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Nicht notwendig und zu teuer? Die geplante NATO-Raketenabwehr

Gespräch mit Dr. Bernd W. Kubbig, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung *

Andreas Flocken (Moderation):
Präsident Obama hat kurz nach Amtsantritt die Pläne seines Vorgängers gestoppt, in Polen und Tschechien Abfangraketen bzw. eine Radaranlage für das US-Raketenabwehrsystem zu stationieren. Stattdessen sollen schon bald im Mittelmeer US-Kriegsschiffe kreuzen, die mit Aegis- oder - wie mancher sagt – „Agis“-Abwehrraketen ausgestattet sind. Dieses Waffensystem soll in der Lage sein, anfliegende Kurz- und Mittelstreckenraketen abzufangen. Auf dem NATO-Gipfel in zwei Wochen in Lissabon will die Allianz über einen eigenen Raketenabwehrschirm entscheiden. Er soll das Territorium aller Bündnismitglieder schützen. Hierüber habe ich mit Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung gesprochen. Ich habe Bernd W. Kubbig zunächst gefragt, ob die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs für das Abwehrsystem nur noch eine Formsache ist:


Interview Flocken / Dr. Bernd W. Kubbig

Kubbig: Es sieht ganz so aus, dass die NATO einem solchen System zustimmt. Aber aus meiner Sicht bedeutet das, dass sie einer neuen Amerikanisierungswelle der NATO zustimmt, denn die USA betreiben weitgehend eine Politik des Fait accompli, also der vollendeten Tatsachen.

Flocken: Das heißt, Sie kritisieren eine mögliche Zustimmung zu einem NATO-Raketenabwehrsystem. Warum?

Kubbig: Ich stelle zunächst fest, dass das, was die Obama-Administration mit neuen Elementen der NATO anbietet, etwas ist, das die Handschrift der Demokratischen Partei im amerikanischen Kongress trägt. Um sich von der Bush-Administration der Republikaner abzusetzen, haben die Demokraten immer gesagt, wir wollen, dass unser Abwehrsystem in die NATO integriert wird. Wenn die USA das System anschaffen, dann ist das in erster Linie US-Unilateralismus auf See. Und das heißt, dass die meisten Abwehrwaffen auf den Aegis-Schiffen der USA auf See stationiert sein werden, und sie werden nicht in die NATO eingebunden. Das ist etwas rein Amerikanisches. Das Problem ist jedoch, dass die NATO bemüht ist, diesen NATO-Kontext herzustellen.

Flocken: Das heißt, aus Ihrer Sicht ist das ein Etikettenschwindel; es ist gar kein NATO-Raketenabwehrsystem, sondern es ist in erster Linie ein US-Raketenabwehrsystem.

Kubbig: Es ist in erster Linie ein US-Raketenabwehrsystem, schon allein wegen der mehr als hundert Abfangraketen auf den Aegis-Schiffen. Und zweitens gibt es eine bilaterale Schiene. Und hier zeigt sich die Handschrift der Republikaner im amerikanischen Kongress, also der Partei des damaligen Präsidenten George Bush. Und die drückt sich darin aus, dass Washington jetzt bereits mit Warschau und mit Rumänien Verträge abgeschlossen hat für die Aufstellung von Abwehrflugkörpern. Auch hier sehen Sie, das ist nicht unbedingt eine NATO-Maßnahme. Zwar soll es auch einen NATO-Beitrag geben. Der wird meiner Meinung nach aber sehr gering sein.

Flocken: Begründet wird ja die geplante Raketenabwehr mit der Bedrohung Europas und der USA durch Raketen aus sogenannten Schurkenstaaten. Genannt werden ja immer wieder der Iran und auch Nordkorea. Wie schätzen Sie denn die Bedrohung ein?

Kubbig: Generalsekretär Rasmussen spricht sogar von bis zu 30 Ländern, die eine Bedrohung darstellen könnten, weil sie Raketen haben. Das halte ich für einen Etikettenschwindel, weil auch Länder wie Israel und Indien dabei sind, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie weder die USA noch Europa angreifen werden. Ich gehe davon aus, dass der Iran in der Tat für die Vereinigten Staaten von Amerika eine potenzielle Bedrohung ist. Der Iran ist auch eine Bedrohung für Israel. Wir leben aber in Europa und das heißt, es gibt meiner Kenntnis nach keine einzige Erklärung von Ahmadinedschad, in der er sagt, dass er in irgendeiner Form Europa angreifen will oder unter Druck setzen will. Es gibt also hier von Seiten des Iran gegenüber Europa keine Gefahr.

Flocken: Aber der Iran arbeitet doch an einem Atomprogramm und steht unter dem Verdacht, auch Atomwaffen herstellen zu wollen. Außerdem verfügt der Iran über Kurz- und Mittelstrecken-Raketen und versucht, diese auch zu modernisieren. Da ist es doch eigentlich nachvollziehbar, dass die NATO-Länder - vor allem auch die Türkei - sich vor einer möglichen Raketenbedrohung schützen wollen. Denn die Türkei ist ja ein unmittelbarer Anlieger des Iran.

Kubbig: Ich bestreite überhaupt nicht, dass der Iran diese Ambitionen hat. Aber die Frage ist, ob die gegen Europa gerichtet sind. Und dafür sehe ich keinen Grund. Die Türkei, die Sie ansprechen, ist übrigens ein Land, das gute Beziehungen zu Teheran hat. Und hier gerät auch NATO-Generalsekretär Rasmussen oder die NATO in Erklärungsnot. Denn von Seiten der Türkei sieht man keinen Abwehrbedarf gegenüber einem Kooperationspartner Iran.

Flocken: Die NATO, insbesondere NATO-Generalsekretär Rasmussen sagt ja auch, dass die vorhandenen bzw. geplanten europäischen Raketen-Abwehrsysteme vernetzt werden sollen. Auf diese Weise will man einen Raketen-Schutzschirm für ganz Europa aufbauen. Gibt es denn in der NATO ausreichend Systeme für so ein flächendeckendes Abwehrsystem?

Kubbig: Das was Herr Rasmussen vorhat, war zurzeit der Bush-Administration sinnvoll. Bush hatte das Problem, zu erklären, warum er ausgerechnet die in Europa zu stationierenden Abfangraketen gegen noch nicht existierende [iranische] Langstreckenraketen aufstellen wollte. Die US-Administration sagt unter dem Druck des amerikanischen Kongresses zu Recht, wenn wir etwas tun wollen, dann müssen wir uns gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen schützen, die es bereits gibt. Soweit gehe ich mit. Das Problem für Herrn Rasmussen ist nur, dass die Amerikaner jetzt dieses System vorlegen...

Flocken: ... welches System?

Kubbig: Das System, mit dem man sich gegen iranische Mittel- und Kurzstreckenraketen schützen will.

Flocken: ...das Aegis-Raketenabwehrsystem, das auf Schiffen auf See stationiert wird.

Kubbig: Genau. Das Neue an dem Abwehrsystem der Obama-Administration ist ja, dass es vor bereits bestehenden Kurz- und Mittelstreckensystemen des Iran schützen will. Das war unter Bush anders. Und das was Generalsekretär Rasmussen jetzt als NATO-Raketenabwehr anbietet, als ein gemeinsames System des Bündnisses, das können die Amerikaner mit den auf See gestützten Systemen ganz allein. Und das sagen sie auch. Mein Punkt ist, dass in dem Augenblick, wo man das neue vor allem auf Schiffen stationierte Aegis-Abwehrsystem der Amerikaner hat, hat man mit dem, was die NATO zusätzlich möchte, eine Dublette. Und darin besteht die neue Lage und auch die Erklärungsnot des NATO-Generalsekretärs.

Flocken: Sie sagen das NATO-Raketenabwehrsystem ist eine Dublette zu den auf den US-Kriegsschiffen geplanten Aegis-Raketen, die auch für Schutz sorgen sollen. Warum will denn dann die NATO ein eigenes NATO-Raketen-Abwehrsystem?

Kubbig: Es gibt zwei Antworten darauf. Ein Grund ist die Handschrift der Demokraten im amerikanischen Kongress, die sich von Bush und seinem Bilateralismus mit Polen und mit Tschechien absetzen wollen. Die Demokraten sagen: Wir wollen ein NATO-System. Und zweitens hat natürlich auch die NATO mit ihren großen Problemen, zu erklären, warum es sie eigentlich noch gibt, ein Interesse daran, eine transatlantische Schiene aufzubauen. Es gibt von beiden Seiten ein Interesse an dem Abwehrschirm. Aber die wirkliche technologische Grundlage ist aufgrund der großen Asymmetrie wirklich sehr, sehr brüchig.

Flocken: Gibt es in der NATO denn überhaupt solche Systeme, die man vernetzten kann?

Kubbig: Ja die gibt es.

Flocken: Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Kubbig: Es gibt in der NATO das Patriot-System, künftig möglicherweise das MEADS-System und die Franzosen haben Aster. SAMP-T haben sie gemeinsam mit Italien entwickelt. Diese Systeme gibt es. Aber es sind Systeme, die entwickelt worden sind und die bisher eingesetzt werden sollten, um die Truppen in Einsätzen außerhalb des NATO-Gebietes zu schützen. Und dafür mögen sie ja geeignet sein. Aber es muss erst noch belegt werden, dass diese europäischen zu vernetzenden Systeme wirklich einen weiteren Sicherheitsbeitrag leisten können, das bezweifel ich aber. Wir haben es mit einer Dublette zu tun, die uns sehr sehr teuer kommen kann. Denn mit dem neuen Aegis-System können die Amerikaner alles alleine, jedenfalls sagt das das Pentagon. Ab 2018 gibt es einen vollständigen Schutz, und von dem geringen Beitrag der europäischen Staaten, wenn überhaupt, ist dabei nicht die Rede.

Flocken: NATO-Generalsekretär Rasmussen geht aber von nur geringen Kosten für die NATO-Raketenabwehr aus. Von ungefähr 200 Millionen Euro. Er sagt, das sei sehr günstig, das seien Kosten die über zehn Jahre verteilt sind, verteilt auf 28 Mitglieder. Er bezieht sich allerdings nur auf die Software, auf die Vernetzung der vorhandenen Systeme in der NATO. Das vermittelt aber in der Tat einen Eindruck, dass das Ganze nicht gerade sehr teuer ist.

Kubbig: Die Zahl für sich genommen sind wirklich Peanuts. Aber ich denke Generalsekretär Rasmussen weiß es besser. Er unterschlägt die wichtigsten Kosten.

Flocken: Welche Kosten?

Kubbig: Die Kosten, die die einzelnen Länder für die Abwehrsysteme wie die Patriot oder MEADS in Deutschland tragen müssen. Nehmen Sie allein das Abwehrsystem MEADS. Allein die Entwicklungskosten belaufen sich für die USA, Deutschland und Italien derzeit auf 3,4 Milliarden Euro. Das gibt einen Vorgeschmack auf die Produktionskosten für die Deutschen und für die Italiener. Hinzukommt natürlich auch das, was die Holländer und die Franzosen und Italiener zur Raketenabwehr beisteuern wollen. Das kann sehr, sehr teuer werden, wenn sie die eigenen Abwehrsysteme ausbauen. Und das heißt, es kommen wahrscheinlich Milliarden-Beträge auf uns zu, je nachdem wie stark man meint, die Abwehrsysteme auf nationaler Ebene ausbauen zu müssen.

Flocken: Wie wichtig ist denn die NATO-Raketenabwehr für die strategische Raketenabwehr der USA? Wären die US-Planungen, das eigene Territorium zu schützen ohne eine NATO-Raketenabwehr in Europa überhaupt sinnvoll?

Kubbig: Die Amerikaner gehen, wie ihre Vorgängerregierung davon aus, dass es ein mehrfach gestaffeltes Abwehrsystem geben soll ...

Flocken: ... das heißt, dass man schon frühzeitig über Europa Raketen abfängt, die auf die USA gerichtet sind.

Kubbig: Gegenwärtig nicht. Das ist ja das Neue. Gegenwärtig soll es darum gehen, dass Europa mit amerikanischen Abwehr-Raketen vor Kurzstreckenraketen und Mittelstreckenraketen etwa der Iraner geschützt wird. Aber das schließt nicht aus, dass wenn man an einem solch gestaffelten System festhält, dass zu irgendeinem Zeitpunkt eine nächste Obama-Regierung sagt, wir wollen auch Systeme in Europa, etwa in Polen aufstellen, die Langstreckenraketen des Iran schon von Europa aus abwehren. Aber hier sagt die Obama-Administration zurzeit, das sei nicht sinnvoll, weil die Iraner in absehbarer Zeit keine einsatzbereiten Langstreckenraketen haben. Das ist eine Erkenntnis, die ich für vernünftig halte. Die Ironie der Bush-Administration war ja, dass sie in Polen Abwehrsysteme gegen Raketen aufstellen wollte, die es noch gar nicht gab, während sie die vorhandenen Kurz- und Mittelstreckenraketen ignoriert hatte. Und das korrigiert die Obama-Administration jetzt.

Flocken: Kritiker sagen, von der Raketenabwehr profitiert in erster Linie die Rüstungsindustrie. Durch den Verkauf neuer Updates der Software und Ähnlichem. Ist das aber nicht eine eher platte Argumentation? Denn die Raketen-Bedrohung, zumindest durch den Iran, gibt es ja.

Kubbig: Ich halte diese Begründung auch für platt. Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass sie zu einem großen Teil leider stimmt. Der berühmte Militärisch-Industrielle-Komplex ist ein Dinosaurier, der jedes Jahr neues Futter bekommt. In den USA jedes Jahr acht bis neun Milliarden Dollar. Und der Dinosaurier braucht natürlich Futter. Aber das allein wäre zu kurz gegriffen. Es kommt hinzu, dass die Vereinigten Staaten das einzige Land der Welt sind, das eine Gesetzgebung von 1999 hat, die jede Regierung zwingt und auffordert, ein technisch effizientes, machbares und kostengünstiges Raketenabwehrsystem zum Schutz der Amerikaner aufzubauen. Und unter diesem Gesetz stehen alle Regierungen. Das heißt, sie haben eine Situation, in der sich ein sicherheitspolitisches Interesse und auch ein finanzielles ökonomisches Interesse kombinieren. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Raketenabwehrsysteme derzeit ein Exportschlager sind. Die USA exportieren in die Golf-Staaten die Angst vor dem aufstrebenden Iran, - mit guten Gründen. Es kann ihnen nichts Besseres passieren als auf diese Weise eine Eindämmungsstrategie zu betreiben. Raketenabwehrsysteme sind auch ein Teil dieser Strategie. Der Punkt ist: die Vereinigten Staaten unterminieren die beiden existierenden Rüstungskontrollregime. Und sie tragen selbst über kurz oder lang dazu bei, dass das Raketenabwehrsystem, das technologisch gar nicht so unterschiedlich ist von offensiven Raketen, sich weltweit weiterverbreitet. Und das kann keine gute Politik sein. Wenn man daher mit Moskau kooperieren will, und wenn die Europäer eigene Akzente setzen möchten, käme es meines Erachtens gerade jetzt darauf an, auf dem NATO-Gipfel eine koordinierte Exportpolitik der Zurückhaltung in den in Lissabon zu verabschiedenden Text aufzunehmen. In der Raketenabwehr darf man nicht nur das Heil sehen, sondern auch ein Problem.

* Aus: NDR Info; STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN; 6. November 2010; www.ndrinfo.de

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