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Eine Gretchenfrage der Linken

Basisdemokratie – von den Arbeiterräten über die Antifa-Ausschüsse und 68er bis heute

Von Günter Benser *

Der Begriff »neue Protestkultur« macht die Runde. Heiner Geisler verkündet in Interviews und Talkshows, dass die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei sei. Heide Simonis mahnt: »die eigentliche Sachfrage über die Notwendigkeit bestimmter Planungen« schlägt um »in die Machtfrage: hier Bürger – dort Staat, Politik Unternehmen.« Für Edzard Reuter ist die Atmosphäre »hochgespannt … Viele Menschen glauben den politisch Verantwortlichen nicht mehr.« Peter Sloterdijk lobt den Bürger, »der empörungsfähig blieb« und »seine Distanz auf öffentliche Plätze trägt«.

Hinter solchen Äußerungen stehen handgreifliche Geschehnisse: Stuttgart 21, die Antiatombewegung, Studentenproteste, lokale Bürgerinitiativen. Was aufhorchen lässt, ist nicht nur die wachsende Dimension solcher Aktionen, sondern vor allem die Tatsache, dass der Protest aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Längst ist Basisdemokratie kein ausnahmslos linkes Projekt mehr.

Grund genug, über historische Wurzeln, Zusammenhänge und Erfahrungen nachzudenken. Dabei können wir uns der Definition bedienen, die im weit verbreiten »Politlexikon« angeboten wird. Demnach ist Basisdemokratie ein »Sammelbegriff für Formen politischer Beteiligung, bei denen politische Entscheidungen direkt vom Volk getroffen werden ...«.

Für die Neuzeit gingen entscheidende Impulse von der Französischen Revolution aus – vorbereitet durch jene weitsichtigen Denker, welche die Idee der Volkssouveränität, aber auch der Gewaltenteilung propagiert haben. Diese mündeten einerseits ein in den Liberalismus, andererseits in die aufkommende sozialistische Arbeiterbewegung. Es ist bezeichnend, dass die »erste breite, wirklich Massen erfassende, politisch klar ausgeprägte proletarisch-revolutionäre Bewegung« (W.I. Lenin) der Welt – der Chartismus – als Kampf um demokratische Verfassungsrechte, um eine Peoples-Charter, im damals kapitalistisch am weitesten entwickelten England entstand. Deren Ziele sprengten zunächst nicht den Rahmen der Repräsentativdemokratie.

Doch kämpften die Chartisten darum, dem Mehrheitswillen wirklich Geltung zu verschaffen. Ihre Kampfformen (Massenmeetings, Demonstrationen, Streiks, Petitionen) sowie die Verknüpfung mit sozialen Forderungen führten nicht nur zur dauerhaften Konstituierung von Arbeiterorganisationen, sondern brachen auch einem neuen Verständnis von Demokratie Bahn.

Als sich die marxistisch-orientierte deutsche Sozialdemokratie formierte, ging sie entschieden über das von Ferdinand Lassalle als Universallösung propagierte allgemeine Wahlrecht hinaus und verankerte in ihren Programmen die Forderung nach »Einführung der direkten Gesetzgebung (d.h. Vorschlags- und Verwerfungsrecht) durch das Volk« und – so im Gothaer Programm von 1875 – das Recht auf »Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk«.

Die Sprengkraft dieser Forderungen lag nicht zuletzt darin, dass die politische Freiheit als »unentbehrliche Vorbedingung der ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen« betrachtet, also die »Abschaffung der jetzigen Produktionsweise« angestrebt wurde. Der Zusammenhang zwischen politischen Freiheiten und sozialer Befreiung war Axiom der internationalen Arbeiterbewegung, ihr unverwechselbares Markenzeichen, ihr Alleinstellungsmerkmal. Er sollte es auch für die heutige Linke bleiben.

Im vergangenen Jahrhundert hat es in Deutschland vier denkwürdige Anläufe gegeben, Demokratie von unten zu verwirklichen: die Rätebewegung 1918/1919, die antifaschistischen Ausschüsse 1945, die 68er Bewegung und die Bürgerbewegung in der DDR 1989/1990.

An der Rätemacht schieden sich Geister

In den Revolutionen, die während und nach dem ersten Weltkrieg Europa und auch andere Teile der Welt erschütterten, bildete die Rätebewegung einen zentralen Strang des Revolutionsgeschehens und zugleich die Scheidelinie zwischen der revolutionären und der reformistischen Strömung der Arbeiterbewegung. Lenin sah in der Rätemacht die Alternative zu bürgerlicher Staatlichkeit schlechthin. Für Kurt Eisner waren die Räte »Organe der wirtschaftlichen Demokratie als notwendige Ergänzung der politischen Demokratie«. Arthur Rosenberg erkannte in den Räten Keimformen der ersten ernsthaften »Selbstregierung der mündigen Massen«. Für Friedrich Ebert schreckten sie nicht nur das Bürgertum ab, sondern schwächten auch die Gewerkschaften und beschworen die Gefahr des Bolschewismus herauf.

Wie immer man Ausmaß, Inhalte und Chancen der Rätebewegung in der deutschen Novemberrevolution beurteilen mag – nicht zu bezweifeln ist, dass die Bewegung von unten entscheidend dazu beigetragen hat, dass aus dem Deutschen Kaiserreich eine Republik mit einer demokratischen Verfassung geworden ist. Nur hat die politische Klasse in Deutschland – ganz anders als die französische – noch immer ein gestörtes Verhältnis zum revolutionären Ursprung der eigenen Republik. Das lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass im Ursprungsland der Räte, in Russland, die Sowjets zur leeren Hülse verkamen und durch auf Bürokratie, Diktatur, Zwang und Terror beruhende stalinistische Strukturen ersetzt wurden.

Als die Frage erörtert wurde, wie Hitler zu stürzen sei und was nach Hitler komme, griffen deutsche Antifaschisten auch auf den Rätegedanken zurück. Die antifaschistischen Ausschüsse, die beim Übergang von der Kriegs- in die Nachkriegszeit hervortraten, sahen sich indes einer ganz anderen Situation gegenübergestellt, agierten sie doch in einem besetzten Land. So konnten diese überwiegend im proletarischen Milieu entstandenen Ausschüsse und Komitees lokal oder gar regional manches erreichen: bei der kampflosen Übergabe von Städten und Gemeinden, der Entnazifizierung von unten her, der Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse der Bevölkerung. Doch steht die Frage, ob wir es mit einem grundlegend neuen Politikansatz zu tun haben, der von den Besatzungsmächten und den sich wieder- oder neukonstituierenden deutschen Parteien abgewürgt wurde, oder ob es sich nicht eher um Aktionsformen einer Übergangsperiode handelt. Mein Befund lautet, dass die meisten Akteure dieser Ausschüsse und Komitees nicht auf ihre Parteibindungen verzichteten.

Schauen wir uns die Programmatiken der deutschen Parteien jener Zeit an, so finden wir zwar Forderungen nach »realer Demokratie« mit plebiszitären Elementen, eine strategische Orientierung auf Basisdemokratie indes nicht. Gleichwohl – in Entnazifizierungsausschüssen, in Bodenreformkomitees, in Sequesterkommissionen, Volkskontrollausschüssen, Elternausschüssen etc. lebte besonders im Osten Deutschlands der basisdemokratische Ansatz eine Zeitlang fort. Doch ausgerechnet 1948, als die SED an den 30. Jahrestag der Novemberrevolution erinnerte, leitete sie die Abschaffung der Betriebsräte ein, die zu den wesentlichsten Errungenschaften dieser Revolution zählten.

Partizipation als Schlüsselwort

Wenn wir die 68er Bewegung als Reaktion auf erstarrte Strukturen, als Protest gegen »reglementiertes Leben« interpretieren, so betrifft das auch die in nicht geringem Maße ebenfalls erstarrte Arbeiterbewegung. Zu den damals weltweit hervortretenden Akteuren gehörten auch Arbeiter und Angestellte, insbesondere Vertreter der jüngeren Generation, kaum aber die tradierten Organisationen der Arbeiterbewegung. Seine Verstetigung fand das 68er Aufbegehren kaum in den sozialen Bewegungen, sondern der ökologischen und feministischen Bewegung.

Für den vierten Anlauf dominiert nicht zufällig die Bezeichnung Bürgerbewegung. Anders als die Räte von 1918/1919, anders als die Antifa-Ausschüsse von 1945 kamen deren Hauptakteure nicht aus dem Arbeitermilieu, vertraten sie nicht die spezifischen Interessen von Betriebsbelegschaften. Basisdemokratisch waren die Orientierungen und Forderungen der Bürgerbewegung 1989/90zunächst unzweifelhaft, jedenfalls solange es um eine »erneuerte DDR«, um »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« ging.

Der vom Runden Tisch initiierte »Entwurf der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik« enthielt im Vergleich zum Grundgesetz erweiterte Mitwirkungsrechte. Aber die verfassungsmäßige Verankerung eines basisdemokratischen Fundaments der Staatsmacht war dies nicht. Doch selbst dieser Ansatz besaß nicht einmal in der Sozialdemokratie eine Lobby. Die ostdeutsche SDP machte sich »Sorgen über die Volksrätebewegung. Es werde versucht, die Bürgerkontrollausschüsse rechtstaatlich zu kanalisieren.«

Heute sind Anlässe basisdemokratischer Initiativen teils gravierende, weit in die Zukunft hineinragende Entscheidungen auf dem Felde der Energie- oder der Verkehrspolitik, der Gestaltung der Infrastruktur etc. Es ging und geht letztlich um die Spannungsverhältnisse zwischen sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie, zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, zwischen spontanem Handeln einerseits, Institutionen und Apparaten andererseits, zwischen Selbstbestimmung auf der einen und Hierarchien auf der anderen Seite.

Der Schlüsselbegriff für eine entfaltete, stärker nach unten verlagerte Demokratie könnte Partizipation lauten. Deshalb halte ich es für begründet, wenn der Programmentwurf der Partei DIE LINKE repräsentative Demokratie und Basisdemokratie nicht als Gegensätze sieht, sondern »Stärkung der Parlamente und partizipative Demokratie«, aber auch »Stärkung der individuellen Rechte« verlangt. Zumal dies mit konkreten Vorschlägen für die Wirtschaft, die Kommunen, die zentralen Staatsorgane sowie mit dem Anspruch auf Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheide, Kontrollrechte, politische Streiks untersetzt ist. Linke sollten aber nicht erwarten, dass sich basisdemokratische Aktivitäten immer in den von der eigenen Partei oder einer Linksregierung gelegten Gleisen bewegen. Partizipation gilt es auch dann zu pflegen und zu respektieren, wenn sie sich gegen Entscheidungen richtet, die von Linken in Regierungsmitverantwortung getroffen wurden. Eben das könnte zur Gretchenfrage für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts werden.

* Dieser Artikel ist das Resümee eines Vortrages, den der Berliner Geschichtsprofessor auf einem Kolloquium »Basisdemokratie und Arbeiterbewegung« hielt.

Aus: Neues Deutschland, 19. Februar 2011



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