium Extended Air Defense System. Zusammen mit den USA und Italien sollte ein mobiles System entwickelt werden, mit dem man sowohl Flugzeuge als auch Drohnen und Raketen kurzer Reichweite abwehren kann. Doch nun steht das Projekt vor dem aus. Einzelheiten von Jerry Sommer:


Manuskript Jerry Sommer

Die USA haben im Februar beschlossen, die Finanzierung des MEADS-Projekts in zwei Jahren einzustellen. Einer der Gründe: Auch das Pentagon muss sparen. Die USA tragen rund 55 Prozent der Entwicklungskosten von MEADS. Wenn alles nach Plan läuft, werden bis 2013 allerdings noch erste Tests des neuen Systems stattgefunden haben. Doch Washington beabsichtigt nicht mehr, seine Streitkräfte mit MEADS auszurüsten.

Die Bundesregierung hatte noch vor zwei Jahren das Projekt für „unverzicht-bar“ erklärt. Unter dem Eindruck der US-Entscheidung kürzlich die Kehrtwende. Zitat:

Zitat:
„Nach dem Abschluss der Entwicklungsarbeiten wird eine Realisierung bezie-hungsweise Beschaffung von MEADS derzeit absehbar nicht mehr erfolgen.“

Das MEADS–Projekt war von Anfang an umstritten. Die Kritiker, zu denen auch die FDP gehört, sehen sich nun bestätigt. Die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Elke Hoff:

O-Ton Hoff
„Wir sind schon seit vielen Jahren der Auffassung, dass dieses Raketenab-wehrsystem in seiner Neuentwicklung überdimensioniert und viel zu teuer ist. Und deswegen waren wir immer der Auffassung, dass MEADS beendet und eingestellt werden sollte.“

Grüne und Linke fordern einen sofortigen deutschen Ausstieg aus MEADS. Damit könnten 250 Millionen Euro eingespart werden. Um diese Summe haben sich nämlich die Entwicklungskosten inzwischen erhöht. Schon ohne diesen Anstieg hatte Deutschland 886 Millionen Euro für die MEADS-Entwicklung zugesagt.

Die Bundeswehr hatte ursprünglich geplant, 12 MEADS–Abwehrbatterien für circa drei Milliarden Euro zu kaufen. Im vergangenen Jahr wurde die Planung ohne Begründung auf acht Batterien reduziert. Zu diesen Batterien gehören ein neuartiges Such- und Feuerleitradar, eine taktische Operationszentrale, LKW, auf denen die Raketenstartrampen montiert sind, sowie die Abfangraketen selbst. Als Abfangflugkörper wollte man modernisierte Versionen der Patriot-Raketen einsetzen. Vor zehn Jahren besaß die Bundeswehr noch 70 Patriot-Batterien, gegenwärtig sind es noch 24, von denen zunächst zwölf durch MEADS ersetzt werden sollten.

Für die Notwendigkeit von MEADS wurden unterschiedliche Argumente ins Feld geführt. Mit den acht geplanten Luftverteidigungs-Systemen ließen sich vier Bereiche Deutschlands mit einer Größe von jeweils 50 mal 50 Kilometern gegen Luftangriffe jeglicher Art schützen, erklärte die Bundeswehr noch im vergangenen Jahr in einem internen Papier. Doch gleichzeitig musste man einräumen:

Zitat
„Mit Blick auf die Bedrohungslage wird [damit] für den Schutz Deutschlands und seiner Bürger kein wesentlicher Beitrag geleistet.“

Eine realistische Einschätzung. Denn Deutschland ist von Freunden umzingelt. MEADS ist ausschließlich in der Lage, Raketen mit einer Reichweite von 1.000 Kilometern abzufangen. Im Umkreis von 1.000 Kilometern ist aber kein Feind in Sicht – nicht einmal die Bundeswehr rechnet mehr mit einer russischen Aggression.

Das zweite Argument für MEADS war und ist, dass das System für Interventio-nen der Bundeswehr im Ausland notwendig sei. Der MEADS-Befürworter Pro-fessor Joachim Krause vom „Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel“:

O-Ton Krause
„Es sind ja gewisse Aufgaben, die erfüllt werden müssen, wenn es um Truppen geht, die an irgendwelchen Stellen der Weltgeschichte Aufgaben zu erledigen haben. Und wenn es dort eine Luftbedrohung gibt, dann ist natürlich MEADS eine ganz wichtige Komponente.“

Kritiker wie der ehemalige Jagdflieger und Brigadegeneral der Bundeswehr, Hermann Hagena, widersprechen:

O-Ton Hagena
„Gegen die herkömmlichen Bedrohungen, Flugzeuge, Drohnen, Marschflug-körper, brauchen wir keinen Schutz durch Flugabwehrraketen. Denn die Überlegenheit der eigenen Luftwaffe gegenüber jedem möglichen Interventionsfeind ist so groß, dass man nicht noch Mittel ansetzen muss, um sich dagegen zusätzlich zu schützen.“

Auch die Erfahrungen der jüngsten Kriege, an denen sich Deutschland beteiligt hat, sind eindeutig: In Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan verfügten die westlichen Streitkräfte von Anbeginn der Militäroperationen über eine absolute Luftüberlegenheit. In keinem Fall wurden oder werden deshalb zusätzlich bodengestützte Luftverteidigungsmittel eingesetzt.

Ein anderes Argument der MEADS-Befürworter lautet, das System könnte zur Verteidigung von Bündnispartnern an der Peripherie der NATO benötigt wer-den. Joachim Krause:

O-Ton Krause
„Es ist durchaus denkbar, dass wir im Rahmen von Allianzeinsätzen, etwa für die Türkei, gebeten werden, Luftabwehrkomponenten am Rande des NATO-Territoriums herzustellen. Und da kann es auch durchaus sein, dass MEADS auch dort eine Aufgabe hätte.“

Allerdings ließe sich einwenden, es wäre zunächst einmal Sache der Türkei, sich MEADS zu beschaffen, wenn das Land sich bedroht fühlen würde. Theoretisch wäre ein Einsatz deutscher MEADS-Systeme in der Türkei durchaus denkbar – zum Beispiel gegen einen potenziellen Raketenangriff des oft als Schurkenstaat bezeichneten Iran. Denn Teheran hat Raketensysteme von unter 1.000 Kilometern Reichweite, wenn gleich es bisher keine Atomsprengköpfe besitzt. Diese iranischen Raketen könnten die Türkei erreichen und diese von im Land stationierten MEADS-Feuereinheiten abgeschossen werden.

Kritiker argumentieren jedoch vor allem mit einem anderen gewichtigen Ein-wand gegen das Luftverteidigungssystem. Technisch sei überhaupt noch nicht klar, mit welcher Wahrscheinlichkeit MEADS anfliegende mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen zerstören könnte. Zurzeit gibt es noch nicht einmal einen Prototyp dieses Waffensystems. Brigadegeneral a. D. Hermann Hagena:

O-Ton Hagena
„Wo wollen Sie realistisch prüfen, ob eine Rakete mit einem Atomsprengkopf tatsächlich durch eine Abwehrrakete so neutralisiert werden kann, dass es keinen größeren Schaden gibt? Das ist unmöglich.“

Ferner ist völlig offen, ob MEADS oder auch andere Raketenabwehrsysteme überhaupt in der Lage sein werden, auf mögliche Gegenmaßnahmen potenzieller Angreifer zu reagieren. Beispielsweise wenn neben dem scharfen Gefechtskopf gleichzeitig auch Attrappen abgefeuert werden.

Nach Ansicht von Hermann Hagena ist außerdem das zugrunde gelegte politische Bedrohungsszenario zu hinterfragen. Der frühere Bundeswehr-General:

O-Ton Hagena
„Es ist nicht zu ersehen, warum ausgerechnet die Iraner einen potenziellen ihnen durchaus nicht feindlich gesonnenen Staat wie die Türkei angreifen sollten. Ihr Feind sind die Amerikaner, die Israelis. Ich sehe keine solche Bedrohung.“

Die Bundeswehrführung und die NATO-Partner durchaus. Das Verteidigungsministerium führte noch im vergangenen Jahr ein bündnispolitisches Argument ins Feld. In einem vertraulichen Papier wurden aufgrund der Sparzwänge viele Rüstungsvorhaben auf den Prüfstand gestellt. An dem umstrittenen Luftvereidigungssystem wollte die Bundeswehr allerdings auf jeden Fall festhalten. Die Begründung:

Zitat
„Die Beschaffung von MEADS würde den Einstieg in eine im Bündnis kritische Missile Defence Fähigkeit mit erheblichem Zukunftspotential darstellen.“

Tatsächlich hat der NATO-Gipfel im vergangenen November beschlossen, das ganze europäische Bündnisgebiet durch ein umfassendes Raketenabwehrsystem zu schützen. Die genaue Umsetzung ist allerdings noch völlig unklar. Die schon in Deutschland vorhandenen Patriot-Abfangraketen sowie die geplanten MEADS-Systeme werden oft als deutscher Beitrag zu diesem NATO-Raketenabwehrschirm bezeichnet. Allerdings sind diese Flugkörper technisch gar nicht in der Lage, Raketen längerer Reichweite, zum Beispiel aus dem Iran, abzuwehren. Über solche Flugkörper, die Paris, Berlin oder Warschau bedrohen könnten, verfügt der Iran noch nicht. Doch selbst wenn das der Fall wäre: MEADS oder Patriot-Abwehrsysteme können grundsätzlich gegen Raketen längerer Reichweite wegen deren Flugbahn und Geschwindigkeit nichts ausrichten.

Trotzdem könnte die Raketenabwehrdebatte der NATO dazu beitragen, dass MEADS doch noch nicht vollkommen abgeschrieben wird. Darauf setzen auch die Betreiberfirmen, der amerikanische Lockheed-Konzern und das deutsch-britisch-italienische Konsortium MBDA. Der Hintergrund: In Europa werden durch MEADS gegenwärtig rund 800 Arbeitsplätze gesichert. Wenn die Entwicklungsphase von MEADS in zwei Jahren abgeschlossen ist, dann haben die USA möglicherweise einen neuen Präsidenten, so die Hoffnung der MEADS-Befürworter. Auch die Bundesregierung könnte sich dann wieder neu orientieren, meint der Kieler Professor Joachim Krause:

O-Ton Krause
„Dann wird man die Frage stellen müssen für diese Fähigkeiten, die wir brau-chen – Schutz von Einsatztruppen plus Schutz oder Mitwirkung im Rahmen des NATO-Raketenschirmes für Europa - was sind dort die Alternativen? Und da kann es durchaus sein, dass MEADS, das dann als Prototyp vorliegt, sich durchaus als kostengünstig erweisen wird.“

Eine mögliche Alternative zu MEADS wäre, weitere Patriot-Raketen zu moder-nisieren. Dies könnte man der Öffentlichkeit und der NATO als deutschen Beitrag zur Raketenabwehr verkaufen, auch wenn diese ebenfalls bestenfalls gegen Raketen mit einer Reichweite von 1.000 Kilometern einsetzbar wären – und damit keine Mittelstreckenraketen aus dem Iran abwehren könnten.

Angesichts der Sparzwänge, denen sich die Bundeswehr ausgesetzt sieht, ist eine Wiederauferstehung von MEADS allerdings äußerst unwahrscheinlich.

Flocken:
Trotzdem ließ das Verteidigungsministerium im Februar den Haushaltsaus-schuss wissen, bis Ende des Jahres würden Pläne für eine MEADS-Alternative ausgearbeitet.

* Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 7. Mai 2011; www.ndrinfo.de

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