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Das hochverräterische "ND"

Josef Foschepoth bietet eine weitere Geschichte von Horch und Guck

Von Arno Klönne *

Von 1949 bis Beginn der 1970er Jahre wurden mehr als 100 Millionen Postsendungen geöffnet, ausgewertet, zum großen Teil verbrannt oder geschreddert, von Amts wegen, um der staatlichen »Sicherheit« willen. Unzählige Telefonleitungen wurden zu demselben Zweck abgehört. Ein riesiger Aufwand von Arbeit in öffentlichen Diensten, aber abgeschirmt vor der Öffentlichkeit, geleistet von verpflichteten Schnüfflern und Lauschern - das alles im krassen Widerspruch zur geltenden Verfassung, in der das Post- und Fernmeldegeheimnis zum »uverletzlichen« Recht der Bürgerinnen und Bürger erklärt worden war.

Das weiß man doch alles längst, mag der Leser jetzt einwenden. Die Geschichte der DDR ist ja intensiv aufgearbeitet. Doch nicht über ostdeutsche-, sondern westdeutsche Verhältnisse berichtet das Buch des Historikers Josef Foschepoth. Erstmals sind darin Berge von Akten analysiert und ausgewertet, die in den Archiven von Ministerien der alten Bundesrepublik als »Verschlußsachen« lagerten. Zufällig sei er vor etlichen Jahren auf eine solche Akte gestoßen und »seitdem aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen«, merkt der Autor an. Höchst erstaunt werden auch die meisten Leser sein, denn das Bild von einer westdeutschen Republik, in der damals alles schön freiheitlich und gesetzeskonform zugegangen sei, bekommt durch die Lektüre des Buches mehr als nur Kratzer; es erweist sich als täuschend.

Foschepoth schildert in administrativen Details, von wem und wie die flächendeckende Überwachung des Post- und Telefonverkehrs in Westdeutschland, soweit er politisch interessant erschien, nach der Staatsgründung praktiziert wurde; im Blick war dabei in erster Linie die Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen. Es ging dabei um taktische und strategische Ziele im Kalten Krieg. »Feindliche Elemente« sollten identifiziert, potenzielle »V«-Leute ausfindig gemacht werden, »Ostpropaganda« galt es zu vernichten, für Westpropaganda Ansatzpunkte zu ermitteln. Über die Frontlinie gab es keinen Zweifel. »Asien steht an der Elbe«, hatte Konrad Adenauer diese definiert. Als Feind war der Kommunismus im Visier, präziser: Jede politische Gesinnung oder Aktivität, die unter Kommunismusverdacht gestellt werden konnte.

Die Alt-Bundesrepublik war, näher hingesehen, lange Jahre hindurch kein souveräner Staat, sie stand unter der Kontrolle der westlichen Besatzungsmächte; demgemäß lag die Regie für Post- und Telefonüberwachung bei den in Westdeutschland operierenden Nachrichtendiensten Frankreichs, Großbritanniens und vor allem der USA. Diese zogen die deutsche Postverwaltung zur Hilfe heran. Nach Abschluss der Pariser Verträge 1955 und der Eingliederung Westdeutschlands in die NATO herrschte »beschränkte Souveränität«. Vorbehaltsrechte der westlichen Allierten sicherten unter anderem auch deren Zugriff auf postalische und telefonische Kommunikation. Die überwachende Tagesarbeit hatten nun im alliierten Auftrag zum großen Teil der westdeutsche Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst zu organisieren. Die Bundesregierung hatte diesbezüglich geheime Vereinbarungen mit den Westmächten getroffen - »ein schwerer Verfassungsbruch«, schreibt Foschepoth. Denn im Grundgesetz war das Post- und Fernmeldegeheimnis als nicht aufhebbares Grundrecht verbürgt, eine einzelgesetzliche Ausnahmeregelung bestand nicht, sie wurde erst 1968 im Zusammenhang mit den Notstandsgesetzen eingeführt.

Die massenhafte klandestine Post- und Telefonüberwachung stieß mitunter auf Bedenken bei ausführenden deutschen Postbediensteten und auch bei Justizdienern: Dürfe der Staat sie für ungesetzliche Tätigkeiten in Anspruch nehmen? Da gab es juristischen Trost - mittels der »Rechtsgüterabwägung«. Die Treuepflicht des Beamten verlange, dass dieser das staatliche Interesse an »Sicherheit« höher schätze als ein Grundrecht in der Verfassung.

Wodurch sahen die politischen Machtgruppen in der Ära Adenauer den westdeutschen Staat »gefährdet«? Mit einem Einmarsch von »Osttruppen« oder einem Putsch der westdeutschen Kommunisten rechneten sie rationalerweise nicht. Foschepoth legt dar, dass die Überwachung in den 1950er Jahren die Funktion hatte, die teildeutsche politische Weichenstellung gen Westen abzusichern, also Opposition gegen die Wiederbewaffnung und gegen die Einbindung in die NATO in Misskredit zu bringen und gesellschaftlich auszugrenzen. Schon vor dem Verbot der KPD im Jahre 1956 gab es in großer Zahl Ermittlungsverfahren und Prozesse gegen Westdeutsche, die »östlicher« oder neutralistischer Neigungen bezichtigt wurden. Im Amtsdeutsch wurde die Lektüre von politischen Publikationen aus der DDR, z. B. der Zeitung »Neues Deutschland«, als »seelische Vorbereitung« auf späteren »Hochverrat« zum strafrechtlichen Indiz gemacht. Seit den 1960er Jahren wurde dann in der Folge aufgedeckter »Prominenzfälle« (Foschepoth bringt die Affäre um den Atomwissenschaftler Klaus Traube in Erinnerung) das Guck- und Horchsystem westdeutscher Art zumindest ansatzweise zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzung; dass dieses Thema heute keine Bedeutung mehr habe, wäre allerdings eine allzu optimistische Einschätzung.

Die Geschichte politischer Repression im vom NS-Staat befreiten Deutschland nach 1945, das wird aus diesem Buch deutlich, ist realitätsgerecht nur mit dem Blick auf die gesamtdeutsche Situation jener Jahre zu schreiben. Die verfeindeten deutschen Teilstaaten, noch dazu unter Kontrolle der jeweiligen externen Führungsmächte, bewiesen ihre Verwandtschaft in manchen Merthoden, innere »Sicherheit« zu erzwingen. Auch die alte Bundesrepublik wies Eigenschaften auf, die alles andere als rechtsstaatliche waren.

Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2012. 378 S., geb., 34,99 €.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Dezember 2012


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