Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Staatlicher Schutzschirm

Der Chef des Inlandsgeheimdienstes geht – alles andere bleibt? Fragen zu den Verbindungen des Verfassungsschutzes zur Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«

Von Wolf Wetzel *

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm, ist zurückgetreten. Hätte vor ein paar Monaten jemand behauptet, daß zur »Aufklärung« der neonazistischen Mordserie der Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) Akten vernichtet, wichtige Erkenntnisse unterschlagen und Untersuchungsausschüsse belogen werden, wäre er als Verschwörungstheoretiker lächerlich gemacht worden. Wenn vor Monaten jemand erklärt hätte, daß die verschiedenen Geheimdienste nicht dilettantisch, sondern perfekt zusammengearbeitet hatten, und über ausgezeichnete Kontakte zum neonazistischen »Thüringer Heimatschutz« (THS) verfügten, also zum Umfeld des daraus hervorgegangenen NSU, wäre ihm gleiches widerfahren.

Jetzt sind diese berechtigten Annahmen gerichtsverwertbar: Zwischen den Jahren 1997 und 2003 waren der Thüringer und bayerische Verfassungsschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst (MAD) an der »Operation Rennsteig« beteiligt. Das Ziel dieser koordinierten Aktion war eindeutig: »Im Rahmen der operativen Zusammenarbeit des BfV mit dem LfV Thüringen und dem MAD unter der Bezeichnung ›Rennsteig‹ von 1997 bis 2003 hat das BfV… Werbungsfälle mit THS-Bezug eröffnet, aus denen… erfolgreiche Werbungsmaßnahmen resultierten.« (Schreiben des BfV an den Generalbundesanwalt vom Dezember 2011, Frankfurter Rundschau (FR) vom 16.6.2012) Der Erfolg konnte sich sehen lassen: »Demnach war fast jeder zehnte Aktivist in der damaligen Neonazivereinigung ein Spitzel des Verfassungsschutzes.«

Die Frage also, ob die beteiligten Geheimdienste problemlos den drei NSU-Mitgliedern in den »Untergrund« folgen konnten, ob eines von ihnen gar zu den »erfolgreichen Werbungsmaßnahmen« zählte, könnten die Akten beantworten, die nun vernichtet wurden. Würden die Akten die bisherige Legende beweisen können, man habe die Spur zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren, wären sie nicht geschreddert worden!

Staatlicher Begleitschutz

Obwohl die Polizei im Januar 1998 in Jena eine Bombenwerkstatt der späteren Mitglieder des NSU entdeckte, über 1,4 Kilo Sprengstoff und Rohrbomben beschlagnahmte, wurden Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nicht verhaftet. Sie nutzen diese staatliche Fürsorge und tauchten ab. Wie sich diese staatliche Beihilfe abspielte, erzählte die Mutter von Uwe Böhnhardt in einem ZDF-Interview sehr eindrucksvoll: Auf dem Weg zur Garage warnte ein Polizeibeamter Uwe Böhnhardt mit den Worten: »Jetzt bist du dran… ein Haftbefehl ist unterwegs.« Was daraufhin passierte, beschreibt Frau Böhnhardt so: »Die Polizisten sind weitergegangen, unser Sohn hat sich umgedreht, ist zu seinem Auto gegangen und ist weggefahren. Das ist wie in einem schlechten Film.« In der Dokumentation »Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios« (26.6.2012) fragt sich die Mutter von Uwe Böhnhardt zu Recht: »Was ist da für ein Spiel gelaufen?«

Im April 2006 wurde Halit Yozgat, Inhaber eines Internetcafés in Kassel, ermordet. Kassel liegt in Hessen, und wie es der kometenhafte Zufall wollte, war zur Tatzeit auch Andreas Temme (Spitzname »Kleiner Adolf«) zugegen, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Unmittelbar zuvor hatte er »mit einem von ihm geführten V-Mann aus der Kasseler Neonaziszene telefoniert«. Genau jener Neonazi war nach Informationen der FR vor seiner Anwerbung »dreimal bei Kundgebungen in Thüringen«. Ebenfalls bekannt ist, daß die NSU-Mitglieder ihre Morde quer durch Deutschland dank exzellenter lokaler Kontakte zu Neonazis planen und durchführen konnten. Reiner Zufall also, daß sich die Wege eines Mitarbeiters des hessischen Verfassungsschutzes, eines Neonazis aus Kassel und die der Mitglieder der NSU an jenem Mordtag gekreuzt hatten?

Würde irgend jemand dieser Serie von Zufälligkeiten Glauben schenken, wenn es um die Aufklärung einer »linken Straftat« ginge? Als Ermittler darauf bestanden, weitere Zeugen in diesem Fall zu befragen, bekamen sie als Antwort vom damaligen Innenminister und heutigen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU): »Ich bitte um Verständnis dafür, daß die geplanten Fragen… zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.«

Es wurde lückenlose Aufklärung versprochen. Dazu zählt also nicht nur, wer die Morde, die dem NSU zugerechnet werden, begangen hat. Dazu würde auch gehören, allen Hinweisen nachzugehen, die auf strafbare Handlungen im Amt hindeuten. Das Strafrecht unterscheidet drei verschiedene Arten des Tatverdachts. Die geringste Stufe bildet dabei der Anfangsverdacht gemäß Paragraph 152 und 160 Strafprozeßordnung: »Ein Anfangsverdacht ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für Straftaten vorliegen. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte sind dann gegeben, wenn die Möglichkeit einer strafbaren Handlung besteht.«

Ermittlung gegen Minister

Gehen wir einmal davon aus, daß ein solcher Anfangsverdacht gegenüber einem Innenminister nicht schwerer oder leichter wiegen darf als gegenüber jedem anderen Verdächtigen, dann stellt sich angesichts der zahlreichen tatsächlichen Anhaltspunkte die Frage, warum bis heute nicht gegen die jeweiligen Innenminister wegen des Verdachts der Strafvereitelung ermittelt wird? Warum wurde bis heute nicht wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ermittelt?

Obwohl sich bis heute die Beweise und Hinweise stapeln, daß der Staat, also seine Verfolgungsbehörden, weder die Spur zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern verloren hatten noch die Behauptung eine Sekunde standhält, man habe keine »heiße Spur« gehabt, um den neonazistischen Terror zu stoppen, klammern sich alle Aufklärer, ob in der Gestalt von Untersuchungsausschüssen oder in Gestalt der Generalbundesanwaltschaft an der aberwitzigen Losung, man habe jahrelang im Dunkeln getappt. Aber auch die Leitmedien halten sich eisern an diese Verlautbarungsformel. Da erzählen im ZDF die Eltern von Uwe Böhnhardt in aller Ausführlichkeit von mehreren Treffen mit ihrem inzwischen abgetauchten Sohn, von Anrufen, die abgehört wurden, von Nachrichten im Briefkasten, obwohl der Wohnort der Familie mit Sicherheit observiert wurde… und die Redaktion gibt trotz alledem der Dokumentation den Titel »Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios«. Warum halten alle »Aufklärer« an dieser irreführenden Behauptung fest, reden einen Staat blind, obwohl es genug Belege und Hinweise gibt, daß dieser in Gestalt von Kontaktpersonen, von V-Männern quasi mit am Tisch der NSU-Mitglieder saß?

Das Phantasma von blinden Staat, von Behörden, die sich 13 Jahre lang von Panne zu Panne hangelten, hat einen enormen politischen Vorteil, einen geradezu widerlichen Zugewinn: Handelt es sich um einen Staat, der sich selbst im Weg stand, dessen Verfolgungsorgane sich selbst blockierten, dann ist die Lösung ganz einfach: Man optimiert alles, die Geheimdienste, die Kompetenzwege. Man bündelt und zentralisiert, was angeblich verstreut in den verschiedenen Geheimdiensten und Polizeidienststellen gesammelt wurde. Am Ende einer geradezu terroristischen Verbundenheit mit neonazistischen Mordtaten steht dann nicht die Auflösung jener Staatsschutzorgane, sondern ihre Omnipotenz, ihre weitere Ermächtigung.

Ginge man hingegen von der evidenten Annahme aus, daß nicht der Dilettantismus, sondern die hoch konspirative Zusammenarbeit verschiedener Verfolgungsbehörden das »Abtauchen« der späteren NSU-Mitglieder ermöglicht hat, daß all die Möglichkeiten, die neonazistischen Mordserie zu stoppen, nicht an der fehlenden Koordinierung, sondern aufgrund von Führungsqualitäten, die bis in die zuständigen Innenministerien hineinreichten, vereitelt wurden, dann stellen sich ganz andere Fragen: Wer hatte Interesse daran, daß die bestens überwachten Mitglieder des »Thüringer Heimatschutzes« »abtauchen« konnten? Wer organisierte den staatlichen Schutz der neonazistischen Terrorgruppe NSU? Wer hat ein politisches Interesse daran, daß in diesem Land neonazistischer Terror über viele Jahre hinweg verübt werden konnte? Wer sorgt(e) dafür, daß Geheimdienste im rechtsfreien Raum agieren können? Wer garantiert bis heute, daß Geheimdienste nicht kontrolliert, das Decken und Begehen von schweren Straftaten nicht verfolgt wird? Woran liegt es, daß eine Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien gar kein Interesse daran hat, ihrer parlamentarischen Kontrollpflicht nachzukommen? Wieviel Übereinstimmung herrscht also unter diesen Parteien, daß das, was politisch nicht mehr kontrolliert wird, weiterhin geschehen kann? Wie nahe liegen also »national befreite Zonen« der Neonazis und rechts- und straffreie Zonen der Verfolgungsbehörden beieinander ...

* Wolf Wetzel ist Mitglied der Anti-Nazi-Koordination/ANK in Frankfurt am Main. Langfassung des Textes: www.wolfwetzel.wordpress.com

Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. Juli 2012



Zurück zur Verfassungsschutz-Seite

Zur Seite "Rassismus, Rechtsradikalismus, Neonazismus"

Zurück zur Homepage