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Amt für Selbstschutz

Inlandsgeheimdienst kommt nicht aus der Kritik: Verfassungsschützer soll bereits 2003 Namen zur Neonaziterrorzelle genannt haben. Fall "kleiner Adolf" nach wie vor unklar

Von Sebastian Carlens *

Haben Geheimdienstler gezielt die Aufklärung des neunten mutmaßlich vom »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) begangenen Mordes in einem Kasseler Internetcafé im Jahr 2006 blockiert? Diese Frage, die das Magazin Der Spiegel am Montag erneut aufwarf, ist auch für gegenwärtiges politisches Personal brisant: Oberster Dienstherr des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz war damals der heutige Ministerpräsident Hessens, Volker Bouffier (CDU). Als Landesinnenminister verweigerte er 2006 eine polizeiliche Untersuchung zu den V-Männern und zum Arbeitsumfeld des damaligen Verfassungsschützers Andreas Temme, der bei dem Mord an dem Kasseler Internetcafébetreiber Halit Yozgat anwesend war (jW berichtete). Temmes Aufenthalt in dem Café während des Mordes gilt nach wie vor als eine der offenen Fragen bei der Rekonstruktion des dem NSU angelasteten Mordfeldzuges: Der Geheimdienstmitarbeiter hatte sich im April 2006 als einziger Zeuge nicht auf einen öffentlichen Aufruf der Fahnder gemeldet; erst nach der Auswertung des Computers, den Temme im Café des später ermordeten Yozgat benutzte, konnte er ermittelt werden. An seiner Kleidung wurden Schmauchspuren dermaßen vieler verschiedener Waffen festgestellt, daß keine Zuordnung zu einzelnen Typen mehr vorgenommen werden konnte. Der Spiegel schildert Temme als verschlossenen Eigenbrötler mit wenigen sozialen Beziehungen. Auch wenn die Autoren des Nachrichtenmagazins keinerlei neue Erkenntnisse zum Ablauf des neunten mutmaßlichen NSU-Mordes bieten können, gelangen sie zu der Schlußfolgerung, daß vieles für Temmes Version, »zur falschen Zeit am falschen Ort« gewesen zu sein, spräche. Die hessische Staatskanzlei dementiert, daß die Landesregierung die polizeilichen Ermittlungen torpediert habe. »Der Ministerpräsident ist zum NSU-Untersuchungsausschuß geladen und wird dort den Sachverhalt noch einmal darstellen«, sagte Regierungssprecher Michael Bußer am Sonntag zur Nassauischen Neuen Presse.

AuchAuch andere Medienberichte könnten den Ausschuß nach seiner Sommerpause beschäftigt. In ihrer Samstagsausgabe berichtete die Süddeutsche Zeitung, daß bereits im Jahr 2003 ein Verfassungsschutzmitarbeiter auf das Kürzel »NSU« und den Namen eines der mutmaßlichen Rechtsterroristen, Uwe Mundlos, hingewiesen habe. Der Beamte im Ruhestand will bereits damals von einem Informanten mit dem Decknamen »Erbse« auf den Zusammenhang zwischen Mundlos und dem NSU gebracht worden sein, berichtete das Blatt. Der Mann habe sich nach dem Auffliegen der Terrorzelle im November 2011 an das Bundeskriminalamt gewandt. Polizei und Verfassungsschutz in Baden-Württemberg hielten den 60jährigen jedoch für »unglaubwürdig«, so die Zeitung: Der Mann sei wegen Dienstunfähigkeit ausgeschieden. Der Informant, auf den sich der Beamte berufe, sei wiederum als »verwirrt« eingestuft worden. Obwohl die Zusammenarbeit mit ihm vom Amt 1990 beendet worden sei, habe sich der Informant dennoch mehrmals erneut mit Hinweisen gemeldet. Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz soll seinem einstigen Mitarbeiter zudem eine Verletzung von Geheimhaltungspflichten vorwerfen: Er solle sich künftig direkt an das Landesamt wenden, nicht aber an die Polizei.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 4. September 2012


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