Streitfrage: Mit der Wehrpflicht auch den Zivildienst abschaffen?
Es debattieren: Dr. Jens Kreuter, Bundesbeauftragter, Dr. Bernd Niederland, "Volkssolidarität", und Ralf Siemens, Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung
Ein unsinniger Vorschlag
Von Bernd Niederland
Die geplante Verkürzung des Zivildienstes von neun auf sechs Monate wirkt wie eine Idee, die von Theoretikern am Schreibtisch aufgesetzt wurde. Dieser Vorschlag wird den Aufgaben und auch der Bedeutung des Zivildienstes im sozialen Bereich nicht gerecht. Der Zivildienst ist ein »Dienst am Menschen«. Der Zivi übernimmt ergänzende Tätigkeiten im sozialen Bereich, ob beim »Essen auf Rädern«, im Krankentransport oder in der Unterstützung bei Betreuungsaufgaben. Das heißt: Es handelt sich um zutiefst menschliche Beziehungsarbeit – sei es in der Kindertagesstätte (Kita), im Altenheim, in einer Pflegeeinrichtung oder einem Krankenhaus. Sie ist an Vertrauen gebunden und braucht Zeit, damit Vertrauen und Verständnis entstehen und wachsen können. Zivildienst ist auch soziales Lernen. Dafür sind sechs Monate viel zu kurz.
Schon in den letzten Jahren hat der Zivildienst durch die verkürzte Einsatzzeit von 15 auf neun Monate an Wirksamkeit verloren. Von den geplanten sechs Monaten würden die Zivis ab 2011 nach Einarbeitungszeit, Urlaub und Weiterbildungstagen höchstens vier bis fünf Monate effektiv einsetzbar sein. Viele Einrichtungen und Institutionen fragen sich schon heute, ob sich der bürokratische und praktische Aufwand überhaupt lohnt, einen Zivi für so kurze Zeit aufzunehmen. So hat sich auch in der Volkssolidarität die Zahl der Zivildienstleistenden in den letzten 15 Jahren von knapp 2000 auf 280 verringert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer sozialen Dienste und Einrichtungen vermissen die Unterstützung durch die Zivis dort, wo sie weniger geworden ist oder bereits fehlt. Gerade im Pflegebereich sind zusätzliche Kräfte für körperlich schwere Arbeit immer willkommen. Auch aus Kitas ist das Echo für die Unterstützung durch die Zivis positiv. Für viele Kinder ist es auch eine gute Erfahrung, einen Mann neben den meist weiblichen Erzieherinnen kennen zu lernen.
Sollte sich die Idee, den Zivildienst zu verkürzen, durchsetzen, so könnten sich auch die Aufgaben der Zivis verändern: Weg vom Sozialen, hin zu eher technischen Hilfstätigkeiten. Ich bezweifle, dass der Zivildienst dadurch an Attraktivität gewinnen würde. Mit Sicherheit wird er aber seinem Grundgedanken, jungen Männern soziale Arbeit näher zu bringen und dadurch ihre sozialen Kompetenzen zu erweitern, nicht mehr gerecht.
Man mag es sich nicht wünschen, aber der Zivildienst junger Männer könnte zum Auslaufmodell werden. Der Rückgang des Zivildienstes im Bereich der sozialen Arbeit ist sozialpolitisch durch wirksame Alternativen auszugleichen. Reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sollten verstärkt im sozialen Bereich geschaffen werden, auch durch öffentlich geförderte Beschäftigung. Wenn der Bund durch einen verkürzten Zivildienst tatsächlich bis zu 170 Millionen Euro einsparen sollte, könnten mit diesem Geld neue Arbeitsplätze geschaffen und gefördert werden. Freiwilligendienste, von öffentlicher Hand stärker als bisher finanziell unterstützt, könnten Aufgaben der Zivildienstleistenden übernehmen, solange sie keine reguläre Beschäftigung verdrängen. Die Verkürzung des Zivildienstes sollte nicht als eines der ersten Beispiele einer Sparmaßnahme im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen der schwarz-gelben Koalition in die Geschichte eingehen, auch nicht als »Testballon«, wie weit man mit dem Sparen im Sozialen gehen kann.
Vielleicht bringt die aktuelle Diskussion rund um den Zivildienst auch die zum Teil schwierige Situation im Pflegebereich den politisch Verantwortlichen wieder etwas näher. Klar ist: Aus der Sicht der Volkssolidarität muss soziale Arbeit, ob in der Pflege, der Kinder- und Jugendarbeit, der Behindertenhilfe oder der Unterstützung sozial Benachteiligter, politisch und gesellschaftlich besser unterstützt, gefördert und anerkannt werden.
Dr. Bernd Niederland, Jahrgang 1947, ist seit 1997 Bundesgeschäftsführer des Sozial- und Wohlfahrtsverbandes »Volkssolidarität«. Er ist Diplomlehrer für Biologie und Chemie sowie Mitglied im Vorstand des Paritätischen Gesamtverbandes.
An die Wehrpflicht gekoppelt
Von Jens Kreuter
Zur Diskussion um die Zukunft der Wehrpflicht in Deutschland kann der Zivildienst nichts beitragen. Solange es die Wehrpflicht gibt und solange junge Männer den Dienst an der Waffe verweigern, wird es einen Zivildienst geben. Wenn eine der beiden Voraussetzungen wegfällt, entfällt auch der Zivildienst.
Solange es aber den Zivildienst gibt, soll er für die jungen Männer so attraktiv wie möglich sein. So suchen sich 98 Prozent aller Zivildienstpflichtigen selber einen Platz, der ihren Interessen entspricht. Sie vereinbaren mit der Einrichtung den Beginn des Dienstes und legen gemeinsam die Einzelheiten des Einsatzes fest.
Zivildienstleistende werden in nahezu allen Bereichen der sozialen Arbeit, aber auch im Umwelt- und Naturschutz eingesetzt und leisten dort einen wichtigen Beitrag. In der Bewältigung der ihnen gestellten Aufgaben liegt die Chance, Erfahrungen zu sammeln und für das weitere Berufs- und Privatleben zu nutzen.
Die überwältigende Mehrheit der Zivis zieht am Ende ihres Dienstes ein positives Fazit. Über 90 000 Männer erhalten jedes Jahr einen intensiven Einblick in einen Bereich der sozialen Wirklichkeit unseres Landes, der ihnen sonst sehr wahrscheinlich verborgen geblieben wäre. Die Zivis engagieren sich, bringen frischen Wind in die Einrichtungen und werden von allen Beteiligten hoch geschätzt.
Alle diese guten und wichtigen Effekte des Zivildienstes sind aber, so willkommen sie auch sind, Nebeneffekte und können den Zivildienst nicht rechtfertigen. Nach der Überzeugung aller im Bundestag vertretenen Parteien kann das Ziel, junge Männer für soziale Fragen zu sensibilisieren und sie positiv zu prägen, keine Rechtfertigung für einen staatlichen Pflichtdienst sein. Die einzige Begründung für den Zivildienst ist die Wehrpflicht und diese ist alleine verteidigungspolitisch zu diskutieren.
Nun stellt sich in der aktuellen Situation aber die Frage nach einer Abschaffung überhaupt nicht. Der neue Koalitionsvertrag hält ohne Einschränkung an der Wehrpflicht fest. Wenn jetzt viele soziale Einrichtungen und ihre Verbände die geplante Verkürzung von Wehr- und damit auch Zivildienst beklagen, ist dies das größte Lob, das sie den Zivis aussprechen können. Die Dienststellen, die jetzt entscheiden, dass ein sechsmonatiger Zivildienst für sie (!) keinen Sinn mehr macht, werden entweder ihr Serviceniveau absenken oder andere Kräfte (und womöglich mehr Geld) einwerben müssen.
Neben dieser Perspektive droht die Perspektive der anerkannten Kriegsdienstverweigerer recht kurz zu kommen: Sie brauchen einen qualitativ hochwertigen, interessanten, lohnenden Zivildienstplatz. Und: Die meisten Zivis legen ihren Dienst bewusst in eine biografische Übergangssituation, zum Beispiel zwischen Abitur und Studienbeginn. Dann sind aber Anfangs- und Endzeitpunkt dieser Phase festgelegt, und oft bringt eine Verkürzung keinen wirklichen Zeitgewinn. Im Gegenteil: Wer künftig im Juli mit dem Zivildienst beginnt und Ende Dezember fertig ist, braucht eine Antwort auf die Frage, wovon er eigentlich leben soll, bis im September die Ausbildung oder im Oktober das Studium beginnt. Als Angebot für diese Gruppe wird diskutiert, auch im Zivildienst das Angebot einer freiwilligen Verlängerung einzuführen. In anderer Form gibt es ein solches Angebot bei der Bundeswehr schon lange.
Damit ist auch deutlich, dass es überhaupt keine Konkurrenz zwischen Zivil- und Freiwilligendiensten gibt. Junge Menschen, die sich im sozialen Bereich engagieren, ob – weil sie wehrpflichtig sind – als Zivi oder – wenn sie nicht wehrpflichtig sind – als Freiwillige, sind ein hoher Mehrwert für die gesamte Gesellschaft. Deswegen geht es auch jetzt darum, die Freiwilligendienste zu erweitern und attraktiver zu gestalten.
Solange es aber den Zivildienst gibt, motiviert der sehr positive Eindruck, den gegenwärtig alle Beteiligten – Zivis, Dienststellen, KlientInnen – voneinander haben, ihn weiter konstruktiv als Lerndienst zu gestalten.
Dr. Jens Kreuter, 1965 in Landshut geboren, ist seit Oktober 2006 Bundesbeauftragter für Zivildienst im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Er studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und Evangelische Theologie u. a. in Wuppertal und Bern. Jens Kreuter absolvierte Mitte der 1980er Jahre seinen Zivildienst in Nes Ammin in Israel.
Als billige Arbeitskräfte missbraucht
Von Ralf Siemens
Da leistet sich die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert immer noch eine allgemeine
Kriegsdienstpflicht, und die öffentliche Aufgeregtheit schlägt sich in der Wehklage nieder, die
Zivildienstleistenden können nicht mehr »richtig« eingesetzt werden. Es ist höchste Zeit, die
Diskussion um die Dienstverkürzung auf sechs Monate wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Der Zivildienst hat keine eigene Daseinsberechtigung. Er ist untrennbar mit der sogenannten
Wehrpflicht verbunden. Als Ersatz für den Militärdienst müssen ihn Wehrpflichtige leisten, die zuvor
in einem Antragsverfahren durch eine staatliche Behörde als Kriegsdienstverweigerer anerkannt
werden. In Krisenzeiten können sie bis zum 60. Lebensjahr zu einem kriegsunterstützenden
Zivildienst herangezogen werden. Dem Wehrdienst dienstrechtlich gleichgestellt, gilt auch im
Zivildienst das Prinzip von Befehl und Gehorsam. Wer eine dienstliche Anweisung nicht befolgt,
kann mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden.
Ein umfangreicher Katalog von Disziplinarmaßnahmen steht den in der Regel sich sozial
verstehenden Trägern des Zivildienstes zur Verfügung, um Dienstleistende per Rohrstockpädagogik
zum »gewissenhaften« Dienen zu motivieren. Ausgangsbeschränkung, Geldbuße und Soldgruppen-
Degradierung sind hier die unschönen, aber durchaus zweckmäßigen Mittel.
Und wer den Zivildienst wegen seiner militärischen Einbettung und wegen seines Zwangscharakters
aus grundsätzlicher Überzeugung nicht leisten kann, der muss sich vor einem Gericht verantworten.
Ende September dieses Jahres verhängte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten gegen einen 25-
jährigen Totalverweigerer, der der Einberufung zum Zivildienst aus Gewissensgründen nicht
nachkam, eine sechsmonatige Freiheitsstrafe wegen »Dienstflucht«. Die Strafaussetzung ist von der
Auflage abhängig gemacht worden, 250 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Richter
schloss eine mildere Strafe mit dem Argument aus, sie sei »zur Wahrung der Disziplin im Zivildienst
unerlässlich«.
Der Alarmismus von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, bei sechsmonatiger Dauer lohne sich der
Einsatz von Zivildienstleistenden nicht mehr, ist entlarvend. Offensichtlich werden sie als billige
Arbeitskräfte regelmäßig rechtswidrig eingesetzt. Rechtlich zulässig aber ist ihr Einsatz nur, wenn er
arbeitsmarktneutral erfolgt. Wäre ihr Einsatz tatsächlich auf Hilfstätigkeiten mit kurzen Anlernzeiten
beschränkt, dann wären auch sechs Monate Dienst problemlos zu organisieren. Wenn darüber
hinaus Zivis auch noch in Arztpraxen und in privatwirtschaftlich organisierten Einrichtungen
eingesetzt sind, dann dienen sie nicht dem Allgemeinwohl, sondern den Profitinteressen von
Unternehmern und Aktionären – gegenwärtig tut dies jeder dritte Zivildienstleistende.
International ist die Wehrpflicht ein Auslaufmodell. In 21 der 27 EU-Mitgliedstaaten, in 23 der 28
NATO-Mitgliedstaaten wird mittlerweile auf die Wehrpflicht verzichtet. Warum nicht auch in
Deutschland? Es gibt keinerlei militärische Bedrohung, Deutschland ist von Freunden umzingelt.
Aber ohne Wehrpflicht fehlt der Transmissionsriemen zwischen der abgeschotteten Welt der Truppe
und der Zivilwelt. Nicht, weil die Truppe ohne Wehrpflicht ein demokratiefeindliches Eigenleben
entwickeln würde (da helfen auch Rekruten nicht), sondern weil die Bundeswehr ohne Wehrpflicht
an gesellschaftlicher Akzeptanz und Normalität verlöre. Jedes Jahr werden potenziell mindestens
400 000 Haushalte mit der Bundeswehr konfrontiert, weil der Sohn, der Bruder, der Enkel, der
Freund zur Musterung vorgeladen wrden, jedes Jahr lassen hunderttausende junge Männer Eingriffe
in ihre Lebens- und Berufsplanung zu. Diese Normalität ist der Wert der Wehrpflicht. Wer Kriege
führen will, und der neue Verteidigungsminister hat angekündigt, dass die derzeitigen Einsätze der
Bundeswehr »nicht ihre letzten« seien, der will auch ihre gesellschaftliche Normalität organisieren.
Dafür ist die Wehrpflicht ein wichtiger Baustein.
Ralf Siemens, 1961 geboren, hat nach dem Wehrdienst Politologie studiert. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet er in der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (asfrab). Er hat zahlreiche Beiträge zu Wehrpflicht und Bundeswehr geschrieben und berät Kriegsdienst- und Wehrpflichtverweigerer.
* Alle drei Beiträge aus: Neues Deutschland, 20. November 2009
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