Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eisvogels Rache

In den deutschen Inlandsgeheimdiensten mehren sich Auflösungserscheinungen. Linkspartei fordert auch in Hessen Aufklärung über mögliche Aktenvernichtungen

Von Sebastian Carlens *

Den deutschen Diensten ist ihre Lieblingsbeschäftigung abhanden gekommen: Das Schreddern von Akten ist ihnen, nachdem Datenlöschungen auf Befehl des Bundesinnenministeriums bekannt wurden (jW berichtete), verboten worden. Die Information über den Löschbefehl könnte den Abgeordneten im Bundestagsausschuß zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) über einen Kanal zugegangen sein, der sich in der Vergangenheit wenig auskunftsfreudig gezeigt hat – direkt aus der Chefetage des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Laut einem Bericht der FAZ vom Dienstag ist der Vizechef der Behörde, Alexander Eisvogel, Urheber der Aktennotiz, die die Debatte um Befehle zum Löschen von 126 Abhörprotokollen ins Rollen brachte. Hinter Eisvogels Tip an den Ausschuß könne sich seine »Unzufriedenheit«, »nicht Nachfolger des bisherigen Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm geworden zu sein«, verbergen, so die FAZ.

Der Aktenvernichtungsskandal im BfV, über den bereits Heinz Fromm stolperte, forderte weitere personelle Konsequenzen: Laut Spiegel vom Montag wurden drei Abteilungsleiter versetzt, darunter Artur Hertwig von der Abteilung Rechtsextremismus und Joachim Seeger, Leiter für Zentrale Fachunterstützung. Auch Eisvogel soll laut Medienberichten seinen Stellvertreterposten verlieren. In der Kölner BfV-Zentrale herrschten derzeit Zustände »wie im Krieg«, zitierte der Spiegel »altgediente Mitarbeiter«. Die Beschäftigten des Bundesamtes »trauen niemandem mehr«. Nicht auszuschließen, daß sich die Geheimen gegen den drohenden Bedeutungsverlust ihrer Behörde mit den Mitteln wehren, die sie beherrschen – mit geheimdienstlichen Methoden.

Tatsächlich könnte sich am Umgang mit dem außer Kontrolle geratenen Amt auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrichs (CSU) weitere Karriere entscheiden. Der Rückzug Fromms legte die desolaten Zustände in der Behörde offen: Abteilungsleiter löschten nach Gutdünken geheime Akten, belogen bewußt ihre Vorgesetzten und zögerten nicht, zur Vertuschung der Schredderei noch weitere Ordner in den Reißwolf zu werfen. Der Regierungsdirektor im Referat 2B2 (»Rechtextremismus/Beschaffung«), Deckname Lothar Lingen, schwieg vor dem Untersuchungsausschuß zur Frage nach seinen Gründen, sieben V-Mann-Vorgänge zum neofaschistischen »Thüringer Heimatschutz« just eine Woche nach Enttarnung der Terrorzelle getilgt zu haben.

In Hessen hat die Landtagsfraktion der Linkspartei am Dienstag in einem dringlichen Berichtsantrag Aufklärung über mögliche Aktenvernichtungen beim Landesamt verlangt. »Hessen spielt bei der NSU-Terrorserie eine wichtige Rolle«, teilte Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linken im Landtag, mit. »Die Verbindungen der Naziszene zwischen Hessen und Thüringen sind sehr eng«. Und nicht nur die neofaschistischen Milieus, auch die Verfassungsschutzämter beider Länder sind gut verzahnt: Die Wiesbadener Behörde entsandte schließlich etliche »Aufbauhelfer« nach Erfurt; auch Alexander Eisvogel arbeitete drei Jahre im hessischen Amt. Er wurde kurz nach dem neunten mutmaßlichen NSU-Mord in Kassel, bei dem der Verfassungsschützer Andreas Temme unter Mordverdacht geriet, ins Landesamt versetzt. Auch die am Widerstand des damaligen Innenministers Hessens, Volker Bouffier (CDU), gescheiterte polizeiliche Befragung der rechten V-Leute Temmes interessiert die Linkspartei: Innenminister Boris Rhein (CDU) solle die Widersprüche zwischen seiner Darstellung, es habe keine belastenden Indizien gegen Temme gegeben, und der Aussage des damals leitenden Ermittlers Gerald Hoffmann vor dem Bundestagsausschuß, der ihn bis zuletzt für tatverdächtig befand, erklären, fordert Die Linke.

Ein eigener hessischer Untersuchungsausschuß werde nötig, »wenn Rhein nicht endlich sagt, was Sache ist«, so Linken-Sprecher Thomas Klein gegenüber jW. Die hessischen Grünen wollen nach eigener Aussage keinen Ausschuß fordern. Die SPD stehe einem solchen Schritt nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Allerdings »lehre die Erfahrung, daß CDU und FDP mauern«, so ein Sprecher der SPD-Fraktion zu jW. Das ist nicht verwunderlich: Der hessische CDU-Vorsitzende Bouffier ist mittlerweile Ministerpräsident.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. Juli 2012


Zurück zur Verfassungsschutz-Seite

Zur Geheimdienst-Seite

Zurück zur Homepage