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Sächsische Sammelwut

Auch der Verfassungsschutz pfeift auf Datenschutz

Von René Heilig *

Der 55-jährige Bergsteiger Lothar B., der jüngst in den Oberstdorfer Bergen abgestürzt ist, wurde erst nach fünf Tagen durch Zufall entdeckt. Hätte er sein Handy eingeschaltet gelassen, so wird von interessierter Seite betont, hätte man ihn viel früher gefunden. Ein Hoch dem IMSI-Catcher. Oder doch nicht? Das Beispiel Sachsen.

Es gibt elektronische Wunderdinger, die liefern Informationen über jeden an jedem Ort. Selbst dann, wenn das Handy keinen Empfang hat. Vorfälle im Freistaat Sachsen belegen jedoch bei Sicherheitsbehörden höchst willkommene »Nebenwirkungen«.

Zu Jahresbeginn versuchten Demokraten in Dresden einen Aufmarsch von Neonazis durch friedliche Blockaden zu verhindern - und weckten damit Behördenneugier. Die Polizei initiierte eine sogenannte nichtindividualisierte Funkzellenabfrage. Insgesamt neun Stunden lang wurden an 14 Örtlichkeiten Daten von Handybenutzern »abgegriffen«, insgesamt 138 630 Verkehrsdaten (Seriennummern der Mobiltelefone und die dazugehörigen Telefonnummern, Standortdaten, Telefonnummern eingehender und abgehender Anrufe und Kurznachrichten sowie Datum und Uhrzeit der Kommunikation). Diese Verkehrsdatensätze enthielten 65 645 Anschlussnummern, von Demonstranten, Passanten Anwohnern, aus denen 460 Personen herausgefiltert wurden.

Die Daten wurden rechtswidrig auch für Ermittlungsverfahren wegen Störung einer Versammlung nach Paragraf 21 Versammlungsgesetz herangezogen. Der für diese nachträgliche Maßnahme erforderliche richterliche Beschluss war durch die Staatsanwaltschaft vorformuliert und wurde ohne Änderung vom Gericht abgezeichnet.

Später erhielt die SoKo noch 896 072 Datensätze vom Landeskriminalamt (LKA), darunter 257 858 Telefonnummern, die neben Verkehrsdaten auch 40 732 Bestandsdaten (Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnanschrift) enthielten. Die LKA-Schnüffelorgie dauerte mehrere Tage und machte auch vor den Handys von Abgeordneten, Pfarrern und Journalisten nicht halt.

Das allein ist ein Skandal. Der sächsische Datenschutzbeauftragte ist sich sicher, dass sowohl die SoKo 19/2 wie das LKA weit über das Ziel hinausschossen. »Da bei nichtindividualisierter Funkzellenabfragen in Grundrechte aller sich in der Funkzelle aufhaltenden und erfassten Personen eingegriffen wird, kommt der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck anerkanntermaßen ein besonders hohes Gewicht zu.« Nur eine »schwere Straftat« rechtfertigt »im Einzelfall« und nur wenn Ermittlungen anders aussichtslos sind, einen solchen Eingriff. Der Datenschutzbeauftragte fährt mit der Verfassung ein schweres Geschütz auf: Fernmeldegeheimnis, Versammlungs-, Vereins- und Koalitionsfreiheit, Religions- sowie Pressefreiheit ... Das Innenministerium in Dresden lässt sich von solchen »Lappalien« nicht beeindrucken. Und was macht der Bund?

Der Bund verweist darauf, dass er keine eigenen Informationen besitzt, also auch nur Zeitung lese und im übrigen der »Fall Dresden« Landesangelegenheit sei. Keine Reaktion darauf, dass die Konferenz aller Datenschutzbeauftragten der Länder und des Bundes bereits im Juli in einer Entschließung eine Gesetzesänderung, zumindest aber eine Präzisierung der einschlägigen juristischen Grundlagen gefordert hat. Warum nur ziert sich die Bundesregierung so sehr? Nur um der CDU/FDP-Koalition im Freistaat nicht zu nahe zu treten?

Als die Datenschützer ihre Formulierungen erhoben, war nicht einmal ihnen klar, dass man sich bei der Demokratenabwehr in Sachsen nicht »nur« der Funkzellenabfrage bediente. Man nutzte auch diese angeblich so lebensrettenden IMSI-Catcher.

Bislang hatte die Staatsanwaltschaft Dresden behauptet, dass die Catcher nur im Falle zweier konkreter Telefonnummern eingesetzt und dabei keinerlei Gespräche mitgehört worden seien. Wie aber kommt es dann, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz über Datensätze aus dem umstrittenen Einsatz der Überwachungstechnik verfügt? Sogar ein Durchsuchungsbeschluss aufgrund von Ermittlungen nach Paragraf 129 StGB (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) ist wohl nachweisbar.

Peter Schaar, der oberste Datenschützer im Bund, nähert sich dem Verhältnis Verfassungsschutz und IMSI-Catcher von einer anderen Seite. Er bezichtigt das Bundesamt für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit dem Erfassen von Mobilfunkteilnehmern und der Verarbeitung der dabei anfallenden IMSI-Nummern eines, wie er in einem VS-Dokument schreibt, »gravierenden Rechtverstoßes«. Der ob seiner »weit reichenden Konsequenz für den gesamten Bereich der öffentlichen und privaten Datenverarbeitung von grundsätzlicher Bedeutung ist«. Hintergrund: Obwohl bereits mehrmals aufgefordert, will der Inlandsgeheimdienst den Paragrafen 14 des Bundesverfassungsschutzgesetzes nicht umsetzen. Eigentlich müsste die per IMSI-Catcher gewonnen Daten - wie andere Personendaten - besonders geschützt werden. Da eine IMSI-Nummer weltweit pro Kunde nur ein Mal vergeben wird, lässt sich durch simple Anfrage nach Paragraf 113 Telekommunikationsgesetz die vom IMSI-Angriff betroffene Personen eindeutig identifizieren.

Das Bundesinnenministerium als vorgesetzte Behörde des Bundesamtes für Verfassungsschutz stellt sich übrigens uneingeschränkt auf die Seite der von Schaar geouteten beamteten Gesetzesbrecher.

* Aus: neues deutschland, 6. Oktober 2011


Blind gegen Recht?

André Hahn über die Ermittlungen gegen Naziblockierer **

André Hahn ist Vorsitzender der sächsischen Linksfraktion. Gegen ihn wird wegen der Teilnahme an Blockaden gegen Nazis in Dresden ermittelt.

ND: Dem Fraktionschef der LINKEN in Thüringen, Bodo Ramelow, wurde soeben die Immunität entzogen, wie zuvor schon Ihnen - wegen der Blockaden gegen Nazis in Dresden 2010 und 2011. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages kommt zum Schluss, dass die Ermittlungen gegen Blockierer illegal waren. Müssten die Behörden nicht langsam nachdenklich werden?

Hahn: Ich denke, das Gutachten ist die letzte Chance für die Dresdner Staatsanwaltschaft, ohne weiteren Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen. Sie kann es zum Anlass nehmen, die Verfahren endlich einzustellen, wie es auch sachlich geboten wäre. Und wenn sie selbst nicht auf die Idee kommt, ist die Frage, warum der Generalstaatsanwalt hier nicht endlich ein klares Zeichen setzt.

Gehen Sie persönlich davon aus, dass die Dresdner Ermittler jetzt von ihrer harten Linie abgehen?

Ich kann mir, selbst die besonderen sächsischen Verhältnisse eingerechnet, nicht vorstellen, dass sich ein Richter findet, der auf Basis dieser dürren Anklage verurteilt. Die Aussagen im Gutachten sind zudem eindeutig. Es hat eine schlampige Beschlussfassung beim sächsischen Versammlungsgesetz gegeben. Darum ist es vom Verfassungsgericht gekippt worden. Es ist im Gutachten zurecht ein Verweis auf das Rückwirkungsverbot enthalten. Fakt ist, bei zwei Jahren Haft als Höchststrafe, wie sie im sächsischen Gesetz standen, kann die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Im Bundesgesetz stehen drei Jahre - das bedeutet definitiv eine Haftstrafe. Das ist ein sehr großer Unterschied. Das erste Gerichtsverfahren gegen einen Blockadeteilnehmer findet heute in Dresden statt. Ich gehe davon aus, dass das Gutachten dort eine Rolle spielen wird. Bevor der Richter indas Verfahren eintritt, muss er prüfen, ob die formalen Voraussetzungen gegeben sind. Vielleicht sind die Richter ja sogar froh über das Gutachten, weil es ihnen eine Handhabe bietet, die Verfahren zu beenden.

Auch gegen andere Linkspolitiker wird ermittelt. Die Aufhebung der Immunität Ramelows spricht nicht für Einsicht der Behörden.

Meine Immunität ist noch in Kraft. In Sachsen gilt die Regelung, dass der Ausschuss die Immunität nur einstimmig aufheben kann. Daher muss das Plenum am nächsten Mittwoch eine Entscheidung treffen. LINKE, SPD und Grüne haben im Ausschuss dagegen gestimmt. Jetzt ist auch jeder einzelne Abgeordnete von CDU und FDP gefordert. Es geht hier um ein politisches Signal, und es wäre verheerend, wenn die Koalitionsfraktionen gemeinsam mit den Nazis die Immunität des Vorsitzenden der zweitstärksten Fraktion aufheben würden.

Das Bündnis »Dresden nazifrei« schrieb gestern: »Nach geltendem Recht fragt in Sachsen nach dem Datenskandal anscheinend keiner mehr.« Zu pessimistisch?

Ich würde nicht so weit gehen, dass keiner mehr danach fragt. Aber es ist ein Skandal, wenn ein Datenschutzbeauftragter massive Verstöße gegen Recht und Gesetz, gegen Datenschutz, gegen das Versammlungsrecht, gegen Grundrechte feststellt, und die Regierung macht ungeniert weiter wie bisher. Das höchst bedenklich. Deshalb ist es wirklich Zeit, die CDU 2014 endlich in die Opposition zu schicken. Die Verkrustungen, die wir in Sachsen haben, liegen daran, dass eine Partei seit 1990 ununterbrochen an der Macht ist.

Fragen Jörg Meyer

** Aus: neues deutschland, 6. Oktober 2011


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