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Aufklärerin im Blick

Hessischer Inlandsgeheimdienst nutzt jW-Interview zur Diffamierung von Silvia Gingold als »Linksextremistin«. Antifaschistin bleibt im Sinne ihrer Eltern aktiv

Von Markus Bernhardt *

Nach wie vor steht der Feind für die bundesdeutschen Inlandsgeheimdienste links. Auch nach den verschiedenen Enthüllungen über Verstrickungen der Verfassungsschutzämter in das mörderische Treiben des neofaschistischen Terrornetzwerkes »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) bleiben sich die Behörden treu und beobachten auch weiterhin ausgerechnet engagierte Antifaschisten. Silvia Gingold, Tochter der mittlerweile verstorbenen antifaschistischen Widerstandskämpfer und Kommunisten Etti und Peter Gingold, hatte sich am 16. Oktober 2012 an das Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen gewandt und um Auskunft gebeten, welche Informationen zu ihrer Person gespeichert seien. Am 8. November hatte die Behörde geantwortet, daß sie »seit dem Jahre 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert« sei. Gingold wird unter anderem vorgeworfen, daß sie »am 15. Oktober 2011 im Rahmen der GegenBuchMasse im Themenspektrum Antifaschismus für die Vorstellung der Autobiographie von Peter Gingold als Referentin angekündigt« gewesen sei (siehe Kasten).

Da die Behörde sich aufgrund eines vermeintlich »öffentlichen lnteresse(s) an der Geheimhaltung der Tätigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen« weigerte, über die in dem an Gingold gerichteten Schreiben enthaltenen Informationen hinausgehende Auskünfte zu erteilen, legte die Antifaschistin Widerspruch gegen den Bescheid der Behörde ein. Dieser wurde nun weitestgehend zurückgewiesen.

Zwar sah sich der hessische Inlandsgeheimdienst offensichtlich gezwungen, den Eintrag über die Lesung Gingolds aus der Autobiographie ihres Vaters zu löschen. Jetzt nimmt der Geheimdienst ein junge Welt-Interview vom 28. Januar 2012 zum Vorwand, um der engagierten Antifaschistin vermeintliche »linksextremistische« Aktivitäten wie etwa ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) nachzuweisen, die – so heißt es im Bescheid der Behörde – »vom LfV Hessen als linksextremistisch beeinflußte Organisation beobachtet« werde. Daher könne auch dem »Löschungsbegehren«, welches Gingold geltend gemacht hatte, »nicht weiter entsprochen werden«.

Die Betroffene kritisiert den Bescheid scharf. »Ich empfinde es als ungeheuerlich, daß meine antifaschistischen Aktivitäten als Konsequenz aus den Erfahrungen meiner Familiengeschichte, die Lesungen aus der Biographie meines Vaters sowie mein Engagement für die Rehabilitierung der vom Berufsverbot Betroffenen der 70er Jahre eine Überwachung und Speicherung durch den Verfassungsschutz zur Folge haben und als linksextremistisch stigmatisiert werden«, konstatierte Silvia Gingold am Dienstag im Gespräch mit junge Welt. »Der Aufwand, der hier bei der Überwachung derjenigen betrieben wird, die im Sinne der Verfassung alles tun, um das Erstarken von Neonazis zu verhindern, während Geheimdienste bei der Aufdeckung des mörderischen Neonaziterrors versagt haben, zeigt, wie prägend für dieses Amt der aus der Nazizeit hinübergerettete antikommunistische Geist ist.«

Zwar steht zu befürchten, daß auch diese Aussagen der Antifaschistin den hessischen Verfassungsschutz erneut zur Speicherung »neuer Erkenntnisse« veranlassen werden. Silvia Gingold will sich jedoch davon keineswegs einschüchtern lassen. »Die Behörde wird mich nicht daran hindern, in der Tradition meiner Familie weiterhin aktiv zu bleiben«, bekräftigte sie gegenüber junge Welt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 31. Juli 2013

"Typische Überzeugung von Linksextremisten"

Dokumentiert: Auszüge eines Schreibens des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) in Hessen an eine von der Antifaschistin Silvia Gingold beauftragte Rechtsanwältin:

(…) Zu Ihrer Mandantin sind seit dem Jahre 2009 Daten im Bereich Linksextremismus gespeichert. (…) Das Vorliegen der Speichervoraussetzungen begründet sich vorliegend wie folgt: Für die Bewertung, ob Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen vorliegen, geht es nicht allein um den Inhalt des Vortrages Ihrer Mandantin, sondern zu welchem Anlaß und in welchem Umfeld dieser gehalten wurde. (…) Gegenstand der Demonstration war die Verbreitung typischer Überzeugungen von Linksextremisten wie der autonomen Szene oder der VVN-BdA. Der generell geäußerte Vorwurf, daß legitimer demokratischer Protest gegen rechtsextreme Veranstaltungen »kriminalisiert« werde, entspricht der typischen Doktrin autonomer Gruppen, die die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland selbst als faschistisch darstellen. (…) Ihre Mandantin wurde für diese Veranstaltung als Rednerin angekündigt und ist nach Darstellung im VVN-BdA-Magazin Antifa auch tatsächlich auf der Demonstration gewesen. Sie spielte als Rednerin eine wesentliche Rolle und war somit eine aktive Unterstützerin dieser linksextremistischen Veranstaltung. (…)

Ihre Mandantin ist nach ihr zuzurechnender Aussage in einem Interview der linksextremistischen Tageszeitung junge Welt vom 28. Januar 2012 für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) aktiv. Vor diesem Hintergrund wurde seitens des LfV Hessen eine dem LfV Hessen bekannte, aber noch nicht zu ihrer Person gespeicherte Erkenntnis als eine Aktivität ihrer Mandantin für die VVN-BdA gewertet und damit zugespeichert. Es handelt sich um eine Lesereise (…).




"Juristisch nur schwer gegen anzugehen"

VVN-BdA protestiert gegen Diffamierung und Überwachung ihrer Mitglieder durch die Inlandsgeheimdienste. Ein Gespräch mit Ulrich Schneider **

Dr. Ulrich Schneider ist Historiker und Publizist sowie Bundessprecher der VVN-BdA und Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR).


Silvia Gingold, Tochter der bekannten antifaschistischen Widerstandskämpfer und Kommunisten Etti und Peter Gingold, wird unter anderem aufgrund ihres Engagements für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) von einem bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst überwacht. Was hat der Geheimdienst, der sich als »Verfassungsschutz« bezeichnet, an der Arbeit Ihres Verbandes auszusetzen?

Die Vorwürfe gegen die VVN-BdA sind ähnlich absurd wie die »Erkenntnisse« über Silvia Gingold, der ihre Kritik an der Politik der Berufsverbote und Lesungen aus dem Buch ihres Vaters als »Linksextremismus« vorgehalten werden.

Unsere Aktivitäten gegen NPD und andere neofaschistische Strukturen, jede kritische Bemerkung der VVN-BdA über den Zustand der bundesdeutschen Demokratie oder politisches Fehlverhalten der Inlandsgeheimdienste werden als »Belege« genommen, auch wir würden »die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland selbst als faschistisch darstellen«. An einem Punkt differenziert der Verfassungsschutz jedoch: Die VVN-BdA gilt nicht als »linksextremistisch«, sondern als größte »linksextremistisch beeinflußte« Organisation.

Was will Ihr Verband gegen seine Nennung in verschiedenen Verfassungsschutzberichten der Länder und die damit einhergehende Diffamierung seiner Mitglieder unternehmen?

Juristisch kann man gegen solche Diffamierung nur schwer angehen. Zwar lassen sich die Aussagen der Inlandsgeheimdienste in keinem Punkt belegen, sie gelten jedoch als juristisch nicht anfechtbare »zulässige Wertung«. Selbst als dem sogenannten Verfassungsschutz einmal gerichtlich die Verwendung eines falschen Zitates untersagt werden konnte, galt dies lediglich für den vergangenen Verfassungsschutzbericht.

Nur einmal, 2006, ist dem Geheimdienst seine schludrige Arbeit auf die Füße gefallen. In einer pauschalen Formulierung wurde auch die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) unter »Linksextremismus« genannt. Es gab politische Proteste von Neuseeland bis Venezuela, aus Europa und Israel. Von da an unterblieb eine Erwähnung. Das zeigt, die Verantwortlichen reagieren nur auf politische Proteste, nicht auf juristische Aktionen.

Während die Familie Gingold für ihr antifaschistisches Engagement etwa in Frankreich von höchsten politischen Stellen geehrt wurde, war sie in der BRD stets Opfer staatlicher Bespitzelungen. Woher rührt dieser Widerspruch?

Das hat mit der Genese der Geheimdienste zu tun. Es ist doch bekannt, die Spitzen der Geheimdienste – Stichwort Gehlen – und ein Großteil der Mitarbeiter bestanden aus »erfahrenen Kräften« des faschistischen Verfolgungsapparates. Für sie war der Antikommunismus schon in der Nazizeit Gesetz. Und im Rahmen des Kalten Krieges konnten sie sich – ohne große inhaltliche Wandlungen – als »Hüter der Demokratie« darstellen.

Und Peter Gingold, der tatsächlich einen antifaschistisch-demokratischen Neubeginn wollte, eine Abkehr vom Antikommunismus und eine sozialistische Umgestaltung, war damit kein anerkannter Widerstandskämpfer, der für die Freiheit Deutschlands durch den Sturz des Faschismus gekämpft hatte, sondern er »bedrohte« die politische und ökonomische Restauration in der BRD.

Aktuell gibt es im Rahmen der Untersuchungen über das neofaschistische Terrornetzwerk »Nationalsozialistischer Untergrund« und des Münchner NSU-Prozesses immer neue Enthüllungen über Verstrickungen der Inlandsgeheimdienste in die rechte Szene. Greift die Forderung Ihres Verbandes nach einem NPD-Verbot vor diesem Hintergrund nicht viel zu kurz?

Ich sehe hier keinen Widerspruch. Unsere Kampagne »No NPD« hat immer auch das neofaschistische Umfeld und die Rolle der staatlichen Organe thematisiert – insbesondere die staatliche Finanzierung faschistischer Strukturen über sogenannte V-Leute. Schon vor den Enthüllungen über die Verbrechen des NSU-Netzwerkes hatte die VVN-BdA die Abschaltung aller V-Leute gefordert.

Aber wäre es nicht an der Zeit, daß die VVN-BdA sich verstärkt gegen die staatliche Extremismusdoktrin, die Antifaschisten mit Nazis gleichsetzt, den zunehmenden Abbau der Grund- und Freiheitsrechte und die massive Überwachung der Bürger durch Geheimdienste engagiert?

Seit vielen Jahren kämpfen wir gemeinsam mit anderen antifaschistischen Initiativen gegen die Reaktivierung der Totalitarismusdoktrin und für die Verteidigung der demokratischen Rechte und Freiheiten. Zeitweilig wurden wir belächelt, wenn wir auf den Abbau von Freiheitsrechten verwiesen. So schlimm sei es doch gar nicht. Heute sehen wir, wie weit diese nicht mehr politisch kontrollierte Überwachung bereits geht. Das ist noch kein Faschismus, hat aber mit unserem Verständnis von Verfassung und Demokratie auch nur noch wenig zu tun.

Interview: Markus Bernhardt

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 31. Juli 2013

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