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Krokodilstränen über Tod des KSE-Vertrags

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag


  • Russland kündigt KSE-Vertrag auf
  • NATO hatte den Vertrag nie ratifiziert
  • Der Westen trägt die Verantwortung für Russlands Schritt
  • Drückende militärische Überlegenheit des Westens
  • Einkreisung und strategische Entmachtung Russlands
  • Appell an Bundesregierung: Abrüsten!
Kassel/Hamburg, 8. November 2007 - Zum Ausstieg Russlands aus dem KSE-Vertrag erklären die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag:

Dass das russische Parlament (Duma) am 7. November den Ausstieg aus dem seit 1990 bestehenden KSE-Vertrag (Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa) beschlossen hat, kam nicht überraschend. Dass diese Entscheidung einstimmig fiel, zeigt indessen, wie geschlossen die Front in Russland durch alle politischen Lager in dieser Frage ist. Dieser Konsens, der auch von der Zivilgesellschaft getragen wird, ist nicht zuletzt auch ein Ergebnis des unnachgiebigen rüstungspolitischen Kurses des Westens, insbesondere der USA, gegenüber Russland.

Bis zuletzt hatten die USA versucht, Moskau von diesem Schritt abzuhalten. Allerdings nicht durch eigene Abrüstungsangebote und vertrauensbildende Maßnahmen, sondern durch Drohungen. Zu diesen Drohungen gehört die Absicht, eine Raketenabwehr in Tschechien und Polen aufzubauen und damit die Abschreckungswirkung der russischen strategischen Waffen zu unterlaufen. Alle Versuche Russlands, im Raketenabwehrstreit zu einem Einvernehmen mit den USA zu kommen, sind and der starren Haltung der Bush-Administration gescheitert.

Deutsche Politiker vergießen jetzt Krokodilstränen über die Aufkündigung des KSE-Vertrags. Dabei gehört Deutschland zu den anderen NATO-Staaten, die den Vertrag selbst nie ratifiziert haben. Wenn der abrüstungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich, erklärt, "Rüstungskontrollpolitik" dürfe "nicht zum Spielball nationalstaatlicher Interessen gemacht werden", so hat er im Prinzip zwar Recht. Solange er aber nur an die Adresse Russlands appelliert und die anderen für Russland wichtigen Punkte wie etwa die Raketenabwehrfrage als nicht dazugehörig erklärt, bleiben alle vermeintlich vermittelnden Vorschläge unseriös.

Weit entfernt davon, Russlands Aufrüstungspolitik gut zu heißen, stellt der Bundesausschuss Friedensratschlag fest, dass die russische Politik in erster Linie das Ergebnis der rüstungspolitischen Einkreisungspolitik der USA und der NATO ist.

Fakt ist nämlich,
  1. dass die NATO-Staaten seit Ende der 90er Jahre ihre Rüstungsanstrengungen erhöht haben; die militärische Überlegenheit der NATO gegenüber Russland beträgt bei Soldaten 3,5 zu 1, bei Kampfflugzeugen 3,3 zu 1, bei Kampfhelikoptern 3,7 zu 1, bei Überwasserkampfschiffen 5 zu 1 und bei U-Booten 3,3 zu 1; (die beiden letzten Kategorien sind allerdings nicht Bestandteil des KSE-Vertrages); bei Kampfpanzern gibt es eine zahlenmäßige annähernde Parität zwischen NATO und Russland;
  2. dass mit der Auflösung des Warschauer Vertrags und der Nichtauflösung der NATO die geostrategische Überlegenheit des Westens noch erdrückender geworden ist; mit der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO hat sie sich mittlerweile bis an die Grenzen Russlands vorgearbeitet; außerdem betreiben die USA zielstrebig den Plan, auch die Ukraine und Georgien in das westliche Militärbündnis aufzunehmen und damit die Einkreisung des europäischen Teils Russlands perfekt zu machen;
  3. dass die Stationierung der beabsichtigten Raketenabwehrsysteme in Tschechien und Polen das ohnehin labile Gleichgewicht zwischen den USA und Russland noch weiter zu Gunsten des Westens gewendet würde; alle Versicherungen der USA, die Raketenabwehr würde sich ausschließlich gegen die "Schurkenstaaten" Iran und Nordkorea richten, sind solange unglaubwürdig, als die russischen Vorschläge gemeinsamer Abwehrmaßnahmen von Washington abgelehnt werden;
  4. dass neben der NATO auch die nach Osten expandierende Europäische Union dabei ist, ihre militärischen Fähigkeiten weiter zu erhöhen (wie es im gescheiterten Verfassungsvertrag und nun wortgleich im Lissabonner "Reformvertrag" heißt; letztlich entsteht mit der militarisierten EU ein weiterer Militärpakt; Russland bleibt davon ausgeschlossen und muss sich zu Recht auch von dieser Seite in die Defensive gedrängt fühlen.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag appelliert an Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, die russische Kündigung des KSE-Vertrags als Versuch zu deuten, das aus den Fugen geratene militärische Gleichgewicht in Europa wieder in ein für Russland akzeptables Verhältnis zu rücken. Dies kann nach Auffassung der Friedensbewegung aber nur auf der Grundlage vereinbarter realer Abrüstungsschritte geschehen. Dies schlösse den Widerstand Deutschlands gegen die Raketenabwehrpläne der USA genauso ein wie eine Umkehrung des deutschen und EU-Aufrüstungskurses. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI haben die weltweiten Militär- und Rüstungsausgaben 2006 mit 1,3 Billionen US-Dollar wieder das Niveau vom Höhepunkt des Kalten Krieges erreicht. 45 Prozent davon entfallen auf die USA, 75 Prozent auf die NATO. Abrüstung muss zuallererst bei uns anfangen!

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag
Lühr Henken, Hamburg,
Peter Strutynski, Kassel


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