"Wir dachten: ein, zwei Jahre"
Seit 1992 koordinierte Benedikt Schirge den Protest gegen das Bundeswehr-Bombodrom. Ein Gespräch über das Durchhalten
Als Verteidigungsminister Jung am 9. Juli den Verzicht der Bundeswehr auf den Bombenabwurfplatz in der Kyritz-Ruppiner Heide verkündete, war die Mission von Benedikt Schirge erfüllt. Seit 17 Jahren ist der Pfarrer aus Zühlen bei Rheinsberg Sprecher der Bürgerinitiative Freie Heide, schob Aktionen an, gab der Bewegung Stimme und Gesicht. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Wolfgang Hübner.
ND: Herr Schirge, wissen Sie schon, was Sie am 1. Januar 2010 machen werden?
Schirge: Das neue Jahr begrüßen.
Anders als in den letzten 17 Jahren, als am 1. Januar immer gegen das Bombodrom protestiert wurde?
Ja, das wird nicht mehr so sein. Aber weiter habe ich mir noch nicht den Kopf darüber zerbrochen.
Waren Sie bei allen 113 Protestwanderungen inklusive der letzten, der Siegesfeier, dabei?
Fast immer. Mindestens bei 110.
Sie sind 1990 direkt vom Theologiestudium in Berlin in die Ostprignitz gekommen. Was wussten Sie damals von dieser Gegend?
Nicht so viel. Meine Frau und ich, wir haben uns die Pfarrstellen angeguckt und gesehen, dass das hier eine sehr schöne Landschaft ist. Vom Bombodrom wussten wir nichts; auf den alten Karten wurde so was ja immer als Naturgebiet dargestellt. Dass Militärübungen stattfinden, haben wir erst festgestellt, als wir hierher zogen und plötzlich die russischen Tiefflieger über unser Dorf donnerten.
Da gab es kein Zurück mehr.
Nein, aber es war die Wendezeit, und mit dem 2+4-Vertrag war klar, dass die sowjetische Armee bis spätestens Ende 1993 abzieht.
Dann hat sich schnell die Bundeswehr gemeldet.
Ja, im Juni 1992 kam die Hiobsbotschaft, dass das Bombodrom beibehalten werden soll. Das war schon ein Schock, nachdem die Bundeswehr noch 1991 versichert hatte, an russischen Liegenschaften nicht interessiert zu sein. Und nun hieß es: Die Bundeswehr wird hier alles üben, was auch die Sowjetarmee geübt hatte, ohne Einschränkung. Die Sowjetarmee konnte ja vorher machen, was sie wollte; sie brauchte keine Planungsverfahren einzuhalten.
Noch im Sommer 1992 wurde die Bürgerinitiative gegen das Bombodrom gegründet. Sie wurden einer der Sprecher der Initiative. Hätten Sie auch sagen können: Ist nicht mein Thema?
Viele Pfarrer aus den umliegenden Gemeinden haben sich damals engagiert. Das gehörte zu unserem Selbstverständnis: Da war ein wichtiges Thema, das wir nicht einfach ignorieren konnten, das viele Menschen bewegte. Nicht nur in den Kirchgemeinden.
Zur ersten Protestwanderung in der Kyritz-Ruppiner Heide 1992 kamen ungefähr 200 Leute. Zuletzt waren es manchmal über 10 000. Was muss passieren, damit so eine Bewegung entsteht?
Wir hatten es einerseits von Anfang an mit Skepsis zu tun: Man kann sowieso nichts erreichen; die da oben machen, was sie wollen. Das war auch eine Erfahrung aus der DDR-Zeit. Andererseits gab es große Hoffnungen, die sich aus der Euphorie der Wendezeit speiste. Zu einer unserer ersten Demos kam ein Politikprofessor aus Berlin-Dahlem, der sagte, mit zehn Jahren Kampf müssten wir schon rechnen. Damals dachte ich: Was redet der gute Mann da? Wenn wir hier alle dagegen sind, dann dauert das vielleicht ein, zwei Jahre.
Sie kannten die Mühlen der bundesdeutschen Justiz nicht.
Nein, zumal gleich zu Anfang richtig Schwung war in der Protestbewegung. Die Landesregierung in Brandenburg hat sich eingesetzt, was später wieder ein bisschen nachließ, Verbände haben sich engagiert, die Kirchen, viele andere. Aber etwa nach zwei Jahren haben wir uns das erste Mal gefragt, wie es weiter geht, wie wir mit unseren Kräften haushalten. Wichtig war, das Thema präsent zu halten.
Die Bürgerinitiative Freie Heide hat Gerichtsverfahren gegen die Bundeswehr in Serie gewonnen.
Ja, wir sind über viele Instanzen gegangen. Ende 2000 haben wir schon einmal beim Bundesverwaltungsgericht Recht bekommen. Das hat uns einerseits Kraft gegeben, aber wenn man dennoch nicht das Ziel erreicht, wenn immer neue Hindernisse auftauchen, kann man schon ins Grübeln kommen. Darauf hat die Bundeswehr gesetzt: dass uns der Atem, das Geld und der Rückhalt ausgehen. Doch genau das Gegenteil ist passiert.
Hat die Bundeswehr die Bürger unterschätzt?
Ja, sicher. Sie hat beispielsweise ein Anhörungsverfahren gemacht, und die Planungsunterlagen dafür waren so grottenschlecht, dass Fachleute gesagt haben, mit Plänen dieser Qualität bekäme man nicht mal einen Gehweg genehmigt. Auch ein Gericht hat festgestellt, man könne das kaum Planung nennen.
Haben Sie von der Überheblichkeit der Bundeswehr profitiert?
Ja, die ganze Zeit. Hätten sie gründlich gearbeitet, hätten wir es viel schwerer gehabt. Aber da steckte so eine Mentalität drin, Staat im Staate zu sein. Das ist auch bei den Richtern nicht gut angekommen. Es ist eine schöne Erfahrung, dass der Rechtsstaat nicht nur die Mächtigen schützt, sondern dass er wirklich abwägt und dass Gemeinden sich gegen die Regierung durchsetzen können.
Die Bürgerinitiative hat über 1000 Mitglieder. In Berichten ist von einem harten Kern von 50, 60 Leuten die Rede. Was sind das für Menschen?
Mancher hat gestaunt, weil es nicht die Leute sind, die man sich typischerweise unter Friedensbewegung vorstellt. Es sind viele ältere Leute mit verschiedensten Berufen, viele Rentner. Auch ein paar Jüngere natürlich. Ein Querschnitt der Bevölkerung in einer Gegend, in der das Durchschnittsalter nicht gerade gering ist, weil junge Leute auf der Suche nach Arbeit und Perspektive wegziehen.
Der Schriftsteller Wiglaf Droste, zurzeit Stadtschreiber im nahe gelegenen Rheinsberg, hat über Sie gesagt, Sie hätten es fertiggebracht, Leute zusammenzubringen, die eigentlich nichts miteinander verbindet.
Das ehrt mich, aber ich rede lieber über die Bürgerinitiative insgesamt. Wir haben gemeinsam einen Weg gefunden, der über die Jahre immer mehr Leute verschiedener Couleur, verschiedener Ansichten und Herkunft zusammengeführt hat. Dass Unternehmer aus der Region mit eingestiegen sind, hat damit zu tun. Dass alle Verwaltungen ringsherum mitgemacht haben. Das liegt sicher auch daran, dass es um eine Frage ging, die im ureigensten Sinne mit dem Gemeinwohl zu tun hat. Dass wir uns immer an den kleinen gemeinsamen Nenner gehalten haben, auf den sich alle einigen konnten: die Verhinderung des Bombodroms. Es ist schön, dass sich dann auch die Vertreter der Parteien zusammengerauft haben.
Die Bürgerinitiative hat ihre Arbeit all die Jahre aus Spenden finanziert.
Die Kosten für die rechtlichen Auseinandersetzungen haben zu einem großen Teil die Gemeinden getragen. Sie waren ja auch die Kläger. In Mecklenburg, bei der Initiative Freier Himmel, haben die beteiligten Gemeinden pro Jahr und Einwohner einen kleinen Betrag in einen Fonds gezahlt und so die Prozesskosten abgedeckt. Natürlich haben auch Bürger gespendet, Leute aus den Initiativen. Wir konnten die Öffentlichkeitsarbeit komplett aus Spenden bezahlen.
Einmal gab es eine richtige Spendenaktion, die hat in wenigen Wochen über 50 000 Euro gebracht. Das motiviert schon, wenn man sieht, woher die Überweisungen kommen – nicht nur aus unserer Gegend, sondern aus Dresden und Rostock, aus Hamburg und München.
Sie waren Gemeindepfarrer, bis die Kirche 2005 aus finanziellen Gründen u.a. Ihre Stelle gestrichen hat. Seitdem sind Sie für die Friedensarbeit freigestellt und leben von Spenden. War es schwer, der Kirche diese Lösung abzuhandeln?
Es gab große Bemühungen aus der ganzen Region, eine Lösung zu finden, damit ich hier bleiben kann. Wie das jetzt weiter geht, weiß ich noch nicht.
Wir leben in einer kurzatmigen Mediengesellschaft, in der man um Aufmerksamkeit ständig kämpfen muss. War es Ihre Idee, halb nackte Frauen vorm Reichstag zu postieren? Für einen Pfarrer wäre das etwas ungewöhnlich.
Das war eine Idee der Partnerinitiative Freier Himmel – oben ohne, der Himmel ohne Tiefflieger. Damit kommt man auch mal in die Regenbogenpresse. Natürlich mussten wir immer überlegen, wie wir Zeichen setzen können. Mal haben wir zu Ostern mit Hunderten Menschen das Peace-Symbol gestellt und aus der Luft fotografiert, mal sind wir vom Bombodrom zum Reichstag gewandert, mal mit dem Schiff nach Berlin gefahren. Wir wussten: Wenn wir nur im Hinterstüblein irgendwas ausbrüten, erreichen wir nichts.
Wie wichtig war für Sie beim Durchhalten in den 17 Jahren der Glaube?
Das spielt für das ganze Leben eine Rolle. Der Glaube ist etwas, das einen trägt in so einer Auseinandersetzung. Für mich war immer klar, dass militärische Auseinandersetzung nicht zu meiner Vorstellung vom Leben gehört; das spielte auch in den Kampf gegen das Bombodrom hinein.
Wollten Sie schon immer Pfarrer werden?
Nein, das hat sich so ergeben.
Ihr Vater war Pfarrer, Ihr Bruder ist es auch.
Eben, dann will man das doch als junger Mensch erst einmal gerade nicht. Aber später hat es sich trotzdem so entwickelt. Man staunt immer wieder, was das Leben alles bereithält.
Wie haben Sie die letzten DDR-Jahre erlebt, als Student?
Sehr kritisch. Ich habe 1981 in Naumburg mit dem Studium begonnen und dort in einem Arbeitskreis Frieden mitgemacht. Im Westen gab es die große Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre gegen die NATO-Nachrüstungsbeschlüsse. Im Osten gab es im kirchlichen Rahmen die Bewegung »Schwerter zu Pflugscharen«, die staatlich nicht gewollt war. Ich kann mich an Demonstrationen erinnern, aus denen wir entfernt wurden, weil wir keine vorgefertigten Losungen hatten. Einmal habe ich ein Transparent getragen, auf dem stand: »Du sollst nicht töten.« Das war eine Provokation für die DDR.
Wie sah Ihre erste Begegnung mit der großen Politik aus?
1992 war ich zu einem Gespräch auf der Bonner Hardthöhe, im Verteidigungsministerium. Minister Rühe sollte uns empfangen, aber dann hat er sich durch einen Staatssekretär vertreten lassen. Und der sagte uns: Es ist ganz normal, dass Sie sich aufregen. Wenn man einen Truppenübungsplatz einrichtet, regen sich die Leute immer auf. Aber ich garantiere Ihnen, in zwei Jahren ist Ruhe in der Gegend. Da haben wir gesagt: Und wir garantieren Ihnen, die Proteste gehen so lange, bis das Bombodrom weg ist. Dass es so lange dauern würde, konnten wir natürlich nicht ahnen.
Sie haben oft mit Politikern gesprochen. Gab es auch Treffen mit Verteidigungsministern?
Versucht haben wir es immer, aber nur Peter Struck war als Minister einmal hier in der Region. Ich denke, seine Entscheidung stand schon vorher fest, denn er hat sich dann für das Bombodrom eingesetzt.
Es gab übrigens ein merkwürdiges Anhörungsverfahren: Da haben sich von 21 Verfahrensbeteiligten 20 gegen das Bombodrom ausgesprochen, nur einer dafür. Und trotzdem hat der Verteidigungsminister erklärt, alle Bedingungen seien erfüllt, man könne sofort mit dem Flugbetrieb beginnen. So hatten wir uns die Demokratie nicht vorgestellt. Das hatten wir in der DDR schon erlebt, dass einfach bestimmt, aber nicht gefragt wurde.
Oft ist von wachsender Politikverdrossenheit die Rede. Welche Beobachtung haben Sie hier gemacht?
Unsere Mitstreiter sind nicht politikverdrossen, im Gegenteil, sie waren alle hoch motiviert. Aber es gibt einen Parteienverdruss. Die Leute wollen mehr und andere Möglichkeiten zur Mitwirkung haben. Bürgerinitiativen sollten nicht nur als Bittsteller und Problemanzeiger betrachtet, sondern gleichberechtigt behandelt werden. Bei uns haben auch etliche Jugendliche mitgemacht. Die haben sich zum Beispiel für den Ostermarsch etwas Eigenes überlegt. Viele, die früher zu den Aktionen gekommen sind, leben aber nicht mehr hier. Die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sind hier auf dem Lande doch sehr beschränkt. Viele Jugendliche gehen weg, so ist das.
Ihre eigene Tochter ...
... hat lange Zeit mitgemacht, ist oft mitgewandert in der Heide und hat sich jetzt in der Ferne sehr gefreut, als wir ihr am 9. Juli am Telefon sagen konnten, dass wir endlich Grund zum Feiern haben.
Was würden Sie den Kommunen raten, die jetzt die Schließung der beiden anderen Luft-Boden-Übungsplätze in Bayern und Niedersachsen verlangen?
Es wäre klüger gewesen, sie hätten die Schließung schon früher gefordert. Unser Motto war: »Hier nicht und nirgendwo.« Das wollten wir zum gemeinsamen Motto mit den Regionen der beiden anderen Standorte machen. Aber leider ist das nicht immer so gesehen worden, auch aufgrund von Versprechungen verschiedener Politiker, die gesagt haben: Wenn das Bombodrom kommt, wird bei euch alles viel besser.
Haben Sie irgendwann in den letzten 17 Jahren Angst gehabt zu scheitern?
Nein, nie. Ich war immer überzeugt, dass wir es schaffen. Mit den Jahren war ich nicht mehr sicher, wie lange das dauern wird. Aber wir haben uns gesagt: Wenn wir viele sind und das alle wollen, dann werden wir es auch hinkriegen.
* Aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2009
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