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Untertanen benötigt

Vor vierzig Jahren wurde der sogenannte Radikalenerlaß beschlossen. Er steht in einer deutschen Tradition

Von Arnold Schölzel *

Die »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«, die unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) am 28. Januar 1972 von den Ministerpräsidenten der Bundesländer beschlossen und als »Radikalenerlaß« bekannt wurden, waren nicht besonders originell. Für die deutschen Staaten, die von den in ihnen Mächtigen auf Krieg und Weltkrieg ausgerichtet wurden, stand der Feind im Inneren selbstverständlich links. Er war in Kaiserreich und Weimarer Republik häufig auch Jude – der Faschismus an der Macht konnte 1933 gute Vorwegarbeiter und Vorarbeiten übernehmen. In der Reihe der Ausnahmegesetze gegen die SPD setzte z.B. die Regierung Preußens im Abgeordnetenhaus 1898 – acht Jahre nach dem offiziellen Ende der Sozialistengesetze – die »Lex Arons« durch. Mit ihr wurden Privatdozenten an Hochschulen unter staatliche Disziplinargewalt gestellt, im Klartext: Die Unvereinbarkeit mit einer SPD-Mitgliedschaft wurde auch dorthin ausgedehnt, wo bis dahin formal die Hochschulautonomie galt.

Nach der Novemberrevolution änderte sich nicht viel, der öffentliche Dienst blieb weitgehend frei von Kommunisten. 1933 wechselten Justiz und Polizei problemlos zur Nazidiktatur und nutzten ihre Dossiers für das Aufspüren und Inhaftieren von Regimegegnern. Bereits Ende 1932 waren unter Federführung des Regierungsrates Hans Maria Globke (1898–1973) im preußischen Innenministerium Richtlinien für die Ungleichbehandlung von Juden entstanden, die in die von ihm maßgeblich entworfenen faschistischen Rassegesetzen von 1935 mündeten. Als die Bundesregierung am 19. September 1950 den nach Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) benannten Erlaß, wonach pauschal Mitglieder von KPD, FDJ, Kulturbund und Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen oder zu bestrafen seien, war Globke schon wieder Ministerialdirigent im Bundeskanzleramt, dessen Leiter er ab 1953 als Staatssekretär wurde. Die Verfolgung von Juden war nicht mehr opportun, aber er und seine alten Kameraden konnten auf den sonstigen Feldern der Bekämpfung des inneren Feindes weitermachen: Der Staat war schließlich gegründet worden, um Revanche für die Niederlage von 1945 zu nehmen. Das Verbotsverfahren gegen die KPD, die Verfolgung ihrer Mitglieder und der Schutz von Nazi- und Kriegsverbrechern gehörte zu seinen wichtigsten Amtsobliegenheiten.

Der Radikalenerlaß von 1972, vier Jahre nach Gründung der DKP, richtete sich vor allem gegen sie. Der »Fortschritt« bestand darin, daß anders als früher eine sogenannte Einzelfallprüfung vorgesehen war. Die Folge war ein bürokratischer Exzeß an Gesinnungsschnüffelei: 3,5 Millionen Menschen wurden seit 1972 einer »Sicherheitsüberprüfung« unterzogen. Das bedeutet, daß wesentlich mehr – Angehörige, Bekannte, politisch ähnlich Denkende – Existenzunsicherheit, Belastungen und öffentlichem Pranger ausgesetzt waren. In etwa 11000 Fällen wurden der Eintritt in den bzw. das Verbleiben im öffentlichen Dienst untersagt, darunter Briefträgern und Lokomotivführern. Es gab 130 Entlassungen allein von Lehrern. Entscheidend kam es den Urhebern – so wie den Inquisititoren aller Zeiten und Länder – vor allem auf die Atmosphäre von Hexenjagd, Verdächtigung, Einschüchterung und Duckmäusertum an.

Seit 1975 gingen zwar die Bundesländer wieder eigene Wege, tatsächlich aber wird die mit dem Erlaß eingeführte Praxis offen wie in Bayern oder unausgesprochen wie in den meisten anderen Bundesländern bis heute weitergeführt. Einen Berufsverbotsexzeß gab es in Ostdeutschland nach 1990, als z.B. allein an den dortigen Hochschulen von etwa 200000 Mitarbeitern 60 Prozent entlassen wurden, zum größten Teil ohne Chance auf Ausübung ihres Berufs. Das Berufsverbot hieß jetzt »Abgewickelt«. Obwohl diese Diskriminierung Ostdeutscher bis heute anhält und obwohl der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO erst 2011 erneut die Bundesregierun deswegen scharf kritisiert hat, leugnen die Verantwortlichen den Tatbestand selbst.

In den 70er und 80er Jahren mußten sie der Form halber noch einlenken. Das Wort »Berufsverbot« machte in mehreren Sprachen wie Französisch oder Englisch Karriere, es entwickelte sich eine breite internationale Solidaritätsbewegung. Der spätere französische Präsident François Mitterrand, der Philosoph Jean-Paul Sartre und die Bertrand-Russell-Stiftung unterstützten die Kampagne gegen den Erlaß.

An der tatsächlichen Praxis des geheimdienstlich-polizeilichen Komplexes der Bundesrepublik hat das nichts geändert. Er kann mit Demokraten nichts anfangen, sein Staatsverständnis setzt Untertanen voraus. Die werden in Krise und Krieg noch mehr benötigt als sonst.

* Aus: junge Welt, 28. Januar 2012


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