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Aktionstag gegen Bekenntniszwang

Rechtsextremismusprojekte wollen Extremismusklausel nicht einfach unterzeichnen

Von Ines Wallrodt *

Die Totalitarismusdoktrin greift weiter um sich. Bundesfamilienministerin Schröder will daran festhalten, die FDP unterstützt den Kurs der Union. Jetzt sollen noch einmal alle kritischen Stimmen dagegen gebündelt werden.

Gerade haben viele Demokratieprojekte Post vom Bundesfamilienministerium bekommen. Darin wird ihnen zugesagt, dass sie auch dieses Jahr Förderung erhalten. Früher war es das. Dieses Jahr liegt aber noch ein Vordruck bei, mit dem sie sich verpflichten sollen, künftig alle Partner auf ihre Verfassungstreue zu überprüfen. Wer diese »Extremismuserklärung« ablehnt, bekommt kein Geld. Jeder für sich steht dieser Tage vor der Entscheidung: unterschreiben oder verweigern. Entweder die Projekte machen sich zu Mitarbeitern des Verfassungsschutzes oder sie lehnen die Unterschrift ab und gefährden damit ihre Arbeit. Seit Monaten sorgt diese Auflage für Kritik. Jetzt soll der Protest noch einmal gebündelt werden.

Polit-Show

Die Projektträger verwahren sich gegen das Misstrauen, das aus der Extremismusklausel spricht. Sie stelle all diejenigen unter Generalverdacht, die sich seit vielen Jahren für Demokratie einsetzen. Es ist ohnehin vielerorts schwer, Aktionen gegen rechts auf die Beine zu stellen. »Antifaschistisches Engagement wird damit weiter ins Abseits gedrängt«, sagt Heike Kleffner von der Aktion Sühnezeichen. Die Friedensorganisation gehört neben dem Kulturbüro Sachsen, der Opferperspektive Brandenburg und dem Verein Demokratische Kultur zu den Initiatoren des gemeinsamen Protests.

Vor allem aber lehnen die Vereine ab, ihre Referenten, Bündnispartner oder Mitarbeiter zu überprüfen. »Wenn jedes Projekt Dossiers über Referenten und potenzielle Partner anlegen soll, vergiftet das die Zusammenarbeit und absorbiert die ohnehin schmalen Ressourcen«, kritisiert Anetta Kahane, Chefin der Amadeu Antonio Stiftung, in einem Brief an die Bundestagsabgeordneten. Die stimmten gestern Abend über einen von FDP und Union eingebrachten Antrag ab, die unter rot-grün eingeführten Bundesprogramme gegen Rechts weiter in Programme gegen politischen Extremismus umzumodeln. In dem Antrag wird die Regierung aufgefordert, Strategien gegen Linksextremismus und Islamismus zu entwickeln und ein Aussteigerprogramm für Linke zu prüfen. Neu sind diese Vorhaben nicht, genau genommen hat sie Familienministerin Kristina Schröder (CDU) bereits selbst angekündigt. Die Koalitionsfraktionen wollten jedoch der Ministerin demonstrativ den Rücken stärken. Für Kleffner eine unverständliche »Polit-Show«, die der Situation vor Ort nicht gerecht werde. »Dort stehen Menschenleben auf dem Spiel«, warnt sie und verweist darauf, dass selbst die Koalition in ihrem Antrag an dieser Realität nicht vorbeikomme. Dort heißt es an einer Stelle: Die Mehrheit der extremistischen Kriminalität habe ihren Ursprung im »rechten« Milieu.

Nun auch in Thüringen

Auch auf Länderebene greift die Extremismus-Klausel weiter um sich. So wurde gestern in Thüringen erstmals ein »Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit« eingeführt. Die CDU hatte darauf bestanden, auch die Gefahren durch Linksextremisten aufzunehmen, die SPD wollte sich auf Rechtsextremismus beschränken. Herausgekommen sei ein für manche schmerzhafter Kompromiss, sagte die Sozialministerin Heike Taubert (SPD) gestern bei seiner Vorstellung. Auch in Sachsen existiert solch eine Klausel. Deshalb war es Anfang November zum Eklat bei der Vergabe des sächsischen Demokratiepreises gekommen. Das sächsische Innenministerium kündigte an, die Klausel zu überarbeiten.

Gemeinsam wollen Vereine nun noch einmal einen Versuch starten, die Bundesregierung zum Einlenken zu bewegen. Sie rufen dazu auf, am 1. Februar massenhaft Protestfaxe, E-Mails und Facebook-Einträge an Bundeskanzlerin Merkel und Familienministerin Schröder zu schicken und damit zu fordern, die Extremismusklausel zurückzunehmen. Das Land Berlin legte zudem gestern beim Bund Widerspruch gegen die Kopplung der Erklärung an die Förderung der Träger ein. Das Land beruft sich auf ein Gutachten des Verwaltungsrechtlers Ulrich Battis, nach dem Teile der Erklärung »verfassungsrechtlich bedenklich« sind.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Januar 2011

Vorlage für ein Protestschreiben:

An:
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Bundeskanzleramt
E-Mail: internetpost@bundeskanzler.de
Telefon: (030) 4000 – 0
Telefax: (030) 4000 – 2357
Facebook-Seite: http://www.facebook.com/AngelaMerkel

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,

die „Extremismuserklärung“, die das BMFSFJ derzeit allen Trägern im Rahmen des Programms „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ und des Programms „Initiative Demokratie stärken“ abverlangt, stellt all diejenigen unter Generalverdacht, die sich täglich für praktizierte Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren.

In der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus sind Misstrauen und Bespitzelungsaufforderungen gegenüber denjenigen, die demokratische Werte und Prinzipien vor Ort verteidigen demokratieschädigend und kontraproduktiv. Wir fordern Sie daher auf, die Absätze 2 und 3 der so genannten „Demokratieerklärung“ in den Zuwendungsbescheiden ersatzlos zu streichen.

Mit freundlichen Grüßen,
Name, Institution
Ort, Datum



Sechs gute Gründe, sich gemeinsam gegen diese Erpressung zur Wehr zu setzen: **

I. Jeder demokratische Staat braucht eine starke Zivilgesellschaft, insbesondere in Regionen, in denen demokratische Normen und Werte nicht verankert sind.

Als die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 das erste staatliche Förderprogramm gegen Rechtsextremismus und für Demokratie unter dem Namen „CIVITAS“ einsetzte, ging es auch um einen Paradigmenwechsel: weg von der starken Fixierung der Förderprogramme der frühen 1990er Jahre auf die Täter, hin zu einer Förderung derjenigen, die durch Rechtsextremismus am stärksten bedroht werden und sich vor Ort für demokratische Werte einsetzen. Jetzt, zehn Jahre später, wird genau diesen Gruppen – kleinen antifaschistischen Initiativen ebenso wie kirchlichen Trägern oder Betroffenen neonazistischer Gewalt – ein besonderes staatliches Misstrauen entgegen gebracht. Wer sich dem Bekenntnis-und gegenseitigen Bespitzelungszwang nicht beugen will, ist nun schutzlos rechtsextremen und rassistischen Bedrohungen ausgesetzt. Wie soll ein junger Punk, der Opfer eines neonazistischen Angriffs wurde, sich vertrauensvoll an eine Beratungsstelle wenden, wenn er damit rechnen muss, erst einmal auf seine Gesinnung überprüft zu werden? Genießen die Mitglieder der vom BMFSFJ inkriminierten Organisationen einen geringeren Schutz vor Übergriffen, weil sie sich „kritisch auf das im Grundgesetz nicht festgeschriebene Wirtschaftssystem beziehen?“ fragt Prof. Dr. Gesine Schwan. Anlässlich der Verleihung des Sächsischen Demokratiepreises hatte die Politikwissenschaftlerin Schwan in einer Rede die von den Preisträgern verlangte inhaltsgleiche „Extremismuserklärung“ durch das sächsische Innenministerium scharf kritisiert.

II. Allzu oft sind staatliche Akteure Teil des Problems und nicht der Lösung, wenn es um effektive Auseinandersetzung mit der extremen Rechten geht.

Mit der „Extremismuserklärung“ und der vierseitigen „Erklärung für Demokratie“ verfolgt das BMFSFJ vor allem ein Ziel: Die Zivilgesellschaft auf diesem Feld wieder zurückzudrängen und damit die Deutungshoheit der staatlichen Akteure – Polizei, Verfassungsschutz und Justiz – in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus zurückzugewinnen. Doch leider sind noch immer Teile dieser Institutionen ein Teil des Problems – weil ihre Haltung gegenüber Neonazis häufig bestenfalls von Ignoranz und schlimmstenfalls von einem paternalistischen Verständnis geprägt ist.

III. Geheimdienste sind politische Akteure und keine neutralen Instanzen

Das BMFSFJ rät den Projekten in seinen „Erklärungen“ dazu, „den Verfassungsschutz“ und seine Berichte zurate zu ziehen bei der Frage, wer oder was “extremistisch” sei. Das BMFSFJ verschweigt dabei bewusst, dass beispielsweise die Landesämter für Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen und Bayern erst vor kurzem gerichtliche Niederlagen bei der Einstufung antifaschistischer Zeitungen und Archive als „linksextremistisch“ hinnehmen mussten und dass umgekehrt alle Landesämter ebenso wie das Bundesamt für Verfassungsschutz eine lange Tradition haben, militante neonazistische Strukturen durch den Einsatz von V-Leuten und bezahlten Informant/innen direkt und indirekt zu fördern. Bekanntlich ist das NPD-Verbot an deren Einsatz gescheitert.

Gleichzeitig enthalten die Geheimdienste der Zivilgesellschaft und den Bürger/innen zentrale Informationen über rechte Strukturen vor.

IV. Minderheitenfeindliche Einstellungen und Haltungen sind ein Problem der Mitte

„Wie irreführend die Verwendung des Extremismusbegriffs ist, kann man u.a. an den neuesten empirischen Befunden zum Rechtsextremismus erkennen, die diese antidemokratische Einstellung soziologisch eben nicht an den ‘extremen Rändern’ der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte vorgefunden haben“, schreibt Prof. Dr. Gesine Schwan.

V. Der Begriff des „Extremismus“ führt in der Auseinandersetzung mit rechtsextremer Gewalt, Antisemitismus und Rassismus in eine Sackgasse.

„Rechtsextreme zielen auf die Abwertung, Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung von Bevölkerungsgruppen, die nicht zur ‘völkisch-rassenreinen Gemeinschaft’ gehören – gegründet auf Ungleichheits-bzw. Überlegenheitsideologien, die ein gleichberechtigtes Miteinander unterschiedlicher Menschen (‘Vielfalt’) bekämpft“, schreibt der Politikwissenschaftler Prof. Roland Roth. Die tödliche Dimension rechtsextremer Gewalt wird anhand der Tatsache deutlich, dass mindestens 137 Menschen seit 1990 Opfer politisch rechts oder rassistisch motivierter Tötungsdelikte wurden; Zehntausende wurden in diesem Zeitraum von rassistischen und rechten Schlägern verletzt – manche der Betroffenen leiden noch immer an den physischen und psychischen Folgen dieser Gewalttaten. Hintergrund dieser Gewalt ist eine Ideologie, die Menschen qua Geburt, Herkunft oder Einstellung ihre Würde, ihre Rechte und ihr Lebensrecht abspricht.

„Rechtsextreme Einstellungen und Handlungen bilden den extremen Gegenpol zum Ideal von Zivilität im Sinne einer demokratischen und gewaltfreien Zivilgesellschaft“, so Roland Roth. Die Phänomene Faschismus und Antifaschismus in eins fassen zu wollen, entbehrt zudem jeder historischen und ethischen Rechtfertigung. Keine dieser Dimensionen erlaubt die leichtfertige Nivellierung im Begriff des „Extremismus“.

VI. Mit der “Extremismuserklärung” wird ein Klima des Misstrauens und der Denunziation gefördert

Die „Extremismuserklärung“ stellt alle diejenigen unter Generalverdacht, die sich täglich für praktizierte Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren. Sie tun dies im Wissen, dass ihre Wohnungen, Büros und Autos Ziele neonazistischer Brandanschläge sind und dass sie selbst potenziell mit körperlichen Angriffen rechnen müssen. Ihr oft mühsamer Einsatz für die alltägliche Umsetzung demokratischer Werte und die gleichberechtigte, gesellschaftliche Teilhabe möglichst vieler Menschen sollte gewürdigt und nicht durch ein Klima des Misstrauens behindert oder gar unmöglich gemacht werden.

Ein tragfähiges Bekenntnis zur Demokratie kann nicht auf ordnungspolitischen Erwägungen basieren. Es setzt ein qualitatives, auf der Anerkennung der unteilbaren Menschenwürde beruhendes Demokratieverständnis voraus, in dem Unterschiede, Kritik und politische Auseinandersetzung nicht nur ausgehalten, sondern als Voraussetzung für eine gelebte, sich kontinuierlich weiter entwickelnde Demokratie begrüßt und gefördert werden.

Berlin/Brandenburg, 27. Januar 2011

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.,
Kulturbüro Sachsen e.V.,
Opferperspektive Brandenburg e.V.,
Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V.

** Quelle: http://aktionstaggegenbekenntniszwang.blogsport.de/


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