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"Extremismusklausel": Auch Zentralräte der Juden und Muslime äußern heftige Kritik

Ein Beitrag von Christine Lang auf der Website NETZ-GEGEN-NAZIS.DE


Die Proteste gegen die "Bespitzelungsklausel" des Bundesfamilienministeriums lassen nicht nach. Im Rahmen einer Bundespressekonferenz forderten jetzt auch Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden und Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime die Rücknahme der Klausel.

Von Christine Lang

"Die Extremismusklausel ist ein Symbol für den Überprüfungswahn und das Misstrauen der Bundesregierung!" Mit deutlichen Worten lehnt der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, die neue Vorgabe des Bundesfamilienministeriums ab. Am 9. Februar forderte er auf einer Pressekonferenz in Berlin Familienministerin Kristina Schröder auf, die umstrittene Extremismusklausel zurückzunehmen - gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, dem Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Hövelmann, und Grit Hanneforth vom Kulturbüro Sachsen.

Mit dieser Pressekonferenz erlangen die Proteste der betroffenen Projektträger und zivilgesellschaftlichen Initiativen weiteres Gewicht in der öffentlichen Debatte. Seit Jahresbeginn müssen Projekte für Demokratie unterschreiben, dass sie sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, um Fördermittel aus Bundesprogrammen zu erhalten. Damit nicht genug: Sie sollen außerdem überprüfen, dass auch ihre Partner nicht "extremistisch" sind. Allerdings ist weder klar, wo die Grenzen zum "Extremismus" gezogen werden, noch mit welchem Aufwand die Projekte die "Überprüfung" betreiben sollen.

Für Stephan Kramer ist dieser Vorstoß der Bundesregierung nur ein Beispiel von einer Kette von Hindernissen, mit denen zivilgesellschaftliche Initiativen zu kämpfen haben. Die Extremismusklausel zeige den "Mangel an Kreativität im Kampf gegen die Feinde der Demokratie" und werde im Ergebnis nur kontraproduktiv sein: Anstatt die Grundwerte des Staates zu unterstützen, werden engagierte Menschen in Zukunft in Distanz zum Staat gehen, prophezeit Kramer.

Holger Hövelmann sieht das mit seinen Erfahrungen als Innenminister von Sachsen-Anhalt ähnlich. In Sachsen-Anhalt habe man jahrelang gebraucht, die Menschen dazu zu bringen, sich für eine demokratische Gesellschaft zu engagieren. Jetzt, wo es solche Strukturen gebe, werde das Engagement der Menschen unter Verdacht gestellt, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. "Das ist nicht nur eine Nicht-Stärkung der Demokratie, sondern eine bewusste Schwächung", empört sich Hövelmann. Unter Anspielung auf die Stasi-Vergangenheit kritisiert er speziell, das sich Projektträger verpflichten müssen, die Einstellung ihrer Partner zum Grundgesetz zu überprüfen: "Mit der Aufforderung, andere Menschen zu bespitzeln, ist eindeutig eine Grenze erreicht, die man nicht überschreiten darf!"

Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, lehnt die "Bespitzelungsklausel" klar ab. Bisher stünden vor allem Muslime unter Generalverdacht, nicht loyal zum Grundgesetz zu sein, jetzt trifft es auch andere gesellschaftliche Gruppen: "Dieser "Misstrauensdiskurs ist inzwischen eine Haltung und gegen die müssen wir uns wehren."

Bei der Pressekonferenz betonten die Akteure auch, dass die deutsche Verfassung gar kein Bekenntnis zum Grundgesetz vorsieht. Stephan Kramer hält Familienministerin Schröder vor, die Bürger "auf eine ideologische Grundrichtung festlegen zu wollen", was nicht der Wille der Urheber des Grundgesetzes gewesen sei.

Der neue Bekenntniszwang für Organisationen und Initiativen basiert auf dem Verdacht, "extremistische" Organisationen könnten Fördergelder aus staatlichen Töpfen erhalten - unter dem Deckmantel, sich für die Demokratie zu engagieren. Grit Hanneforth vom Kulturbüro Sachsen machte die Gefahr deutlich, die dieser Generalverdacht mit sich bringt. In Sachsen werde der Begriff des "Linksextremismus" mehr und mehr dafür benutzt, Initiativen gegen Rechts zu stigmatisieren und aus dem Diskurs auszuschließen. Die "Extremismusklausel" setze damit einen "ausgesprochen gefährlichen Mechanismus" in Gang. Abgesehen davon biete die Realität auch keinerlei Anlass für einen solchen Verdacht, betonen einhellig Grit Hanneforth und Holger Hövelmann.

Gibt es Hoffnung, dass das Familienministerium auf die Proteste gegen die "Extremismusklausel" eingeht? Stephan Kramer ist eher skeptisch. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigten eine "Beratungsresistenz gegenüber Vorschlägen, die aus der Praxis kommen". Er kündigte bei der Pressekonferenz an, dass sich für den Fall, dass das Ministerium nicht einlenkt, auch der Zentralrat der Juden einer Klage gegen die Klausel anschließen werde.

Die Debatte geht weiter: Am 10. Februar steht die "Extremismusklausel" auch im Bundestag wieder auf der Tagesordnung.

* Aus: Website von "netz-gegen-nazis.de", 9. Februar 2011; www.netz-gegen-nazis.de


Schröder-Klausel abgelehnt

Breite Front gegen Förderpraxis der Familienministerin bei Bekämpfung von Rechtsextremismus. Linke lehnt Spaltung in gute und böse Antifaschisten ab

Von Daniel Bratanovic **


Juden und Muslime in Deutschland wollen gegen die sogenannte Extremismusklausel aus dem Hause der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) notfalls klagen. Das kündigten die Vorsitzenden ihrer Zentralräte Stephan Kramer und Aiman Mayzek am Mittwoch in Berlin auf einer Pressekonferenz an, wo sie ihre Forderung nach Rücknahme der Regelung erneuerten. Kramer zog eine Verfassungsklage gegen den »Versuch, Initiativen auf politische Linie zu bringen« in Erwägung. Mayzek nannte die Klausel ein »fatales Signal«. Grit Hanneforth vom Kulturbüro Sachsen, die mit den beiden vor die Presse getreten war, beklagte, daß damit der Trend bestärkt werde, politisch Aktive pauschal als »Linksextreme« zu stigmatisieren.

Auslöser der Kritik ist das im Herbst 2010 vom Bundesfamilienministerium vorgestellte und am 1.Januar 2011 in Kraft getretene Programm »Toleranz fördern – Kompetenz stärken«. Empfänger von Bundesmitteln für Projekte zur »Bekämpfung von Rechtsextremismus« müssen demnach eine Erklärung unterzeichen, »in der sie sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen«. Sie müssen sich außerdem verpflichten, nur mit Organisationen und Personen zusammenzuarbeiten, die sich gleichfalls dem Inhalt des Grundgesetzes verschrieben haben. Zur Überprüfung dienen vor allem Verfassungsschutzberichte, in denen zum Beispiel die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) oder die Rote Hilfe als Verfassungsfeinde benannt werden. Auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) verurteilte diese Förderpraxis am Mittwoch in einer Erklärung, weil sie für »Zwietracht in der Zivilgesellschaft« sorge. »Das Maß aller Dinge ist letztlich der Verfassungsschutz. Heraus kommt ein verordneter Antifaschismus von Regierungs Gnaden. Einen größeren Gefallen kann man Rechtsextremisten nicht tun.« Monika Lazar, Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus der Linksfraktion, erklärte, die Klausel zwinge Initiativen zur Gesinnungsschnüffelei und schaffe ein Klima des Mißtrauens.

Bereits in der vergangenen Woche hatten antifaschistische Vereine und Gruppen unter dem Motto »Für Demokratie – gegen Mißtrauen und Bekenntniszwang« einen Aktionstag durchgeführt. Nach Angaben der Initiatoren protestierten am 1. Februar über 1500 Organisationen und Einzelpersonen mit Briefen, E-Mails und Pressemitteilungen gegen die Verpflichtungserklärung. Sie forderten Familienministerin Schröder und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, die Klausel ersatzlos zu streichen. Auf Antrag der Parteien SPD, Grüne und Linke will der Bundestag am heutigen Donnerstag über die Rücknahme der Bespitzelungsklausel debattieren.

** Aus: junge Welt, 10. Februar 2011


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